K. Wyborny
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(AUS EINEM KÜNSTLERLEBEN)
Sechster Teil
Wissenschaftlicher Exkurs (1974/94/98)
Band 1
INHALT, VORWORT UND ERSTER TEIL: EINFÜHRUNG
(Vorwort nur auf CD-Version)
ERSTER TEIL - EINFÜHRUNG
ZUM SCHNITT IM KONVENTIONELLEN SPIELFILM (1974/93)
(ehemals "Nicht geordnete Notizen zum konventionellen narrativen Film")
Ließe man in einem Zeitrafferprozeß alle Spielfilme der Welt in ein paar Tagen an sich vorüberziehen, um das Gemeinsame daran zu entdecken*, wird dreierlei sofort auffallen. Zunächst wird überraschen, wie erstaunlich gleich strukturiert die Filme einer jeweiligen filmgeschichtlichen Periode sind; dann, in welch umfassendem Maß Bilder mit Menschen dominieren; und drittens staunt man bei diesen wiederum darüber, in welchem Umfang gerichtete Blicke darin erscheinen.
Unabhängig von solchen Statistiken haben wir alle Vorstellungen von dem, was einen Film ausmacht. Gewiß gehören Großaufnahmen von Schauspielern dazu, die ein wenig an der Kamera vorbeiblicken. Solche Blicke sind nicht auf Film beschränkt, spätestens seit der Renaissance erschienen sie auch in der Malerei, obwohl - nicht nur bei Christusbildern (oder der Mona Lisa) - dort auch der frontale Blick keine Seltenheit ist. Seltsam am Filmschauspieler-Blick ist insofern weniger sein an der Kamera Vorbeisehen, es ist vielmehr die Art wie er gehalten wird. Am Überzogensten stellt sich dies vielleicht im Blick Iwans des Schrecklichen** aus Eisensteins gleichnamigen Film dar: ein in die Leere der Unendlichkeit gerichtetes, entschlossen grübelndes Starren, das für die Konfrontation einer Führerpersönlichkeit mit dem unendlichen Raum der Geschichte steht. So starr erscheint der Blick gern in Filmen, deren Menschenverständnis totalitär geprägt ist. In dem Iwans läßt sich der inszenierte Blick Stalins und ähnlicher Führergestalten erkennen. Er wirkt, als träte aus dem Auge etwas geradezu Materielles, ein Speer oder eine lange Stange -, die zu einer Art Reck werden kann, woran die Untertanen sich orientieren und zu ihren Vergnügen Klimmzüge und Aufschwünge üben, um für ihr Land möglichst viele Goldmedaillen zu erringen.
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Diese Art göttlichen Blicks entstammt dem Theater, wo er den tragischen Monolog begleitet. Entfernt kann man darin ein Echo der Masken entdecken, die Schauspieler auf antiken Bühnen trugen, wenn sie ihre vom Chor unterbrochenen Texte deklamierten. Der Filmschauspieler-Blick ist dem des Bühnenschauspielers insofern verwandt. Während im Theater die Blickrichtung jedoch in der Tat erst durch längeres Halten erkennbar wird, sollte dies beim Film, schon wegen der Möglichkeit der Großaufnahme, weniger nötig sein. Kinofreunden kann man Theaterverfilmungen jedenfalls nur schwer andienen, statisch sich inszenierende Theaterschauspieler wirken im Film entsetzlich.
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Auf der Bühne sind blickender Schauspieler und das von ihm Angeblickte meistens gleichzeitig sichtbar. Beim Film werden sie dagegen häufig getrennt, indem man den Blickenden und das Erblickte nacheinander zeigt, wenn man sie also durch einen Schnitt verbindet. Vielleicht erfolgt diese Trennung, um uns, handelt es sich etwa um eine schöne Frau, die Illusion zu geben, sie ungestört selbst anblicken zu können. Sind blickende Person und Angeblicktes nicht gleichzeitig sichtbar, müssen die räumlichen Verhältnisse zwischen ihnen allerdings geklärt werden. Dies bewerkstelligt der deutlich gehaltene Blick, der uns als Zuschauern die Blickrichtung unmißverständlich klar macht. Er ist verantwortlich für eine zweite Art Starrheit. Im Vergleich zum Theaterschauspieler ist der Blick des Filmschauspielers zugleich starrer und weniger starr.
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Während nicht weiter erstaunt, daß Charaktere wie Stalin den Theaterschmierenblick für sich vereinnahmen, wundert doch (in den uns begegnenden Filmen treffen wir schließlich nur wenige seines Schlages an), daß wir ähnliche Blicke entdecken, wenn im Kino gar nicht ins Leere gesehen wird. Der Grund liegt in dieser zweiten Starre, aufgrund derer Menschen in Filmen ganz triviale Gegenstände wie Bäume, Autos, Kühlschränke und vor allem: andere Menschen wohl nicht mit der gleichen Inbrünstigkeit anblicken wie Stalin die Ewigkeit, aber wir spüren davon doch eine gewisse Resonanz.
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Das Menschenbild im Kino sieht daher leicht so aus, daß Personen mit kaum sich bewegenden Augen Objekte, Landschaften und vor allem andere Personen betrachten, daß sie ihnen lange in die Augen blicken und jedem Blick standhalten - tun sie es nicht, haben sie etwas zu verbergen. Denker starren gern ins Leere (genauer: auf einen vom Regisseur angegebenen fiktiven Punkt im Raum), ohne die Augen zu bewegen - denn dies soll ihre Denkfähigkeit demonstrieren. Als Zuschauer scheinen wir uns nicht daran zu stören, daß solch Menschenbild in einer Wirklichkeit eigentlich absurd wirkt, worin Augäpfel in nicht enden wollenden Saccaden hin- und herzucken, wenn etwas aufmerksam betrachtet wird; in welcher Personen sich nur gelegentlich in die Augen blicken und nur im Traum daran denken, dem Blick von wem standzuhalten, den sie nicht mögen; und in der die Denktätigkeit derartig innig mit unkontrollierter Augenbewegung verbunden ist, daß vermutet wird, gerade diese Augenbewegungen wischten die zum Denken notwendigen Speicher und Nervenzellen immer wieder von den Informationsresten vergangener Denkanstrengungen frei, um so neues Denken zu ermöglichen.
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Richtig ist, daß viele Leute, die interviewt werden, bei ihren Antworten die Augen flink bewegen. Tun sie es nicht, ist von ihnen, besonders betrifft das Politiker, nur die vorgefertigte Schablone zu erwarten. Wenn jemand, mit dem ich spreche, seine Augen nicht bewegt, kann ich mit Grund vermuten, daß er mir nicht zuhört. Sage ich ein Gedicht auf, kann ich meine Augen solange auf einen Punkt fixiert halten, wie ich den Text sicher erinnere. Muß ich bei der Fortsetzung überlegen, dann muß ich die Augen bewegen, manchmal unkontrolliert sogar Körperteile. Bei Schauspielern, die den aufgesagten oder gespielten Text auswendig wissen, ist die Augenbewegung keine Notwendigkeit und orientiert sich oft bewußt an Gegenständen, an Blumen etwa, Aschenbechern oder Schreibtischkanten. Peinlich wird dies, wenn Schauspieler bei gelerntem Text den Eindruck erwecken wollen, sie seien grade dabei, ihn zu entwickeln. Die Augenbewegung denkender Person orientiert sich nämlich nicht an Gegenständlichkeit. Sie ist meist defokussiert. Wenn ich denke, kann ich nicht gleichzeitig scharf sehen. Blicke ich starr auf einen Punkt im Raum, verschwindet sogar mein Blickfeld. Um sehen und wahrnehmen zu können, braucht man offenbar irgendeine Bewegung. Wird diese nicht von der Umwelt geliefert, muß ich sie durch Augenbewegung auf der Retina erzeugen. Personen, die ihre Augen im Film flink und wie in der Wirklichkeit bewegen, sind seltsamerweise aber häufig diejenigen, die etwas zu verbergen haben, die Kriminellen, die Neurotiker und die Verrückten. Das narrative Kinos verwandelt die Denktätigkeit häufig zu einer Eigenschaft halbkrimineller Anomalie.
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Die erste Form der Starrheit ist im Film leicht zu überwinden. Als rein technische, dem Theater entstammende Beschränkung ist sie durch Spiel-Technik korrigierbar. Gute Schauspieler bewegen ihre Augen in Filmen mittlerweile daher oft auch mit wirklichkeitsähnlicher Flinkheit und lassen sie erst starr werden, wenn der Regisseur sie auffordert, einen Blick zu "setzen". Und jemand wie der vor allem neurotische Persönlichkeiten spielende Peter Lorre* blickt im Gegensatz zu den erwähnten Verrückten mit dem Phlegma eines wirklichen Zombies. Manche Regisseure wissen freilich zwischen den beiden Formen der Starrheit nicht recht zu unterscheiden. Bei ihnen entsteht daher leicht eine seltsame Mischung von Richtig und Falsch, woraus man sich nur schwer einen Reim machen kann. Daß der Zusammenhalt ihrer Filme trotzdem funktioniert, mag daran liegen, daß wir auch in der Wirklichkeit die meisten Blicke schlicht ignorieren.
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Dennoch ist uns allen klar, daß sich Menschen im Film anders bewegen als in der Wirklichkeit, daß sie andere Haltungen zueinander einnehmen. Das verdichtet sich in einer unterbewußt uns allen gemeinsamen Vorstellung vom starren Blick. Daß ihn Regieanfänger oft gedankenlos überdeutlich reproduzieren, trägt noch mehr zu dieser seltsamen Mischung von Richtig und Falsch bei.
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Manche Schauspieler (und Regisseure) wissen indes gut zwischen den beiden Arten der Starre zu unterscheiden, und so ist der Blick in vielen Filmen weniger starr, als unsere summierende Vorstellung vermuten läßt. Seit Mitte der Vierziger Jahre demonstriert das amerikanische Kino einen durchaus vernünftigen Umgang mit Blicken, deren Aufgabe indes stets auch ist, durch ein leicht verlängertes Halten eine Richtung in den Raum zu stellen, an der sich ein Gegenüber orientiert. Obschon anders beschaffen als der Blick zwischen wirklichen Menschen, ist er deutlich menschenähnlicher als der bühnenübliche. Insofern hätte sich dieser weichere Umgang mit dem starren Blick im Lauf der Jahre eigentlich verstärken müssen.
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Das ist aber nur zum Teil geschehen. Vielleicht weil die Starrheit auch Ausdruck einer dritten Blickqualität ist, die sich in schwächeren Arbeiten nur als Karikatur äußert und die wir in gelungeneren Filmen, obwohl vorhanden, leicht übersehen. Sie hängt mit der Ökonomie der in einem Film verteilten Gesten zusammen, von denen wahrgenommene Blicke nur einen, allerdings wesentlichen, Teil bilden. Beim Inszenieren versucht man nämlich instinktiv, möglichst viel von dem zu eliminieren, was bezuglos zur Handlung ist. Von gehenden Schauspieler etwa verlangt man als Regisseur gewöhnlich eine gewisse gradlinige Entschlossenheit, die in Gegensatz zur der seltsamen Ambiguität steht, mit welcher wirkliche Menschen oft ihrer Wege gehen. Deren Ambiguität ist ja nicht unbegründet, weil sich die Wirklichkeit ja jeden Moment in alle möglichen Richtungen entwickeln kann und man darauf vorbereitet sein möchte. Im Film existiert die Vielzahl dieser Möglichkeiten dagegen nur als gesetzte Geste: das Drehbuch oder der Regisseur sagen, wos langgeht. Wird vom Schauspieler ein Zögern verlangt, drückt sich mit dieser Verzögerung eine Idee aus. Das verleiht dem Vorgeführten eine zügig wirkende Funktionalität, die auch bei intelligenten Inszenierungen des Blicks leicht den Eindruck von Starrheit entstehen läßt. Der Blick des Schauspielers gehorcht dann mehr dem Bedürfnis nach bedeutungsvoller Inszenierung als eigener Logik. Selbst wenn es nicht direkt auffällt und uns das Geschehen vital und lebendig erscheint*, ist doch in allen Kinofilmen - im erhabensten Sinne und im schlechten - immer noch etwas von der verbohrten Starrheit der griechischen Tragödie enthalten, worin Masken das menschliche Antlitz ersetzten.
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These:
Im Prinzip versucht das narrative Kino, die Interaktion von Personen möglichst als sichtbare Interaktion starrer Körper zu behandeln, mit, wenn man so will, wohldefiniertem Impuls, wohldefinierter Bewegungsrichtung und wohldefinierter Gestalt. Änderungen von Impuls, Bewegungsrichtung und Gestalt sollten möglichst wohldefinierte Gründe in wohldefinierten Interaktionen mit anderen wohldefinierten starren Körpern haben.
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Eine der Hauptaufgaben des narrativen Systems wäre insofern das Verbinden von (bei den Dreharbeiten in Wirklichkeit oft nicht direkt miteinander verbundenen) Raumzeit-Segmenten. Wobei Maßstab für das Gelingen solcher Verbindungen ist, daß im Kopf des Zuschauers Raumzeit-Gefüge entstehen, welche auf den ersten Blick widerspruchsfrei erscheinen und dies auch im Rahmen des sich weiter entwickelnden Filmgeschehens nicht tun. Dies betrifft vor allem die verallgemeinerten geographischen und zeitlichen Koordinaten, die man als Zuschauer den registrierten Raumzeit-Bausteinen beim Betrachten verleiht. Diese reflexhaft in einem entstehenden Koordinaten dürfen sich nicht widersprechen. Als widersprüchlich begreifen wir z.B. den Aufenthalt desselben starren Körpers an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit*.
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Die Raumzeit-Konstruktionen des narrativen Systems verdanken ihre Stabilität im Wesentlichen einem einzigen Operationsprinzip, dem Austausch von Bewegungsträgern zwischen verschiedenen Raumzeit-Segmenten. Die Bewegungsträger sind meist vom Typ des starren Körpers, wobei unsere Weltinteresse die starren Körper vom Typ Darsteller dominieren läßt. Häufig werden Raumzeit-Verbindungen auch durch virtuelle Bewegungsträger erzeugt, die wir uns von den gerade erörterten starren Blicken ausgesandt vorstellen können. Im narrativen Systems bildet der starre Blick eine gut aufeinander abgestimmte Einheit mit dem zum starren Körper degenerierten Träger der Bewegung, dem Darsteller vom starren Typ.
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Basis dieser Konstruktion ist eine unverrückbare Identität zwischen dem Bild und dem, was es abbildet. Das Bild eines Raumes wird vom Zuschauer als identisch mit dem Raum begriffen, der abgebildet wird. Das Bild, das einen Raum repräsentiert, ist dieser Raum. Dabei werden Maßstabsverzerrungen der Abbildung ähnlich übersehen wie erhebliche Verzerrungen im Bereich der Farbverteilung bis hin zur überraschenden Pointe der Identifikation von Schwarzweißfilm mit besonders ausgeprägtem Realismus.
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Andere Abbildungsirritationen werden weniger leicht akzeptiert. Als Beispiel möge die ständige Nutzung eines Rotfilters dienen. Bräunlich eingefärbtes Schwarzweißmaterial gilt indes oft als Dokument aus vergangener Zeit, vermutlich weil bräunliche Einfärbung einst Teil des chemischen Produktionsprozesses waren - doch wer weiß das schon? Wie entstehen solche Interpretationen? Abbildungsfehler wie extreme Überbelichtung oder Weitwinkelverzerrung scheinen die Einheit von Abbildung und Abgebildeten wiederum derart zu gefährden, daß das narrative System sie bevorzugt im Bereich psychotischer und halbkrimineller Anomalie ansiedelt. Stark unterbelichtete Bilder versehen wir dagegen gern mit der Zeitkoordinate "Nacht", selbst wenn näheres Hinsehen diese Interpretation oft als reichlich verwegen erscheinen läßt. Aber irgendwie sehen wir nicht immer so genau hin.
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Das Zufällige daran legt nah, daß es sich hier um Konventionen handelt und daß es beim narrativen System daher im wesentlichen um eine Versammlung von Verabredungen und Tricks geht, auf die wir als Betrachter nach längerer Dressur mit pawlowscher Sicherheit reagieren. Daran mag einiges richtig sein. Übersehen wird dabei jedoch, daß Abbildungsfehler im narrativen Systems nur einen Randbereich bilden. Mit dem Rückgrat des Systems, als welches wir das Verständnis der Raumzeit-Konstruktionen begreifen lernen werden, haben sie nur marginal zu tun. Daher können Annäherungen an Film, bei denen man die Ebene der Abbildungsdeformationen kaum verläßt, nicht zu einem Verständnis des narrativen Prinzips vordringen.
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Basis des narrativen Systems ist die Erzeugung einer Identität von Abbildung und Abgebildetem.
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Das systematische Nichtbeachten der Fragwürdigkeit einer solchen Identität führt zu einem eigenartigen Realitätsverständnis im Umfeld narrativer Filme. Als besonders "realistisch" empfinden wir Filme, die eindeutige Raumzeit-Konstruktionen ermöglichen, ohne daß man ihnen das Synthetische ihres Herstellungsprozesses auf den ersten Blick ansieht. Gerade Filme aber, die diese Eindeutigkeit erzeugen, sind in hohem Grade synthetisch, und das müssen sie auch sein. Sie verlangen zum Beispiel den zeitweise starren Blick.
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Muß man eine Gesellschaft, deren Abbildungsverständnis Abbildungen mit Wirklichkeit verwechseln möchte, obwohl zahlreiche Indizien gegen die Möglichkeit solcher Verwechslung sprechen, als schizophren bezeichnen? Fraglos könnte man so argumentieren. Denn wie soll der Einzelne darin Wirklichkeit begreifen, wenn er ihrer systematischen Deformation ebensolche (und vielleicht sogar größere) Wirklichkeit zubilligt? Was geschieht, wenn man Wirklichkeit nach dem Maßstab der deformierten Wirklichkeit zu bewerten beginnt? Wie soll jemand mit anderen Menschen interagieren, wenn sein Wirklichkeitsverständnis von der Wirklichkeit des starren Blicks geprägt ist? Als was* und wie deutlich nimmt man in solcher Gesellschaft seine Mitmenschen wahr? Als was und wie deutlich nimmt man überhaupt seine Mitmenschen wahr?
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Solche Argumentation, deren Ziel die Verbesserung gesellschaftlicher Zusammenhänge sein könnte, übersieht indes leicht, daß bislang noch jede Gesellschaft einen gemeingefährlichen Kampfverband darstellte - für die Personen wenigstens, die ihr nicht angehören. Und es ist sehr die Frage, ob dies durch das narrative System notwendig verschärft wird. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Die amerikanische Gesellschaft, in ihr wurzelt das Kino schließlich am stärksten, kann mit einigem Recht als eine der wenigen gelten, die es mit demokratischer Toleranz auch gegenüber erheblichen Minderheiten ernst meinen. Sollte das narrative System Deformationen im Bewußtsein von uns Rezipienten auslösen, scheinen freie Gesellschaften doch Gegenkräfte zu beherbergen, die dies auszugleichen vermögen und dies auch wollen. Eine Beschreibung des narrativen Systems sollte sich daher nicht vom Moralisieren, so naheliegend es sein mag, leiten lassen, sondern, das ist freilich leichter gesagt als getan, sich mit einer möglichst nüchternen Aufnahme dessen begnügen, was es ist.
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Der Wunsch nach dem Herstellen einer Identität von Abbildung und Abgebildeten schränkt das technisch und künstlerisch Mögliche bei Filmaufnahmen ein. Als wir die Beschränkungen auf Normalobjektive, richtige Belichtung oder plausibles Farbgleichgewicht ansprachen, entdeckten wir allerdings, daß, z.B im Fall der Unterbelichtung, auch Abweichungen Platz im narrativen System finden. Bei anderen Abbildungsfehlern funktioniert das nicht. Dann entstehen zwar immer noch Bilder, sie passen jedoch nicht mehr in das System. Wohl wollen auch sie etwas erzählen, aber ihnen fehlt eine bestimmte Qualität - sie wirken nicht mehr im eigentlichen Sinne narrativ, sie sind nicht präzise genug für Erzählung. In Ermangelung eines genaueren Begriffs bezeichnen wir diese eingeschränkte Wirkung provisorisch als "bloß atmosphärisch". Z.B. wirken Mehrfachbelichtungen und zusammengesetzte Bilder nur narrativ, wenn der Charakter ihrer Zusammensetzung in Travelling Mattes oder ähnlichen Spezialeffekten verschleiert wird. Sind sie als zusammengesetzte Bilder erkennbar, wirken sie "bloß atmosphärisch". Kurze Überblendungen zwischen aufeinanderfolgenden Einstellungen werden dagegen mühelos Teil der Erzählung, sie deuten einen sanfteren Zeitübergang an, als er durch die üblichen harten Schnitte erreichbar ist. Trivial scheint die Forderung nach maximaler Bildschärfe, andererseits staunt man bei Dreharbeiten immer wieder, wie häufig sich Kameramann und Regisseur darüber streiten, welche Bereiche eines Bildes scharf sein müssen. Instabile Lichtverhältnisse stellen jedenfalls eine Gefährdung der Identifizierung des Bildraums mit einem wirklichen dar, auch darum wird bei Spielfilmen viel Arbeit auf die Ausleuchtung verwendet. Andererseits ist hier auch wieder fast alles möglich, wenn man es durch das explizite Zeigen variabler oder sich bewegender Lichtquellen begründet. Die Forderung nach Gleichheit von Bildzeit und abgebildeter Zeit führte zu einander gleichen Aufnahme- und Wiedergabe-Geschwindigkeiten. Dabei hat sich der seit der Einführung des Tonfilms etablierte Kinostandard von 24 Bildern pro Sekunde durch das Fernsehen auf 25 Bilder pro Sekunde verschoben. Abweichungen dieser Größenordnung werden freilich nur bei Musikdarbietungen und von Zuschauern mit feinem Gehör bemerkt.
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Die wohl entscheidendste Beschränkung besteht in der prinzipiellen Benutzung der Stativkamera. Die Identifikation von Abbildung und Abgebildetem läßt für außerhalb des Abbildungsraum sich aufhaltende Personen, die die Abbildung erst in Gang setzen, gewöhnlich keinen Platz. Stattdessen wird angenommen, daß die Abbildung von einer objektiv existierenden Maschinerie produziert wird. Der Kameramann bleibt immer unsichtbar. Viele Schwenks oder Fahrten finden statt, weil sie durch im abgebildeten Raum beobachtbare Bewegungen motiviert werden. Andere wiederum geben einem den Eindruck, man sei als Zuschauer der liebe Gott, der sich das Geschehen aus jeder Perspektive anschauen darf. Fast nie aber - außer er tritt selber als Darsteller auf - denkt man dabei an einen diese Perspektivwechsel verursachenden realen Kameramann. Versuche mit hyperaktiven Handkameras betonen die Zweifelhaftigkeit der Identifikation von Bild und Abgebildetem. Sie werden, sind sie nicht in ein solideres System eingebaut, nur von gutartigem Publikum als narrativ begriffen. Denn Einstellungen von Handkameras erhalten von uns zwar das Attribut "besonders dokumentarisch", wirken aber bei längerem Einsatz leicht bloß atmosphärisch. Nach einiger Zeit wird das Bild nicht mehr mit dem Abgebildeten identifiziert und der Film als Arbeitsprodukt eines Kameramanns interpretiert. Dabei gibt es gewisse, möglicherweise stark erweiterbare Toleranzen, wenn etwa die Hand des Kameramanns ruhig genug ist, um vom Zuschauer in einem dramatischen Geschehen übersehen zu werden.
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Man kann sich der Identität von Bild und Abgebildetem auch durch den Begriff der repräsentativen Einstellung nähern. Als solche bezeichnen wir eine Einstellung, die so normalisiert wird, daß sie einen klar definierten objektiven Raum repräsentiert und für uns Zuschauer auf gewisse Weise mit ihm identisch wird. Repräsentative Einstellungen sind also solche, bei denen eine einfache Identifizierung des Abbildes mit dem Abgebildeten unproblematisch erscheint, wobei es Ziel der Normalisierung ist, genau dies zu ermöglichen.
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In diesem Zusammenhang lohnt eine Bemerkung über Kamerafahrten, die nicht durch Darstellerbewegungen motiviert sind, in denen einem also der Raum, den man sonst im Film wegen des Schnitts nur häppchenweise zu sehen bekommt, auf einmal in ungeteilter Großartigkeit begegnet. Gelegentlich fühlt man sich gerade bei solch unmotivierten langsamen Kamera- und Kranbewegungen in einer mit Staunen wahrgenommenen Wirklichkeit, deren Erhabenheit ganz in die Nähe einer eigenen Traumvorstellung richtigen filmischen Erzählens kommt. Man bekommt dabei ein derart eindeutiges Gefühl für die Großartigkeit des Gezeigten, daß man sich wundert, warum es überhaupt etwas anderes im Kino gibt. Dieses Gefühl scheint aber nicht lange zu halten, denn Kinofilme greifen nach solchen Fahrten immer schnell auf das Stativ zurück, und das wohl nicht, weil Stative billiger sind als Dollies und Kräne. Daß diese Fahrten etwas Tieferes bei uns Wahrnehmenden ansprechen, erkennt man an dem Bedürfnis vieler Regieanfänger, immer dann, wenn sie nicht weiter wissen, Schienen legen zu lassen, um auf ihnen in einer Fahrt den Anschluß an die tieferen Inspirationsmöglichkeiten der Filmkunst wiederzugewinnen. Da haben wir es dann mit der Trivialform dessen zu tun, was man in der Kritik in einer Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse beim Spielfilm gern als das besonders Filmische bezeichnet.
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Ich weiß nicht, wieso das an die ewig vorwärtsdrängenden und nach Auflösung irgendwann fast schreienden verminderten Septakkorde des frühen Wagner erinnert, welche ja vielen Musikempfindern als Quintessenz des Musikalischen gelten. Vielleicht ist es das Gefühl für die sich dabei auf geheimnisvoll flüssige Art erschließende scheinbare Unendlichkeit, das da so beseligend und gerade weil man nicht wirklich zu einem Ziel kommt, fast erlösend wirkt. Das hebt sie deutlich von allem anderen auf der Welt Gesehenen ab, das in der Regel einem qualvoll unruhigen Willen unterworfen ist. Geradezu unwiderstehlich jedenfalls gerät die Filmkunst, wenn sich raumöffnende Kamera- und Kranfahrten mit den sich vorwärtsquälenden Emotionen der Musik von professionellen Wagner-Adepten paaren.
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Das Stativbild hat nichts von dieser vorwärtsdrängenden Unwiderstehlichkeit. Es schenkt uns vor allem das Gefühl, die abgebildete Welt ähnele der wirklichen Welt insofern, als sie auch ohne Beobachter existieren könnte, einfach, weil sie vorhanden ist. Das Menschenunabhängige des Abbildungsprozesses auf so einem Stativ unterstützt dieses einfach Vorhanden-Sein. Kein Mensch wundert sich, wenn im Kino abgebildet wird, was eigentlich niemand sehen kann. Man betrachtet es, als sei der Raum selbst Zeuge. Eigentlich, und es lohnt, sich das einmal gründlich klar zu machen, ist eine Person, die allein ist, prinzipiell unbeobachtbar.
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Und es stimmt: man würde sich schon wundern, wenn die objektive Welt um einen herum plötzlich zu wackeln anfinge, weil der göttliche Kameramann, dem wir unser Wahrnehmen der Welt verdanken, angesichts dessen, was er da anrichtet hat, plötzlich ins Zittern käme. In Wirklichkeit wackelt die Welt natürlich auf eine Weise, daß sie, wären unsere Vorstellungen von Stabilität richtig, aus den Fugen krachen müßte. Seit der kopernikanischen Wende ignorieren wir das höflich, als ginge es uns nicht mehr an und wäre jetzt eine Angelegenheit der Sonne. Und wir bemerken wir es ja auch nicht. Schon weil unser Hirn unser Wahrnehmen auf radikale Weise reduziert.
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Da andererseits inzwischen begreifbar wird, daß die Sonne selbst nur hilflos in einer Galaxis herumtorkelt, die ihrerseits so unbeschreibbaren Bewegungen unterworfen ist, daß der Begriff Koordinatensystem nur noch als Witz benutzbar wird, kann man auch ruhig wieder zur Erde als dem Zentrum der Welt zurückkehren (die wir, wies aussieht, und das ist vielleicht die bitterste Erkenntnis unseres Jahrhunderts, ohnehin nicht werden verlassen können).
Und weiter noch, bis weit vor Kopernikus, zurück zum Individuum, das die Welt wahrnimmt und sie wie der Heilige Augustinus seinen Interpretationen unterwirft. Dort, im Individuum, befindet sich das einzige Koordinatensystem, das wir letztlich wirklich noch akzeptieren. Der Raum, der große Raum, dem unsere Kultur so lange verpflichtet war (und unsere Vorliebe für lange Kamerafahrten ist davon vermutlich ein letzter Ausdruck), ist nur noch eine unseren Anstrengungen Hohn sprechende Schimäre.
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Jedenfalls wackelt die Welt, wenn man mit einem Stativ auf einem Segelboot bei Seegang dreht, so stark, daß man nur mit einer ausbalancierenden Handkamera Stabilität erzeugen kann. Es geht also bei der repräsentativen Einstellung nicht um das Stativ, es geht um den Anschein von objektiver Stabilität. Im Filmstudio wird übrigens bei Marine-Aufnahmen oft eine andere Lösung vorgezogen: aus alter Gewohnheit bleibt die Kamera auf dem Stativ, und vor ihr wird das Boot von Hand zum Wackeln gebracht.
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Das konventionelle Kino bekommt Probleme bei der Aufgabe der Stativkamera, die seinen Aufstieg ermöglichte, denn die ersten Filmkameras konnten ja nur als Stativkameras benutzt werden. Nicht nur wegen ihrer Schwere. Am Beginn des Kinos gab es keine Möglichkeit, das Bild zu beobachten, während die Kamera lief. Es mußte daher vor Aufnahmebeginn fest eingestellt oder ins Ungefähre geschwenkt werden. Beliebt waren daher Eisenbahnbahnfahrten, in denen sich Stativ und Bewegung ja nicht widersprechen.
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Hand in Hand mit dem Ruf nach der Stativkamera geht die Forderung nach Horizontalität des abgebildeten Horizonts. Abweichungen davon müssen stark inhaltlich motiviert sein, um nicht als Willkürakt eines höchst realen Kameramanns interpretiert zu werden. Und dessen Anwesenheit arbeitet, wie wir inzwischen begriffen, tendenziell gegen das Identifikationsprinzip.
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Die Horizontalität des Horizonts erzeugt auch in horizontlosen Räumen eine vertikale Orientierung der Vertikalen. Die Vertikale ist die bestimmende Struktur des narrativen Bildes. Während erdoberflächenparallele Strukturen durch die Wahl des Bildwinkels perspektivisch verzeichnet und oft zu fluchtenden Diagonalen werden, bleiben die kürzeren Vertikalen relativ stabil. Konfusion entsteht nur bei direkten Blicken nach oben oder unten, weil dann auch manche Vertikalen diagonal im Bild liegen und nicht mehr von Horizontalen zu unterscheiden sind. Die Dominanz der Vertikalen ist vermutlich auch verantwortlich für die Wahl des Filmformats. In breiten Formaten lassen sich die Vertikalen (und dazu gehören auch Schauspieler) leichter zur Bildung von Unterausschnitten nutzen und ermöglichen so eine abwechslungsreichere Bildgestaltung als Hochformate.
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Stanley Kubrick hat in "2001" vielleicht als bisher einziger diesen Gedanken zu Ende gedacht. Entstanden unter dem Elan der unmittelbar bevorstehenden, realen Mondlandung versuchte er eine Ästhetik zu entwickeln, worin die Horizontalität der Horizontlinie kein Axiom mehr ist. Im Weltraum gibt es ja keinen Horizont und darum auch keine ausgezeichneten Vertikalen. So beeindruckend dieser Film ist, fand er doch keine Nachfolger. Als lebten wir noch immer in der Renaissance, wo es eine letztendlich überschaubare Welt zu erobern gilt, träumen die späteren Weltraumopern weiter vom Raum, ohne seine brutale Unendlichkeit, seine, man ist fast versucht zu sagen: gottlose Richtungslosigkeit wahrzunehmen. Piloten sitzen in ihren Kabinen genau wie in Flugzeugen, während die Sterne, als seien es bloß wenige Kilometer entfernte Wolken, horizontal an ihnen vorbeigleiten und sich die Besatzungen in U-bootartigen Verschlägen an Tischen versammeln, um bei solidem Kantinenessen ihre täglichen Probleme zu beschnattern, die sich von unseren kaum unterscheiden. Aber nur so läßt sich das narrative System im Weltraum offenbar retten, nur so läßt sich Spannung erzeugen. Selbst "2001" benötigte außerirdische Intelligenz*, um uns als Zuschauer bei Laune zu halten.
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Gemessen an der Stringenz der Stativkameranutzung und ihren Konsequenzen wirken andere Bedingungen, die eine Identifizierung des Bildes mit dem Abgebildeten erleichtern, wie zufällig zusammengelesen. Man könnte erwähnen, daß man Aufnahmen von extrem kleinen Objekten oder Mikroskopaufnahmen im narrativen Kontext gut vorbereiten muß. Oder daß es fast nie Platz für Einstellungen gibt, deren räumliche Verhältnisse so unklar sind, daß wir sie nur wie abstrakte Bilder lesen können. Oder daß nicht nur Schwenks sondern auch Schärfe-Fahrten durch einen Vorgang motiviert sein müssen. Unter speziellen Umständen und mit der nötigen Erläuterung findet sich indes für fast jedes Bild im narrativen System ein Ort. Dagegen scheint nur eine äußerst kleine Untermenge der theoretisch möglichen Bilder ohne solche Erläuterungen Platz zu finden, die meisten müssen "normalisiert" werden, bevor sie benutzbar sind. Die Strategien, die hinter diesem Prozeß stehen, bezeichnen wir deshalb pauschal als Normalisierung.
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Man muß sich klar machen, daß diese Normalisierung nicht notwendig mit einer getreuen Wiedergabe des Abgebildeten einhergeht. Spielt ein Geschehen bei minimalster Beleuchtung in einer finsteren Höhle, so erwarten wir von einer normalisierten Totale dennoch, daß uns die Räumlichkeit, zumindest als Schemen, so klar vor Augen geführt wird, daß wir uns als Zuschauer darin zu orientieren wissen. Das gilt auch für das Mienenspiel von Darstellern, von dem wir erwarten, daß es uns auch in extremlichtigen Situationen in seinen Nuancen dargeboten wird, auch wenn die verfügbaren Lichtquellen das nicht hergeben. Dadurch wird die Aufhellung zu einer der wichtigsten Funktionen der Beleuchtung. Und ihr Stil zu einem der wichtigsten Charakteristika von mitunter sogar Filmgenres, wie etwa der Schwarzen Serie, wo das low-key-Licht eine ganz andere atmosphärische Qualtität hat als die Aufhellungsverfahren der dreißiger Jahre.
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Weichen Bilder zu stark von diesen Normalisierungen ab, wirken sie bloß noch atmosphärisch. Viele dieser Abweichungen haben, wie bereits erwähnt, im narrativen Kontext eine auffällige Tendenz zum Bereich des Irrealen, Psychotischen und Halbkriminellen. Die Halbkriminellen und Psychopathen sind eben die Leute, für welche die Welt nicht mehr in Ordnung ist. Und im narrativen Kinos heißt das nichts anderes, als daß das Postulat von der unverrückbaren Identität von Bild und Abgebildeten erschüttert ist.
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Wir begreifen die repräsentative Einstellung als Grundzelle des narrativen Systems. Dieses besteht aber aus mehr als bloß einer Aneinanderreihung solcher repräsentativer Einstellungen. Und genau dieses Mehr, das über bloßes Aneinanderreihen hinausgeht, wollen wir als eigentliche narrative Struktur bezeichnen und im Folgenden die Voraussetzungen für ihr Zustandekommen untersuchen.
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Auch nichtnarrative Systeme wie der Dokumentarfilm benutzen repräsentative Einstellungen. Wird ihre Aufeinanderfolge aber nicht narrativ strukturiert, wirken sie schnell zusammenhangslos und können nur noch von einem rigiden Kommentar zusammengehalten werden, den sie dann atmosphärisch begleiten*. Das gilt z.B. für Nachrichtensendungen mit eingespieltem Bildmaterial. Ist der Kommentar kräftig genug, stört auch die Handkamera nicht.
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Repräsentative Einstellungen verlangen eine gewisse Mindestlänge, damit wir erkennen (und vermutlich auch benennen) können, was auf den Bildern repräsentiert werden soll. Diese Mindestlänge liegt, je nach Motiv, zwischen einer und fünf Sekunden. Kürzere Einstellungen wirken nur atmosphärisch.
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Das Gesichtsfeld eines fiktiven Beobachters eines Geschehens hat, entgegen einer oft geäußerten Meinung, kaum Ähnlichkeit mit dem Bildfeld einer repräsentativen Einstellung. Tatsächlich hat nur die Art, wie wir als Kinozuschauer ein Bild auf der Leinwand betrachten (mathematisch ließe sich sagen: in Form einer im Kern statistisch organisierten, über eine gewisse Zeit laufenden, nie ganz vollständigen Integration, bei der winzige Unterausschnitte zusammengefügt werden und so das "Gesamtbild" ergeben ), eine gewisse Ähnlichkeit mit der Art, wie wir das darin abgebildete Ereignis in der Wirklichkeit betrachten würden (wenn uns keiner dabei beobachtete).
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Das Auge sieht anders als eine Kamera. Bilder, die ein Kameraschwenk liefert, sind grundverschieden vom sich in ruckartigen Saccaden ändernden Blickfeld einer Person, die den Kopf dreht, um etwas vom Rand ihrer Wahrnehmung besser sehen zu können. Ab und an gibt es in narrativen Filmen eine scheinbare Identität von Kamera- und sich veränderndem Beobachterstandpunkt, die als subjektive Kamera bezeichnet wird. Diese Identität ist künstlich und existiert nur als summierende Konvention.
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Im narrativen System benutzte Einstellungen bedürfen keiner Motivation durch mögliche Betrachter. Die für mögliche Beobachter unzulänglichsten Kamerastandpunkte schließen den repräsentativen Charakter einer Einstellung nicht aus, im Gegenteil, häufig ermöglichen sie ihn erst.
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Es ist nicht leicht, sich dem Eindruck zu entziehen, daß die fortwährende Anwendung dieser Normalisierungsprinzipien das Bildmaterial narrativer Filme so erschöpft haben könnte, daß es schwer nur noch in der Lage ist, Inhalte originell und zeitgerecht zu tragen. Dies bildet im modernen narrativen Film fraglos einen äußerst kritischen Punkt. Man beobachtet daher gehäuft Versuche, nicht-repräsentative Bildsysteme in narrative Zusammenhänge zu integrieren*. Bislang wurden solche Bilder in nennenswerten Ausmaß nur im Avantgardefilm benutzt. Und, in ihrer plattesten atmosphärischen Form (und geradezu als Karikatur), natürlich in Werbespots oder Videoclips. Da solche Integrationsbemühungen das narrative Korsett weiterhin akzeptieren wollen, begegnen wir, weil sich das formal vom Normativen Abweichende oft an psychologisch abnormale Personen koppelt, in den interessanteren neueren Filmen immer häufiger einer seltsamen Kategorie von Kinopsychopathen. Die mit wirklichen Psychopathen - und das sage ich mit einem gewissen Bedauern, denn die Abbildung sogenannten psychopathischen Verhaltens ist eine der interessanteren Möglichkeiten des Films - leider absolut nichts gemein haben.
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Werden Teile einer repräsentativen Einstellung abgedeckt, geht ihr repräsentativer Charakter nicht notwendig verloren. Der Zuschauer rekonstruiert aus dem Vorhandenen einen Großteil der abgedeckten Bestandteile. Jeder narrative Film trainiert dazu, denn jeder Darsteller verdeckt einen Teil des ihn enthaltenden Raums. Bewegt er sich, gibt er den verdeckten Teil wieder preis. In jedem Film machen wir die Erfahrung der Fortsetzung eines Bildes nach Innen.
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Ebenso kommt es zur Fortsetzung einer repräsentativen Einstellung nach außen. Evident ist dabei eine relativ abgesicherte, die sich aus der Fortsetzung architektonischer und perspektivischer Linien, von Vegetationsstrukturen und ähnlichem, sowie aus der Beobachtung das Bild verlassender Bewegungsträger, z.B. Autos, ergibt. Darüber hinaus gibt es eine spekulative Fortsetzung nach außen, die den Bildausschnitt als Teil eines Ganzen begreift und aus dem angebotenen Ausschnitt eine geographische und soziale Umgebung konstruiert. Das Bild einer bäuerlichen Stube evoziert sofort eine bäuerliche Umgebung von beträchtlicher Ausdehnung, mit z.B. größeren Städten am Rand, eine Reihe sozialer Strukturen, usw.
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Die Existenz dieser reflexartig entstehenden spekulativen Fortsetzung nach außen ist die Voraussetzung für die verschiedenen Schnittmodelle, mit denen disjunkte, das heißt im Bildfeld nicht überlappende, Einstellungen im narrativen Raum verbunden werden. Diese Verbindungen schärfen ihrerseits das Bewußtsein von der spekulativen Fortsetzung nach außen.
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Ein isolierter Film ist in einer Umgebung, die keine narrativen Filme kennt, kaum begreifbar. Unerläßlich für das adäquate Verstehen des narrativen Systems ist eine kontinuierliche Konfrontation mit seinen Produkten. Das narrative Kino ist prinzipiell seriell. Sein System konstituiert sich im Betrachter durch das kontinuierliche Sehen vieler Filme, die den gleichen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Diese haben meistens eine gewisse Plausibilität, gelegentlich basieren sie aber auch bloß auf zufällig gewählten Konventionen, die erlernt werden müssen. Als das Narrative begreifen wir dieses allen narrativen Filmen Gemeinsame. Narrativ wiederum sind die Filme, die wir in den Kinos sehen können. Wobei wir mit Kinos nicht solche meinen, die sich einem wie auch immer gearteten Filmkunstbegriff verschrieben haben, sondern die gewöhnlichen Kinos, die Kinos der, wie Kracauer* sagte, "kleinen Ladenmädchen". Daß auch in Filmkunstkinos durchweg narrative Filme laufen, macht vielleicht klar, von wie feiner Art die strukturellen Unterschiede zwischen dem Kino der kleinen Ladenmädchen und dem der ein wenig Anspruchsvolleren, zu denen Kracauer wohl auch sich selbst zählen mußte, eigentlich sind.
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Während sich die direkte Fortsetzung einer Einstellung nach außen am Bildrand orientiert, ist die spekulative Fortsetzung nach außen das Resultat einer Einschätzung der räumlichen Eigenschaften des Bildes als Ganzen. Daher wird das Verständnis narrativer Filme kaum eingeschränkt, wenn in der Projektion mehr oder minder große Teile des Bildrandes abgeschnitten sind. In der Tat beobachtet man ja, daß das Projektionsrechteck in den Kinos (und natürlich auch im Fernsehen) auf geradezu brutale Art reduziert wird, ohne das Verständnis der Filme auch nur im Geringsten zu beeinträchtigen. Der spekulative Fortsetzung nach außen orientiert sich im Bildzentrum.
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Bei sich bewegender Kamera wendet sich die Aufmerksamkeit eines Betrachters automatisch der Bildkante zu, an der bis dahin noch nicht Sichtbares ins Bild kommt. Diese Art von Aufmerksamkeit reduziert die zentrumsorientierte spekulative Fortsetzung. Auch deswegen wird eine sich bewegende Kamera bei den üblichen Schnittfiguren nur ungern genutzt, und wenn, fast nur, wenn die Bewegung eines Bewegungsträgers im Zentrum die Bewegung am Rand überspielt.
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Bei zwei disjunkten repräsentativen Einstellungen gibt es von jeder eine spekulative Fortsetzung nach außen. Je nach Überschneidung der beiden bildet sich der Betrachter ein Urteil über die mögliche Nachbarschaft der beiden Abbildungsräume. Sehen wir sie im Film nacheinander, schiebt sich die Fortsetzung der zweiten im Bewußtsein des Zuschauers über die Fortsetzung der ersten und erzeugt so ein beinahe physisch präsentes Urteil über ihren Zusammenhang. Die Bildung dieses Urteils ist der Beginn des Verständnisses narrativer Filme.
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Wegen der Spekulativität der Fortsetzungen nach außen ist auch dieses Urteil nur spekulativ. Da wir es im Lauf einer Filmvorführung andererseits schnell fällen müssen, läßt es sich als grob hierarchisiert postulieren. Als Hierarchisierungsparameter der Beziehungen zwischen disjunkten Einstellungen bieten sich die Begriffe "umittelbare" und "nur entfernte" Nachbarschaft an. In dieser Terminologie nennen wir zwei Einstellungen möglicherweise unmittelbar benachbart, wenn sich ihre Bildräume unmittelbar aneinander anschließen könnten. Wahrscheinlich nicht unmittelbar benachbart wären dann zwei Einstellungen, zwischen denen solche unmittelbare Nachbarschaft ausgeschlossen erscheint. Das Urteil über mögliche unmittelbare Nachbarschaft muß wegen der Direktheit des Anschlusses selbstverständlich die direkte Fortsetzung der beiden Einstellungen berücksichtigen.
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Um auch bei wahrscheinlich nicht unmittelbar benachbarten Einstellungen eine Art Ordnung einzuführen, könnte man sie in solche mit möglicher "mittelbarer" und solche mit wahrscheinlich "nur entfernter" Nachbarschaft zerlegen, je nachdem ob wir den beiden Bildräumen eine gewisse Nähe zubilligen oder ob man sie in doch schon erheblicher Entfernung voneinander vermutet. Die Trennungslinie zwischen diesen beiden Nachbarschaftskategorien sollte fließend angelegt sein, weil der Nähebegriff relativ ist und oft Zeitkomponenten enthält. Filme, deren Hauptverkehrsmittel das Auto ist, lassen ein in Kilometern ausgedrücktes Nähekonzept plausibel erscheinen, welches gegenüber solchen, worin Darsteller ihre Wege zu Fuß zurücklegen müssen, gestreckt erscheint.
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In diesem Sinne bezeichnen wir als möglicherweise mittelbar benachbart solche Einstellungen, die für nicht unmittelbar benachbart gehalten werden, von denen wir aber andererseits vermuten, daß die Distanz zwischen ihren Bildräumen durch die zur Verfügung stehenden Transportmittel in relativ geringer Zeit überbrückbar sei. Alles dahinter Gelegene fiele in die Kategorie des Wahrscheinlich-nur-Entfernten.
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Sieht man sich eine Reihe narrativer Filmen ausschließlich auf ihren Schnitt hin an, fällt schnell auf, daß die Zahl der an Blicke gekoppelten Schnitte alle anderen zahlenmäßig weit übertrifft. Daher bietet sich ein Nähekonzept an, welches als möglicherweise mittelbar benachbart genau das Areal bezeichnet, das ein Beobachter überblicken könnte, wenn Wände und ähnliches den Blick nicht behinderten. Mit einem Fernrohr ließe sich dann in den Bereichsbeginn des Wahrscheinlich-nur-Entfernten blicken, für dessen Erreichen, sollen unsere beiden Definitionen einigermaßen übereinstimmen, eine Zeit von der Größenordnung zehn Minuten anzusetzen wäre.
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Die möglichen Nachbarschaftsbeziehungen zwischen zwei Einstellungen werden bei der Projektion durch eine Reihe von Hinweisen, die wir den Bildern zusätzlich entnehmen - gewöhnlich durch genaue Beobachtung der Bewegungsträger - , in tatsächliche Nachbarschaften überführt. Dabei können sich mögliche unmittelbare Nachbarschaften in tatsächlich unmittelbare, tatsächlich mittelbare oder tatsächlich nur entfernte Nachbarschaften verwandeln. Zwei Zimmer z. B., die einander unmittelbar benachbart sein könnten, können sich auch als in zwei verschiedenen Städten befindlich herausstellen, als also tatsächlich nur entfernt miteinander benachbart.
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Mögliche mittelbare Nachbarschaft schließt tatsächlich unmittelbare Nachbarschaft aus, sie kann sich aber in tatsächlich nur entfernte Nachbarschaft verwandeln. Wahrscheinlich nur entfernte Nachbarschaft wiederum schließt tatsächlich unmittelbare oder tatsächlich mittelbare aus: ein Zimmer in Paris und ein Haus in den Schweizer Alpen, die als solche erkannt sind, können nicht mehr tatsächlich unmittelbar oder auch nur mittelbar benachbart sein.
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Wie man repräsentativen Einstellungen einen wirklichen Raum zuschreibt, für den sie stehen, läßt sich ihnen auch eine Zeit zuschreiben. Diese hat mit der Filmzeit zwar das Vergehen während der Projektion gemein, ansonsten aber kann sie durchaus glaubwürdig ein Zeitsegment aus, sagen wir, dem Jahre 1850, repräsentieren, obwohl es 1950 hergestellt wurde und wir es 1980 betrachten. Das ist etwas sehr Eigenartiges, dessen Bedeutung meinem Gefühl nach noch nicht richtig gewürdigt wurde. Schon bei schnittfreien Filmen entsteht im Betrachter ein Kontinuum aus vergangener, mitunter dabei aber als sonderbar gegenwärtig empfundener Zeit, wobei wir das Vergangene als gegenwärtig begreifen. Auf jeden Fall verliert das wahrnehmende Zuschauer-Ich dabei leicht an physischer Jetzt-Zeit-Körperlichkeit, ein Prozeß, wie er auch beim sorgfältigen Betrachten von Photos oder Gemälden einsetzen kann, bei dem man gewissermaßen ins Bild "eintaucht". Weil narrative Filme Schnitte enthalten, werden sie zu Folgen von Zeitsprüngen zwischen solchen eigentlich längst vergangenen Zeitsegmenten. Wobei das Vergangene - und das klingt zusammen mit der Idee eines Sprungs ausgesprochen paradox - trotzdem meist als gegenwärtig empfunden wird, als gegenwärtige Zeit, und zwar in weitaus stärkerem Ausmaß, als dies beim Betrachten einer einzelnen Einstellung geschieht oder möglich ist. Das wirklich Paradoxe besteht aber darin, daß wir etwas als gegenwärtig wahrnehmen, obwohl wir zugleich deutlich sichtbare Zeitsprünge erleben. Das ist wirklich sehr erstaunlich und geht über die das körperliche Ich vergessende Versunkenheit (in der man, das ist jedoch wilde Spekulation, sein eigentliches, sein inneres "Ich" vielleicht sogar erst findet) beim Betrachten etwa eines Gemäldes hinaus.
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Diese Zeitsprünge lassen sich den räumlichen Beziehungen zweier Einstellungen entsprechend hierarchisieren. Zwei Einstellungen können also: entweder zeitlich kontinuierlich ineinander übergehen; oder es kann ein relativ geringer Zeitraum zwischen ihnen vergangen sein; oder es kann sich ein erheblicher Zeitsprung zwischen ihnen ereignet haben. Dabei ist die Trennlinie zwischen den letzteren zwar fließend, nach unseren vorherigen Überlegungen mit der Größenordnung von mindestens zehn Minuten aber auch wieder recht präzise angebbar.
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Auch auf der zeitlichen Ebene fällt man zunächst ein spekulatives Urteil, von dem man hofft, es werde sich im Lauf der Projektion auf Grund einer Reihe von Hinweisen konkretisieren. Folgt einer Nacht- eine Tagaufnahme, wissen wir, daß eine Reihe von Stunden vergangen sein muß; der neu erschienene Tag braucht freilich nicht unbedingt der nächste zu sein. Das Plausible der Logik an diesen Beispielen vereinfacht jedoch zu stark. Denn meistens hat man als Zuschauer in narrativen Filmen bei einem Schnitt zunächst das Gefühl, es sei gar keine Zeit vergangen, weil den meisten Filmmachern offenbar ein Hauptanliegen ist, genau dieses Gefühl bei möglichst vielen Schnitten zu erzeugen. Erst nach diesem allerersten Eindruck stellen wir fest, daß er häufig nicht stimmt. In den meisten Fällen geht es also darum, möglicherweise unmittelbare zeitliche Nachbarschaft in tatsächlich unmittelbare, tatsächlich nur mittelbare oder bloß entfernte zu verwandeln.
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Beim Wahrnehmen der Schnitte eines Filmes, so ließe sich all dies vorläufig zusammenfassen, beginnt man mit einer Analyse der durch den Schnitt verbundenen Einstellungen, gelangt über ihre Fortsetzungen zu Urteilen über mögliche räumliche, sowie zeitliche Nachbarschaft und verwandelt diese wiederum durch weiterer Hinweise in tatsächliche Nachbarschaften. Einen narrativen Film verstehen heißt zunächst einmal die Raumzeit-Beziehungen zwischen den einzelnen Einstellungen verstehen. Bei manchen Filmen kann dies das einzige sein, worüber wir uns als Zuschauer zuverlässig verständigen können.
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Eine Beschreibung des narrativen Systems ist daher weitgehend identisch mit einer Beschreibung seiner Raumzeit-Konstruktionen. Die jedenfalls sind es, die von jedem Zuschauer als verbindlich begriffen werden. Das meiste andere ist mehr oder weniger - und das entspricht dem Medium nun wirklich - Ansichtssache. Untersuchungen dieses Anderen sind nur im konkreten Detail und auf empirischer Basis nichtspekulativ. Wäre Film eine Sprache, hätte man im Bereich der Raumzeit-Konstruktionen nach einer Grammatik zu suchen, denn dieses Andere, das geheimnisvoll jenseits bloß geometrischer Vorstellungen liegt, hat auf keinen Fall die wesentliche Eigenschaft einer Grammatik, die nämlich, von sehr vielen Leuten gleich begriffen zu werden. Das betrifft auch die psychoanalytischen Resonanzen, die in dieser Richtung noch am meisten herzugeben scheinen. Aber dann ist, wie wir im Vorwort bereits erfuhren, Film ja gar keine Sprache. Das einzige, was im Film spricht, sind die Darsteller.
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Ziel dieser Arbeit ist es nicht, dieses System als etwas Unflexibles, nicht mehr Veränderbares zu begreifen. Und ich halte es auch nicht - selbst wenn manche Textstellen vielleicht so klingen - für eine eher minderwertige Art, Bilder zu organisieren. Ich glaube vielmehr, daß es sich um das Resultat einer bewundernswerten, intuitiven Anstrengung handelt, der es gelang, aus etwas eigentlich Unbegreifbaren etwas zu machen, was irgendwie verständlich ist. Und das nicht auf Grund irgendeines logischen Plans, den sich jemand entlang der hier entwickelten Linien zurechtlegte, sondern in Form einer merkwürdigen Kollektivanstrengung, die Erstaunliches und zudem noch erstaunlich Logisches produzierte. Dieser Text soll vor allem Bewunderung für diese Leistung ausdrücken.
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Andererseits aber, das wiegt nicht weniger schwer, handelt es sich offenbar um ein System, das derart kritische Bereiche enthält, daß es sich selbst geradezu zielstrebig zerstört. Darin ähnelt es manchem lebendigen System. Je mehr Filme pro Zeiteinheit damit hergestellt werden, desto mehr lebt es zwar, desto schneller scheint es aber auch, man könnte sagen: zu sterben. Oder vorsichtiger gesagt - und das Banale daran unterscheidet es vom wirklich Lebendigen - desto mehr funktioniert es nicht länger. Oder vorsichtiger noch: desto langweiliger werden die Filme. Und die Erzeugung von Langeweile, selbst die vehementesten Anhänger konventionellsten Erzählens werden dies kaum bestreiten, ist nun einmal nicht das Ziel der narrativen Anstrengung. Will man die Filmform nicht solch langweiligem Verkümmern überlassen, sollte man sie daher anderen Ordnungssystemen öffnen, die das narrative System weiterhin, vielleicht als Unterbereich, zu integrieren wissen.
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Das klingt freilich zu überzeugend, um wahr werden zu können. Wer schließlich ist schon "der Film"? Und wird "das Publikum" da mitmachen? Ich weiß es nicht, glaube es merkwürdigerweise auch nicht. Das primär raumgestützte Erzählen mit halbwegs intakten Psychologien scheint es aber immer weniger zu tun. So schnell sich die Welt ändert, versteht sie anscheinend nicht, das mit jedem Film leerer werdende Reservoir des noch Erzählbaren schnell genug wieder zu füllen. Früher - gestatten Sie mir den Einschub - ging ich mitunter dreimal täglich ins Kino, so groß war mein Bedürfnis, alles was es auf der Leinwand gab, zu registrieren. Heute muß ich mich zwingen, es wenigstens einmal im Monat zu tun. Oder sagt sowas nichts? Sind derlei pauschal ins Düstere führende Zukunftseinschätzungen nicht Wunschvorstellungen, die sich ein dem eigenen Tod entsprechendes Schicksal für alles andere wünschen? Denn auch heute gibt es gewiß Jugendliche, die gelegentlich dreimal täglich ins Kino gehen. Und obwohl ich mir heute reifer vorkomme, fühlte ich mich damals nicht schlechter. Vielleicht ist das Kino ja nur etwas für junge Menschen, die möglichst schnell etwas über die Welt erfahren möchten, was in der Realität nicht so ohne weiteres zugänglich ist. Also - was solls! In der sich ändernden Welt werden die Menschen irgendwie ja auch klüger. Die kleinen Ladenmädchen Kracauers, so selbstverständlich ihre Existenz früher erschien, gibt es womöglich gar nicht mehr - vielleicht hat es sie nie gegeben. Wobei ich hier nicht zuletzt auch im eigenen Interesse spreche, mit dem also eines Filmmachers, der, gemessen am Üblichen, sonderbare Filme produziert. Wenngleich mir immer schwerer fällt, die eigenen Interessen überhaupt zu fassen. Andererseits liegt im Sprechen selbst wohl bereits ein Interesse. "Die Zukunft ist Propaganda," hat wer äußerst Kluges über die vielen in diesem Jahrhundert so vehement und rücksichtslos vorgetragenen Prophezeiungen über die Zukunft der Menschheit geurteilt. Und die Vorhersagen über sie seien so häufig, banal und billig wie Gras.
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Bei den wenigen Filmen, in die ich noch gehe, weiß ich im vornherein - gestatten Sie ein letztes Mal die dogmatisch klingende Heftigkeit eines nur subjektiv gemeinten Verdikts -, daß ich mich darin mit katastrophalen Deformationen auseinandersetzen muß. Und zwar sowohl bei den Personen, die mir der Film vorstellen wird, als auch bei denen, die ihn hergestellt haben, den in der Filmindustrie erfolgreichen Filmmachern. Deren Menschenbild - es ist mir inzwischen im vornherein und leider ohne jeden Zweifel klar - meist so entscheidende Defekte aufweist, daß sie über den Menschen eigentlich kaum etwas auszusagen vermögen, jedenfalls nichts, was mich noch interessiert. Und nicht, weil es niemanden gibt, der zu mehr fähig wäre, aber irgendwie bringen die dazu Fähigen keine Filme mehr zustande oder versuchen es mittlerweile gar nicht erst.
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Aber was heißt das schon - vielleicht gibt es ja doch noch "das Publikum", das vielleicht ewige Publikum, das sich das ewig Gleiche in immer neuen Kleidern wünscht. Das traurige Schicksal der Kinos jedenfalls schien mir immer gewiß. Zum einen würden sie die Funktion von Museen übernehmen und im übrigen auf den Jahrmarkt zurückkehren, von dem sie gekommen sind. Ich fand das eigentlich nicht einmal traurig, waren doch die meisten der vielen Kinos, worin ich gewesen bin, eher schäbig und deprimierend als schön.
Und inzwischen werden Filme zum Teil so stark subventioniert, daß es zu den seltsamsten Überraschungen kommt: Länder wie Portugal, Canada und Iran stellen jetzt die interessantesten Filme her - wer hätte das gedacht? Es ist Zufall, daß man im Fernsehen einen Schuldigen für den Verfall des Kinos fand. Er wäre, meine ich, auch ohne das Fernsehen geschehen, das ja seinerseits nun in einer gewissen Erschöpftheit verfällt. Leider haben die Repertoirekinos als erstes dran glauben müssen - ein Doppelprogramm von "African Queen" und "Wind Across the Everglades", das mich als jungen Mann im Bleeker Street Cinema begeisterte*, wird es im Kino nie wieder geben. So etwas kommt jetzt im Fernsehen. Aber auch da hat man die guten Filme schon alle ein paarmal gesehen - so gut, daß man sich das zehnmal antun kann, sind sie nun auch wieder nicht. Immerhin geht dabei nichts verloren - sollten Filme früher besser gewesen sein, wird man sie wieder entdecken. Ja, der Verfall des Kinos wiederholt sich im Fernsehen. Es ist schwer geworden, sich einen Film im Fernsehen zu Ende anzusehen, die Fernbedienung kam da gerade recht.
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Am 20. Mai 1909 fand die Premiere von "RESURRECTION" statt, eines Stummfilms von D.W. Griffith mit Florence Lawrence und Arthur Johnson in den Hauptrollen, der Tolstois Roman "AUFERSTEHUNG" zu folgen versucht. Er ist etwa zehn Minuten lang und liegt uns heute in folgender Struktur vor:
T1 : T2 : x1 : T3 : x1 : T4 : x2 : T5 : x2 : T6 : x3 : T7 : x4 : T8 : x4 : T9 : x4 : T10 : x5 : T11 : x5 : T12 : x5 : T13 : T14 : x5 : T15 : x6 : x7 : T16 : x7 : T17 : x7 : T18
wobei x1, x2, x3 usw. die Bildräume verschiedener repräsentativer Einstellungen bezeichnen und
T1, T2 , T3 usw. verschiedene Titel. Das Symbol ":" steht für einen Schnitt. Die Titel lesen sich wie folgt:
T1 : RESURRECTION
T2 : HERE THE TITLED LADY PREPARES TO RECEIVE PRINCE DIMITRI AT A GALA HOME COMING RECEPTION
T3 : A NEW FLOWER GIRL, KATUSCHA, IS SERVING AT COURT: YOUNG, ARTLESS AND INNOCENT; SHE UNWITTINGLY FASCINATES THE PRINCE
T4 : TO KATUSCHA, THE TOSSED-OFF BLOSSOM REPRESENTS THE FUTILITY OF DIMITRI'S ADMIRATION
T5 : HE RETURNS, BUT SHE PLEADS THAT SHE IS NOT OF HIS STATION
T6 : FIVE YEARS LATER - IN A LOW TAVERN
T7 : LOVED AND LEFT, HUMILIATED BY THE DISGRACE, SHE HAS SOLD HER SOUL AND IS PICKED UP BY THE AUTHORITIES
T8 : DIMITRI REALIZES THAT HER PLIGHT IS HIS FAULT: AT THE TRIAL HE PROTESTS, WEAKLY. THE PROCEEDINGS ARE A PARODY
T9 : SHE DOES NOT RECOGNIZE HIM AND HE IS TOO SHAMED TO SHOW HIMSELF
T10 : IN JAIL, HE COMES TO HER
T11 : "I AM TO BLAME AND WILL SEE THAT YOU ARE PARDONED"
T12 : AS HER FURY AND HYSTERIA ABATE, GRADUALLY THE MESSAGE OF GOD REACHES HER
T13 : (Katuschas Finger folgt der Schrift in einer Bibel:) JESUS SAID TO HER: I AM THE RESURRECTION AND THE LIFE: HE THAT BELIEVETH IN ME, THOUGH WE WERE DEATH, YET SHALL BE LIVE
T14 : BUT NOW, THE POLICE ARE READY TO TAKE HER TO A LIFE OF HARD LABOR IN SIBERIA
T15 : KATUSCHA TRIES TO HELP THE POOR UNFORTUNATES WHO SHARE HER FATE
T16 : DIMITRI HAS FOLLOWED HER. HE HAS A PARDON FROM THE AUTHORITIES
T17 : SHE REFUSES TO RETURN, PREFERRING TO WORK OUT HER SALVATION BY RENOUNCING THE WORLD FOR THE PATH OF DUTY
T18 : THE END
Die Schauplätze sind:
|
|
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(2 mal ) |
|
( 1 mal) |
x4 : eine Polizeiwache, die gleichzeitig Gerichtssaal ist (erscheint 3 mal)
x5 : das Gefängnis (4 mal)
x6 : eine Schneelandschaft mit Häuschen ( = "SIBERIA") (1 mal)
x7 : eine andere Schneelandschaft mit Kreuz und Kirche (1 mal)
Interessant ist die Erzählform von "RESURRECTION". Bis auf den Übergang x6 : x7 sind alle Einstellungen durch Titel voneinander getrennt. Oder, anders herum gesagt: die Standardverbindung zwischen zwei Einstellungen xi und xj hat die Form xi : Tij : xj wobei Tij den Titel bezeichnet, der zwischen xi und xj steht.
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Die Einstellungen sind alle in der Totalen gedreht, der repräsentativen Einstellung par excellence. Eine Totale "ist" tatsächlich der Raum, den sie abbildet, während bei Nahaufnahmen das Gesicht so dominiert, daß der Raum gelegentlich nur in der Unschärfe wahrgenommen wird, dort aber ist er auf geheimnisvolle Weise immer noch sehr präsent. Es ist bekannt, daß die Totale bis 1910 die fast ausschließlich benutzte Abbildungsform in narrativen Systemen war. Erst entwickeltere Filmformen haben anderen Einstellungsformen wie der Nahaufnahme einen Platz zuweisen können. Die Anekdote vom Produzenten, der es einem Regisseur verbot, die Großaufnahme eines Stars zu machen, weil er für die ganze Person bezahlt hätte, ist vielleicht wahr, enthält aber dennoch ebensowenig Wahrheit wie die inzwischen ich weiß nicht wie vielen Regisseuren in den Mund gelegte Frage nach der Botschaft ihrer Filme, der sogenannten message: "Wenn ich eine message aufgeben möchte, gehe ich zum Telegraphenamt." Diese Personen sind nie etwas von dem sie Drängenden am Telegraphenamt losgeworden.
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Auffällig an "RESURRECTION" ist, daß fast alle Titel das Geschehen der folgenden Einstellung beschreiben und nicht das der gerade vergangenen. Man scheint sich der Fähigkeiten des Mediums damals derart unsicher zu sein, daß man es für nötig hielt, die Information schon im vornherein anzukündigen und sie zu verdoppeln. Das läßt die Bilder leicht zu einer Art Illustration einer Textvorlage werden. Die Handlung wird dabei durch eine literarische Inhaltsangabe geführt und entwickelt sich nicht aus den räumlichen Beziehungen der Filmbilder. Dadurch arbeitet die Bildfolge als atmosphärischer auf einem literarischen Code. Das hat sich inzwischen erheblich geändert, dennoch hat der literarische Code, speziell seit der Einführung des Tonfilms, der ihm zu neuer Geltung verhalf, seine Führungsrolle nie wirklich verloren: in allen narrativen Filme haben die Bilder auch die Qualität einer beiläufigen Dialogillustration.
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Die Heldin Katuscha erscheint in allen Einstellungen. Der Film ist ihr Film. Die entstehenden räumlichen Verbindungen orientieren sich an ihrem Erscheinen. Sie werden durch Titel wie "IN A LOW TAVERN" und "TO A LIFE OF HARD LABOR IN SIBERIA" gestützt. Das Erzählmodell von "RESURRECTION" beobachtet eine einzige Person zu verschiedenen Zeitpunkten. Der sich aus den Titeln ergebende parallele Handlungsstrang mit Dimitri wird nur sichtbar, wenn er Katuschas Lebenslinie berührt. Dieses Erzählmodell ist die wesentliche makroskopische Erzähleinheit des narrativen Films geblieben. Narrative Filme verfolgen das Schicksal von ein, zwei, manchmal ein paar mehr Personen an sogenannten wesentlichen Zeitpunkten. Diese Hauptpersonen eines Films halten die Filme zusammen. Werden zu viele Schicksale zu ausführlich beschrieben, verlieren die narrativen Filme irgendeine Qualität, die sie sonst in die Kinos kommen läßt. Daß es Haupt- und Nebendarsteller gibt, scheint ein der Form zugrunde liegendes Prinzip zu sein. Möglicherweise sind die Räume von Filmen ohne Hauptdarsteller so kompliziert konstruiert, daß ein Betrachter sie nicht mehr eindeutig genug begreifen oder erinnern kann. Und wenn man die Raumzeit-Konstruktionen eines narrativen Films nicht mehr versteht, versteht man auch den Film nicht.
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Das Heldenprinzip bedeutet eine stärkere Einschränkung der Filmform als man zunächst denkt. Denn es scheint nicht zu reichen, etwas zu sehen, interessant zu finden und zeigen zu wollen: man muß einen Helden dazu erfinden, und das ist etwas sehr Schwieriges. Ein Held muß etwas Originelles an sich haben, das ist nicht so einfach zu finden. Durch das Heldenprinzip wurden interessante Bildbereiche von der narrativen Form ausgeschlossen oder - wie in manchen Tierfilmen - mit grotesken Pseudohelden versehen, die das Material dem Zuschauer nahebringen sollen. Im Fernsehen ist der Anchorman einer Magazinsendung dieser Held, der alles zusammenhält, und jeder Programmverantwortliche weiß, wie schwierig es ist, einen einigermaßen originellen Anchorman aufzubauen, der die Sendungen, die er moderiert, auch vertreten kann.
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Der Vorrang des Heldenprinzips klingt banal, weil es aus dem Roman bekannt ist. Bei ihm haben wir es jedoch mit ganz anderen Produktionsbedingungen zu tun. Die Hervorbringung eines wirklichen Helden kosteten Musil, Proust und Joyce ein Leben. Letztlich muß dazu ein neues Menschenbild entworfen werden, das übersteigt die Fähigkeiten der meisten am Kino Beteiligten. Daher haben Filmhelden häufig etwas Minderwertiges, sie sind Helden von der Stange. Und das macht die Dominanz des Heldenprinzips im Kino zu etwas Traurigem, weil vieles des im Gegensatz zum Roman im Film Möglichen, besonders das Unmittelbare der Bilder, sich dem Heldenprinzip unterordnen muß, um ins Kino zu kommen. Das gilt vor allen für Dokumentarisches, welches sich das narrative System nur über einen dominanten Helden ("Nanook of the North") erschließen kann, aber auch für vornehmlich Lyrisches - es reicht ja nicht, die lyrische Empfindung wiederzugeben, es muß ein Held in ihr herumstampfen, da bleibt leicht bloß Kitsch übrig.
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Prinzipielle Bedeutung hat im narrativen System auch die Zeitverkürzung. "RESURRECTION" beschreibt einen Zeitraum von 6 Jahren und hat eine Projektionszeit von etwa zehn Minuten. Wo ist diese Zeit geblieben? Gemessen an den beschriebenen Zeiträumen ist die Projektionszeit eines Films in der Regel lächerlich gering. Dadurch enthalten die Einstellungen eines Films eine ungeheuere Wichtigkeit, müssen sie doch begründen, daß ausgerechnet sie es sind, welche die wichtigsten Stationen eines menschlichen Schicksals beschreiben. Dadurch werden sie doppelt repräsentativ. Sie repräsentieren nicht nur den abgebildeten Raum sondern auf eine geheimnisvolle Weise auch den nicht abgebildeten Raum; sie repräsentieren die entscheidenden Stationen eines menschlichen Schicksals. Diese inhaltliche Repräsentanz wird in den heutigen Filmen nicht mehr der einzelnen Einstellung aufgebürdet, die so eine Last ja gar nicht zu tragen vermag, sondern ganzen Folgen von Einstellungen, sogenannten Sequenzen, in deren jeder sich eine wichtige Station im Leben eines Helden darzustellen hat. Die einzelne Einstellung hat im Vergleich zu "RESURRECTION" inzwischen an Autonomie und Bedeutung verloren.
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Konsequent an diesem Film ist die Benutzung des Präsens in den Titeln. Sie ist die klarste Folge der Idee der räumlich repräsentativen Einstellung. Ein abgebildeter Raum soll im Moment der Projektion als "Ist"-Raum begriffen werden und nicht als "War"- Raum aus der Vergangenheit. Dies steht in einem gewissen Gegensatz zu der inhaltlichen Repräsentativität, von der ja jedermann weiß, daß man sie erst im nachherein beurteilen kann. Häufig wird einem Film daher ein Erzähler überlagert (manchmal in Form von Titeln), der zu Beginn eines Films vom gleich Geschehenden als etwas Vergangenem redet und dann - bis auf ein geheimnisvolles Echo im Schlußtitel "ENDE" - auf Nimmerwiedersehen verschwindet (über den Sinn dieses "ENDE" Titels würde ich übrigens gern mal etwas lesen). Ansonsten soll oder möchte der Zuschauer alles, was sich in den Bildern ereignet, als gegenwärtig begreifen, nur das scheint die Identität von Bild und Abgebildetem zuverlässig zu gewährleisten. In der Vergangenheit spielende Filme sind darauf angelegt, daß man sich in die Vergangenheit zurückversetzt, in etwa so, als würde man dabei sein; man sieht sie jedenfalls nicht aus historischer Distanz.
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Dies führt häufig zu unerträglichen Torsionen, müssen doch die Hersteller eines Films sich bemühen, Authentizität in historischen Umgebungen weit über das Maß dessen hinaus zu liefern, was über die jeweilige Zeit noch bekannt und vor allem herstellbar ist. Kennern der Verhältnisse und Personen, die das in einem Film Beschriebene früher selbst einmal erlebt haben, sträuben sich oft die Haare. Doch wenn das Publikum nicht aus solchen Kennern besteht, reicht eine gewisse Plausibilität zum Funktionieren. Vielleicht gibt es darüber hinaus auf Seiten des Publikums sogar so etwas wie ein Bedürfnis, die Situation nicht "realistisch" dargestellt zu sehen, vielleicht entsprechen gerade nichtrealistische Deformationen einem Bedürfnis nach Verklärung der Vergangenheit und einer in diesem Sinne wirkenden erzählerischen Verdichtung.
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Ein System jedenfalls, das Helden benötigt, muß ohnehin Geschichte aus der Perspektive dieser Helden beschreiben. Versuche, Geschichte anders zu beschreiben, etwa als Resultat einer Bewegung von sozialen Feldern und Massen, scheitert spätestens im Kino. Geschichtsfilme werden dadurch zu geschichtsindifferenten Kostümfilmen. Daß die Folge solcher Bemühungen ein verquastes Verständnis von Geschichte werden kann, ist offensichtlich - darum sind andere Geschichtsverständnisse freilich oft nicht weniger absurd. Trotz offensichtlicher Widersprüche scheint das narrative System jedenfalls irgendwie zu funktionieren. Warum das so ist, erfahren wir erst bei der Analyse systematischer Parallelmontagen. Ein Film wie "RESURRECTION" führt uns heute allerdings nicht mehr in das zaristische Rußland sondern ins Amerika des Jahres 1910. Die naive lineare Erzählweise dieses Films schränkt den repräsentativen Charakter der Einstellungen inzwischen derart ein, daß sie wieder zu dem werden, was sie eigentlich immer gewesen sind: eigenartige Hervorbringungen einer eigenartig experimentierfreudigen Gruppe von Menschen im New York des Jahres 1910.
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Auffällig an diesem Film ist auch, daß zu einmal verlassenen Schauplätzen nicht mehr zurückgekehrt wird. Wir werden erkennen, daß das in der sich sozusagen von allein erzählenden Form ganz anders ist. In ihr wird genau das hier noch nicht vorhandene Zurückspringen in schon Bekanntes exzessiv genutzt, um dem Ganzen Halt zu geben.
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Wenn man diesen Film sieht, ist es schwer sich zu entscheiden, was unverschämter ist: Griffiths Versuch, Tolstoi zu verkürzen oder Tolstois Versuch, eine Geschichte, die sich in einem Zehn-Minuten-Stummfilm erzählen läßt, auf fast tausend Seiten auszubreiten. Die Chuzpe Griffiths haben Literaturverfilmungen bis heute. Aber die ist es eigentlich nicht, die wirklich unverschämt ist, Literatur ist ja nichts heiliges. Unverschämt ist die Chuzpe, etwas ziemlich Erstaunliches in etwas deutlich Minderwertigeres zu verwandeln und zu hoffen, damit durchzukommen, obwohl dieser Schritt in die Minderwertigkeit allen am Produktionsprozeß Beteiligten von vornherein klar ist. Am Beginn der Filmgeschichte gab es sicher die Hoffnung, daß es sich bei dem so Hergestellten um Prototypen handelte, die dann - Griffiths Werk ist ja von dieser Anstrengung sympathisch gezeichnet - irgendwann einmal zu richtigen Kunstwerken führen würden. Selbst in einem so einfachen und zusammengeschlachterten Film wie "RESURRECTION" ist in Titeln wie
T4 : TO KATUSCHA, THE TOSSED-OFF BLOSSOM REPRESENTS THE FUTILITY
OF DIMITRI'S ADMIRATION
etwas von der Hoffnung auf das, was Film einmal sein könnte, zu entdecken, eine gerichtete, Allegorien umfassende Raffinesse, von der Lumière zehn Jahre zuvor sich nichts hatte träumen lassen, und von der in Unternehmungen wie Schlöndorffs Proustverfilmung nicht einmal mehr geträumt wird. Tatsächlich hat Film dieses Versprechen bis heute nur in ein paar hohen Momenten einzulösen verstanden. Dafür aber hat er manches andere übererfüllt.
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Gerade an "RESURRECTION" kann man den erstaunlichen Weg ermessen, der im Film von damals bis heute gegangen ist. Das ist es, was ich die enorme Leistung nenne, der dieses Buch gewidmet sein soll. Gemessen an dem, was Menschen sonst so im Umfeld von Film anstellen, kann dieser Weg nicht geplant oder das Resultat koordinierter Bemühungen gewesen sein - diese Entwicklung war ein sogenannter Selbstgänger. Hinter ihr muß sich etwas verbergen, was den Fortschritt wie von selbst steuerte, und wir wollen versuchen, einiges davon herauszufinden.
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"RESURRECTION" hat im wesentlichen die Form
EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : ... usw.
Diese Filmform ist die einfachste, die unterschiedliche repräsentative Einstellungen miteinander verbindet. Zugleich ist sie die erste Filmform, die eine systematische und seriell herstellbare Produktion narrativer Filme ermöglicht. Mit ihr können sogar einander eigentlich fremde Einstellungen so verbunden werden, daß sich ein "sinnvolles" Handlungsgefüge daraus ergibt. Alle aus den Bildern nicht ablesbaren Beziehungen können durch Titel beschrieben werden. Und das kann wie bei folgendem Titel
T17 : SHE REFUSES TO RETURN, PREFERRING TO WORK OUT HER SALVATION
BY RENOUNCING THE WORLD FOR THE PATH OF DUTY
eine ganze Menge sein, gemessen jedenfalls am dazugehörigen Bild, auf dem man bloß eine im Schnee stehende, ansonsten nichts tuende Person wahrnehmen kann. Mit einem solch effektiven Verfahren, das sogar aus Mist im Notfall Gold zu machen verstand, konnte die Filmproduktion zu einem Sektor vollindustrieller Produktion werden, und das verrät auch die Zahl von über dreihundert Kurzfilmen die Griffith zwischen 1907 und 1911 drehte.
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Es ist kein Zufall, daß mit dem Vorhandensein dieser Filmform die erste Kapitalkonzentration im Filmgeschäft begann. Mit der Motion Picture Patents (MPPC) entstand das erste horizontale und vertikale Monopol der Filmgeschichte, an dem sich alle späteren Konzentrationsprozesse orientierten.
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Mit dieser Filmform kann jeder literarische Stoff in ein Filmscript verwandelt werden. Man benötigt nur Leute, die Lesen und Schreiben können und ein gewisses Gefühl für dramatische Formen haben - von denen gibts immer genug. Dies garantierte zu Zeiten des frühen Griffith einen unbegrenzten Zustrom geistigen Rohmaterials, auf dem sich eine industrielle Produktion gründen konnte. Jeder drittklassige Schauspieler konnte wegen der Dominanz der Totalen Darsteller in diesen Filmen sein (dieses "Drittklassige" tat im übrigen den Filmen gut). Für die Realisierung ließ sich auf Regisseure mit ein wenig Theatererfahrung zurückgreifen, sie mußten nur bereit sein, schnell zu arbeiten und durften keinen Kunstanspruch haben. Die Produktion blieb billig, da bei solchem Qualifikationsprofil keine hohe Löhne gezahlt zu werden brauchten. Gegenüber den Kinos wurde dagegen eine Art Monopolpreispolitik durchgesetzt. Die Existenz dieser Filmform als eine Art Notanker, auf den man immer zurückgreifen konnte, machte die Filmproduktion zu einem kalkulierbaren Risiko, bei dem auch beim Mißglücken etwas herauskommen würde, und so entstand die für die weitere Entwicklung der Filmform, die vor allem vom Werk Griffiths in den Jahren 1907 bis 1911 ausging, notwendige Akkumulation von Kapital. Wenn auch die weitergehende Entwicklung gegen die MPPC durchgesetzt werden mußte, da sie in einer dümmlichen Verkennung der Richtung des Ganzen auf ihrer Kurzfilm- und Niedriglohnpolitik beharrte und das Starsystem nicht akzeptieren wollte, begann doch das Bankkapital sich für die Geldanlage im Filmgeschäft zu interessieren, und es nicht nur als riskantes Glücksspiel zu behandeln.
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Man könnte meinen, bei der Form von "RESURRECTION" handelte es sich - weil sie ja so einfach ist - um eine Primitivform, aus der heraus sich das Griffithsche Erzählschema ganz logisch entwickelte, aber das Gegenteil ist wahr: es gab zur gleichen Zeit schon sehr viel kompliziertere Filme. Die Form von "RESURRECTION" ist eine Reduktion und man sieht das auch: wir erwähnten schon den raffinierten Titel mit dem Versprechen, und das ganze ist voll von einem erstaunlichen Wissen um dramatische Zusammenhänge - gespeist natürlich von den Erfahrungen im Umgang mit dem Geschichtenerzählen aus der Literatur. Trotz dieser Einfachheit ist es, wenn man von Lumière, Edisons oder selbst von Méliès Filmen ausgeht, ein enormer Schritt bis hin zu dieser Form.
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Von heute gesehen erstaunt das Tempo, mit dem sich das narrative System entwickelte. Von der Erfindung des Films bis zu "Intolerance", dem Film von Griffith, der das Ende der entschlossenen Weiterentwicklung markiert, von 1896 also bis 1916, vergingen gerade mal zwanzig Jahre. Für jemanden, der als Jugendlicher um 1960 Nouvelle Vague Filme gesehen hat und sich davon eine ähnlichen Sprung in der Entwicklung des Films erhoffte, war der Rest der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eher enttäuschend.
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Im übrigen ist die Filmform von "RESURRECTION" heute keineswegs so überholt, wie man vielleicht denken könnte. Es ist die im Dokumentar- und Tagebuchfilm auch heute noch übliche, bis auf den Unterschied, daß Titel nicht mehr gelesen werden müssen, sondern als Kommentar im off zu hören sind. Eigentlich überrascht weniger, daß diese in sich vernünftige Form noch existiert, erstaunlich ist eher, daß und wie das narrative System es geschafft hat, sich ihrer zu entledigen. Denn diese Form wäre auch im narrativen Kino in Bezug auf Effektivität - in, sagen wir mal, der Inhaltsvermittlung - keineswegs überholt. Ich bezweifele, daß ein narratives Bildsystem mit noch so viel technischem und finanziellen Aufwand jemals die Effektivität des folgenden Zwischentitels erreichen kann:
T8 : DIMITRI REALIZES THAT HER PLIGHT IS HIS FAULT: AT THE TRIAL
HE PROTESTS, WEAKLY. THE PROCEEDINGS ARE A PARODY
Die Zwischentitel in den Filmen verschwanden jedenfalls nicht, um irgendeinen Informationsfluß zu optimieren. Verglichen mit der Schrift ist der narrative Film ein denkbar schlechtes Informationssystem.
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Schauplatz eines Films der Form
EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : ... usw.
ist potentiell die ganze Welt. Faktisch blieben die Schauplätze im wesentlichen dennoch auf die Dekorationen in den Studios beschränkt. Wollte man die Kosten eines Films niedrig halten, waren Außenaufnahmen ein riskanter Luxus. Transport, Gagen, und das Warten auf gutes Wetter machten eine einzige Einstellung unter Umständen kostspieliger als einen ganzen, nach dem Drehbühnenprinzip hergestellten Film im Studio. Viele Außenaufnahmen haben im Gegensatz zu den Interieurs auch nicht die angenehme Eigenschaft, daß sich in ihnen Personen beliebig oft zwanglos treffen und interessant miteinander interagieren können, und können daher in einem Film häufig nur ein, zweimal benutzt werden. Ein Interieur dagegen kann dem ganzen Arsenal der Theaterinteraktionen zwanglos zu einem Ort verhelfen. Trotz des ungeheuren Potentials beschränken sich daher die auf unsere Filmform zurückgreifenden frühen Filme auf billig zusammengeschreinerte Interieurs und gemalte Außendekorationen mit nur gelegentlichen Einsprengseln von Außenaufnahmen. Auch heute ist es oft billiger, etwas im Studio neu bauen zu lassen, als an einem Originalschauplatz zu drehen. Die Filmindustrie zog zwar wegen des guten Wetters von New York nach Hollywood, doch das geschah nicht so sehr wegen der Möglichkeit von Außenaufnahmen, es ging um Licht. Weil die damaligen Scheinwerfer nicht stark genug für das wenig empfindliche Filmmaterial waren, hatten die Studios offene Dächer. Wenn bei Regen die Glasdächer geschlossen werden mußten, war man auch innen schon am Rand einer Katastrophe.
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Wir wollen nun das Modul xi : Tij : xj genauer untersuchen, wobei Tij ein Titel ist, der die beiden repräsentativen Einstellungen xi und xj verbindet. Dazu zerlegen wir Formel den Titel Tij in einen Bestandteil TRZij , der die Raumzeit-Verbindung zwischen xi und xj beschreibt und in einen Rest TRest ij :
Tij = TRZij : TRest ij
Dies stellen wir uns so vor, daß erst der eine Titelanteil zu sehen ist und dann der andere. Da die Zerlegung künstlich ist, nehmen wir an, daß es auf die Reihenfolge nicht ankommt. Der Titel
T6 : FIVE YEARS LATER - IN A LOW TAVERN
hätte zum Beispiel die Zerlegung
TRZ6 = FIVE YEARS LATER - IN A TAVERN
und TRest 6 muß den Tatbestand enthalten, daß es sich bei der Kneipe um eine der niedrigeren Gesellschaftsschichten handelt, das ist nicht so sehr eine geographische als eine soziale und inhaltliche Eigenschaft.
Manche Titel haben natürlich keinen Raumzeit-Anteil und bestehen nur aus diesem Rest:
T11 : "I AM TO BLAME AND WILL SEE THAT YOU ARE PARDONED"
Andere wiederum bestehen nur aus diesem Raumzeit-Anteil wie zum Beispiel der schlichte Titel
"7 JAHRE SPÄTER IN PARIS". Den nichtraumzeitlichen Anteil eines Titels nennen wir im folgenden den inhaltlichen Bestandteil.
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Etwas bislang noch nicht Berücksichtigtes, was auch mit Zeit zu tun hat, ist, daß das Geschehen einer neuen Einstellung für uns als Zuschauer wie selbstverständlich zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet als das einer vorhergehenden. Das klingt trivial, aber genau dies und die Möglichkeit, daß man es als Zuschauer zunächst einmal glaubt, ist die Voraussetzung dafür, daß das Erzählen funktioniert. Keiner der Filmerfinder hat davon ausgehen können. Seit ihren uns bekannten Ursprüngen gab es in der Kunst zwar schon ein Nebeneinander, das sich für einen Betrachter in ein zeitliches Nacheinander verwandeln sollte, schon in manchen Höhlenmalereien, und in zahllosen Beispielen noch in der Malerei der Renaissance, ganz wenige davon wiesen aber die zeitlich geordnete Rigidität geschnittener Filme auf. Tatsächlich handelte es sich bei den frühen Bildwerken unserer Kultur oft um ein für heutige Begriffe sehr merkwürdiges Nebeneinander von Verschiedenzeitigkeit in einem einzigen Bild. Hatte ein solches etwa das Leben eines Heiligen zum Thema, wurden nicht selten verschiedene Phasen seiner Vita an verschiedenen Orten dieses Bildes dargestellt, ohne daß man für nötig hielt, die verschiedenen Zeiten durch Rechtecke oder ähnliches voneinander zu trennen. Derartige Verschiedenzeitigkeit in einem einzigen Bild gibt es im Film nicht mehr, auch nicht die relative Ungeordnetheit der in gerahmten Teilbildern nebeneinanderstehenden Zeitgefüge, wie sie in vielen mittelalterlichen Mosaiken und Fresken, (etwa denen Cimabues und Giottos in Assisi), erhalten ist (die rigide Zeitordnung der Mosaiken in den Kuppeln von San Marco in Venedig, welche das dort Entstandene zu einer Frühform des Kinos macht, bildet die Ausnahme) - aber man brauchte im Mittelalter auch noch keine sorgfältig gesetzte Zeitstruktur: jede mögliche Bildanordnung wurde durch die Erzählungen der Kirchengeschichte und der Bibel als im Hintergrund befindliches Ordnungssystem stabilisiert.
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Oft wirken Titel über die folgende Einstellung hinaus und sind dann formal Bestandteil eines späteren Titels. In "RESURRECTION" gibt es zum Beispiel das System
x5 : T13 : T14 : x5 : T15 : x6
wobei x5 ein Gefängnis und x6 eine Landschaft in Sibirien darstellt. T14 nun heißt:
"BUT NOW, THE POLICE ARE READY TO TAKE HER TO A LIFE OF HARD LABOR IN SIBERIA"
woraufhin man in x5 sieht, wie die Polizei Katuscha abführt. Dann erscheint T15 :
"KATUSCHA TRIES TO HELP THE POOR UNFORTUNATES WHO SHARE HER FATE"
und man erkennt sie danach in der "sibirischen" Einstellung x6. Dabei muß in der Raumzeit-Verbindung von x5 zu x6 die Information aus T14 berücksichtigt werden, daß es eben ab nach Sibirien geht. Bei den Raumzeit-Verbindungen zwischen zwei Einstellungen werden also auch vorher erschienene Titel berücksichtigt, etwa in der Art, daß sie eine Zeitlang gespeichert und dann, wenn sich der betreffende Schnitt ereignet, abgerufen werden.
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Diese Struktur ist auch in heutigen narrativen Filmen häufig zu beobachten. Im Lauf eines Gesprächs können wir zum Beispiel erfahren, daß einer der Darsteller vorhabe, in der nächsten Woche nach Rom zu fahren. Nehmen wir ihn einige Zeit später in einer Umgebung wahr, die einen Ort in Rom repräsentieren könnte, wird in unserem Kopf der gespeicherte Raumzeit-Titel abgerufen und wir interpretieren "EINIGE WOCHEN SPÄTER IN ROM". Solche dialogvermittelten Raumzeit-Verbindung braucht man kaum von der durch einen Titel an der richtigen Stelle vermittelten zu unterscheiden.
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In der entwickelten narrativen Filmform von heute sind Zwischentitel selten. Meist werden sie durch Dialoge vermittelt, ab und zu tauchen sie aber doch noch auf: bei größeren Orts- oder Zeitsprüngen und oft auch in den Anfangsbereichen von Filmen, wenn weit auseinanderliegende Handlungsgefüge durch Titel einen Scheinzusammenhang erhalten. Oft vertreten repräsentative Einstellungen einen Zwischentitel, ein Bild der Tower Bridge oder von Big Ben mit Glockengeläut kann zum Synonym von "LONDON" werden. Nur aus dem inhaltlichen Bestandteil bestehende Titel dagegen gibt es dagegen kaum noch, sie sind voll in den Dialog übergegangen oder es ist gelungen sie visuell so differenziert darzustellen, daß sie nicht mehr auftauchen müssen. Jetzt, in den neunziger Jahren, tauchen wieder häufiger off-Erzähler auf. Ein solcher Erzähler ist zwar "unfilmisch", man hat aber begriffen, daß sich mit ihm gelegentlich doch kompliziertere Sachverhalte darstellen lassen, als mit dem bloß "filmischen" Erzählen. Dies ist ein Zeichen des Verfalls des erzählerischen Kinos, und hängt mit dem Bemühen um differenzierteren Ausdruck zusammen.
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Wenn wir in der uns jetzt schon so gut bekannten Filmform
F = EINSTELLUNG : TITEL : EINSTELLUNG : TITEL : ... usw.
von den inhaltlichen Titelbestandteilen absehen, bleiben nur die Raumzeit-Titel übrig und wir haben eine Form der Gestalt
F = EINSTELLUNG : TRZ : EINSTELLUNG : TRZ : EINSTELLUNG : TRZ : ... usw.
in der Raumzeit-Titel jeweils zwei Einstellungen verbinden und die räumlichen Bezüge zwischen ihnen herstellen. Eine der Hauptleistungen des narrativen Systems besteht darin, die explizite Darstellung der Raumzeit-Zwischentitel überflüssig gemacht zu haben. Und zwar ohne daß wir als Zuschauer unsere Raumzeit-Orientierung verlieren, sie im Gegenteil sogar noch verbessert wahrnehmen können. Die Filmform wird dann zum trivialen System
F = EINSTELLUNG : EINSTELLUNG : EINSTELLUNG : ... usw.
und es gibt in jeder Einstellung eine Reihe von Hinweisen, die den raumzeitlichen Anschluß an das Vorherige vermitteln.
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Wir stellen uns ein Wahrnehmungsmodell vor, in dem sich diese Hinweise im Kopf des Zuschauers zu einem Raumzeit-Operator verdichten, der die nötige Beziehung zwischen den Raumzeit-Segmenten vermittelt. In einer solchen Terminologie würden wir die Untersuchung des narrativen Systems als weitgehend identisch mit einer Analyse der in ihm möglichen Darstellungen von Raumzeit-Operatoren begreifen.
Bezeichnen wir mit ORZ einen Raumzeit-Operator nimmt dann die Filmform die folgende Gestalt an:
F = EINSTELLUNG : ORZ : EINSTELLUNG : ORZ : EINSTELLUNG : ORZ : ... usw.
Von diesen Raumzeit-Operatoren erwarten wir, daß sie sich kurz nach dem Schnitt aus gewissen den Einstellungen entnehmbaren Hinweisen in unserem Kopf zusammensetzen, um dann die raumzeitlichen Verbindungen zwischen den einzelnen Einstellungen zu vermitteln. Auch die Form
F = EINSTELLUNG: TRZ :EINSTELLUNG: TRZ :EINSTELLUNG: TRZ :... usw.
können wir als mit diesem Prinzip arbeitend begreifen, wenn wir annehmen, daß aus den geschriebenen Titeln erst Raumzeit-Operatoren entstehen.
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Die Raumzeit-Operatoren werden nicht ausschließlich durch die Einstellungen bestimmt, von denen sie direkt gerahmt sind. Wie bei Zwischentiteln können vorher auftauchende Hinweise einen Raumzeit-Operator modifizieren. Derartiges nennen wir eine Retardierung. Ebenso ist möglich, daß ein einmal etablierter Raumzeit-Operator einen späteren beeinflußt. Das ist der Fall bei den Rückschnitten.
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Das Entstehen der Raumzeit-Operatoren verlangt die Vorstellung möglicher Nachbarschaft zweier Einstellungen und ihre Analyse. Als möglich empfundene Nachbarschaftsbeziehungen erzeugen mögliche Raumzeit-Operatoren, die durch weitere Hinweise zu tatsächlichen werden und mögliche Nachbarschaftsbeziehungen in ebenso tatsächliche verwandeln. Dieser Prozeß findet miteinander wechselwirkend sowohl auf der Ebene der räumlichen als auch der zeitlichen Nachbarschaften statt.
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Es ist nicht leicht, die sich bewegenden Bilder eines Films zu beschreiben. Schon die Beschreibung eines einzelnen Bildes hat zwar eine jahrhundertelange Tradition, bleibt aber ungenau und ist vor allem eine Betonung des vom Betrachter als wichtig Empfundenen. In keinem Fall ist sie ein Äquivalent des Bildes, obwohl auch so etwas gelegentlich wie durch ein Wunder sich einstellt:
Der Garten Daubignys
im Vordergrund grün und rosa Gras
links ein Gebüsch grün und lila und ein Baumstumpf mit weißlichem Laub In der Mitte ein Rosenbeet. Rechts ein Gatter eine Mauer und die Mauer überragend ein Haselnußstrauch mit violettem Laub.
Dann eine Fliederhecke eine Reihe kugelförmig geschnittener gelber Linden. Das Haus selbst im Hintergrund rosa mit einem bläulichen Ziegeldach. Eine Bank und 3 Stühle eine Gestalt in Schwarz mit gelbem Hut und im Vordergrund eine schwarze Katze
Himmel grün blaß .
Doch selbst, wenn Bildbeschreibungen wie in diesem Text van Goghs (Anlage zu Brief Nr. 651 vom 23. Juli 1890; neu übersetzt unter Berücksichtigung der ursprünglichen Zeichensetzung und der Leerräume zwischen manchen Worten und Sätzen) durch das Erfassen der Essenz mehr als gelingen, erwachsen durch das Bewegungsphänomen derartig viele neue Schwierigkeiten, daß Sprache, gemessen am Anspruch, Wirklichkeit einigermaßen präzise wiederzugeben, verzweifeln muß. Weder grobe Bildvereinfachungen noch erschöpfende Beschreibungslänge können dies Problem lösen.
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Haben wir zum Beispiel zwei Personen vor uns, die relativ unabhängig voneinander verschiedene Handlungen ausführen, zwingt die Gleichzeitigkeit ihrer Handlungen immer wieder zu Konstruktionen folgenden Typs: "Während A dies tut, macht B jenes", die sich derart häufen, daß die Handlungen von A und B als in sich geschlossene, voneinander unabhängige Vorgänge kaum noch begriffen werden können. Wird andererseits erst die Handlung von A und dann die von B beschrieben, begreifen wir zwar die einzelnen Vorgänge, verlieren aber jede Information über die Querverbindungen zwischen ihnen. Dieses Problem ist repräsentativ für die Schwierigkeiten einer Literatur, die sich als objektiv beschreibend versteht, denn es erscheint auch bei jedem Beschreiben von sozialer Wirklichkeit, die - das ist ihre Natur - eine Unmenge gleichzeitiger Prozesse enthält. Der Roman des neunzehnten Jahrhunderts hat als Antwort darauf eine Form entwickelt, die noch heute als Prototyp realistischen Schreibens figuriert.
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Bei Balzac etwa lesen wir :
"Ist es so gut?" fragte der Advokat und reichte Thuillier das Blatt hin. "Vollkommen," erwiderte dieser, faltete vorsichtigerweise den Brief selbst zusammen und schloß den Umschlag: "jetzt adressiere," fügte er hinzu.
Und der Brief wanderte in le Peyrades Hände zurück.
Und eine Seite später:
Als sie allein waren, nahm le Peyrade eine Zeitung zur Hand und schien sich in ihre Lektüre zu vertiefen.
Thuillier, der angefangen hatte, ziemlich unruhig bezüglich der Lösung der Frage zu werden, bedauerte, daß ihm eine andere Idee zu spät eingefallen war.
"Ja," sagte er sich, "ich hätte den Brief lieber zerreißen und es mit der Erbringung des Beweises nicht so weit treiben sollen."
(H. de Balzac, "Die Kleinbürger", Rowohlt Berlin, deutsch von Hugo Kaatz, Band 2, S. 239/240)
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In der "realistischen" literarischen Konstruktion der Gleichzeitigkeit wird also erst A eine Weile verfolgt und dann B, wobei wir zuweilen Informationen über das bekommen, was A tut, während wir B beobachten, und umgekehrt. Das Verfahren ist das einer raschen Parallelmontage, in der die "wesentlichen" Bewegungsphasen enthalten sind und die "unwesentlichen" weggelassen werden. Bei literarischen Konstruktionen fällt einem das kaum auf, schließlich sind die Gleichzeitigkeiten darin ja nur ausgedacht; den Ansprüchen einer realistischen Rekonstruktion von Wirklichkeit jedoch genügt das nicht, denn: Was macht eigentlich le Peyrade, nachdem er Thuillier sein Blatt gereicht hat? Was tut Thuillier, während ihm le Peyrade das Blatt zurückgibt?
Oder schärfer noch:
Was heißt eigentlich, daß le Peyrade eine Zeitung zur Hand nahm und sich in deren Lektüre scheinbar vertiefte, während Thuillier schon angefangen hatte, ziemlich unruhig bezüglich einer bestimmten Frage zu werden?
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Diese "realistische" Konstruktion, die bei der Verfolgung eines Ping-Pong-Spiels vorzüglich funktioniert, und deshalb, weil die menschliche Wirklichkeit höchst selten wie ein Ping-Pong-Spiel organisiert ist, im modernen Roman meist nur noch als Travestie zu beobachten ist, feiert im narrativen Film eine Art Auferstehung. Sie bestimmt seine Struktur und ist verantwortlich für das eigentümliche Mißverständnis, nach dem narrative Filme häufig als "realistischer" begriffen werden als Wirklichkeit selbst.
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Voraussetzung für das Funktionieren dieser Konstruktion ist die radikale Zerstörung der verwirrenden Gleichzeitigkeit der einzelnen Einstellung, die im Film ja Wirklichkeit repräsentiert. Je deutlicher die Gleichzeitigkeitsstruktur der Wirklichkeit in der einzelnen Einstellung zerstört wird, desto glaubwürdiger erscheint ihre Wiedergeburt in der "realistischen" Konstruktion. Hier entdecken wir eine der Wurzeln der Degeneration des Darstellers zu einer Person mit beschränkten Bewegungsmöglichkeiten.
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In dem, was uns von Méliès Film "VON PARIS NACH MONTE CARLO" aus dem Jahre 1905 erhalten ist, beobachten wir das Prinzip dieser Zerstörung. Der Film ist knapp 6 Minuten lang und hat, wenn wir die einzelnen zum Teil durch Stoptricks hergestellten Szenen als in sich realistisch begreifen, 12 verschiedene Einstellungen, die jeweils einmal erscheinen. In diesen Einstellungen sehen wir Dutzende von Personen, die eine zum Teil unbeschreibbare Aktivität entfalten. In jeder dieser schwarzweißen Einstellungen erscheint dann nach einer gewissen Zeit der Hauptdarsteller des Films, ein nachträglich von Hand rot koloriertes Automodell, das sich von rechts nach links durchs Bild bewegen will - von Paris nach Monte Carlo. Die Geschichte des Films ist die Geschichte der Hindernisse, die sich dieser roten Ungeheuerlichkeit auf seinen Vordringen in den Weg stellen. Was immer sich an Aktivitäten auf seiner Bahn entfalten mächte, wird von ihm mit fataler Konsequenz gerammt, überrollt und zerstört. Weil das Auto seinen Weg von rechts nach links nehmen muß, um in der nächsten Einstellung wieder auftauchen zu können. Um die Bildaktivitäten ist es jedoch schon vor ihrer physischen Zerstörung geschehen. Denn was immer sich in den einzelnen Einstellungen an gleichzeitiger menschlicher Aktivität offenbart, wird in dem Moment vernichtet, an dem das Auto im Bild erscheint, weil sich das Auge des Zuschauers reflexhaft diesem wegen seiner Kolorierung stark von seiner Umgebung unterschiedenden Objekt zuwendet. Die übrigen Bildgeschehnisse werden zu Atmosphäre und haben, wenn sie die Bewegung des Helden nicht unterstützen, nur noch die Funktion, von ihm möglichst spektakulär vernichtet zu werden. Der Held besiegt die komplizierte Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit und damit die Wirklichkeit selbst: zuerst im Auge, und anschließend physisch. Dies ist bis heute eine der wesentlichen Botschaften des narrativen Films - und die kann man nun wirklich nicht am nächsten Telegraphenamt aufgeben, ohne Gefahr zu laufen, vom Empfänger der Botschaft ausgelacht zu werden.
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(aus "Von Paris nach Monte Carlo")
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Darsteller in Filmen haben also nicht nur die Eigenschaft, den Raum hinter sich zu verdecken und unser Auge so für die Fortsetzung einer Einstellung nach innen zu schulen, sondern sie helfen auch, sehen sie auffällig genug aus, das Gleichzeitigkeitsproblem der einzelnen Einstellung zu lösen. Mit dem Erscheinen des Hauptdarstellers wendet sich die Aufmerksamkeit diesem zu, gleichgültig ob er groß im Bild ist oder nur Punkt in einer weiten Totalen. An diesen Reflex koppeln sich die Konstruktionen des narrativen Systems. Sowie ein Bild erscheint, wird es vom Zuschauer hierarchisiert und daraufhin untersucht, ob ein Hauptdarsteller zu entdecken ist. Erst nach der Beantwortung dieser Frage wendet sich die Aufmerksamkeit anderen Bildteilen zu. Dann entfaltet der Hauptdarsteller freilich oft eine derartige Aktivität, daß er die Hintergrundeinzelheiten überspielt. So daß wir die vielfältigen Details nur sorgfältig betrachten können, wenn wir das Risiko in Kauf nehmen, die folgende Handlung nicht mehr zu begreifen. Eine der Voraussetzungen für das Funktionieren des narrativen Systems ist der flüchtige Blick, der sich einbildet, einen abgebildeten Vorgang trotz aller Flüchtigkeit erfaßt zu haben. In diesem Sinne möchte unser Auge im Kino betrogen werden.
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Man kann sich fragen, was das soll. Da wird sehr viel Geld in diese Totalen gesteckt - der sogenannte "production value" - dann erscheint der Hauptdarsteller, und man ist gar nicht mehr in der Lage, auf all die teuren Details zu achten. Und in der Tat hat es lange gedauert bis solch beiläufiger Luxus im Film selbstverständlich wurde. Bis zum ersten Weltkrieg waren die Filme darum bemüht, dem Zuschauer jeden ausgegebenen Dollar mit einem Ausrufungszeichen vor Augen zu führen, manche Produzenten waren sich nicht einmal zu blöde, die Kosten einzelner Einstellungen in den Zwischentiteln anzugeben oder den Namen ihrer Firma auf Möbelstücke zu schreiben, damit der Zuschauer erfuhr, daß sie eigens für diesen Film und teures Geld angeschafft wurden. Weil Betrug und Täuschung das Prinzip des Kinos ist, wollte man zeigen, daß der Zuschauer zumindest in finanzieller Hinsicht von dem Produzenten nicht betrogen wurde: man bekam etwas für sein Geld.
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Ebenso oft habe ich mich gefragt, wie es kommt, daß man so schnell selbst in Totalen eines arabischen Marktes bekannte Darsteller zu entdecken vermag - nicht etwa nur eine auffällig gekleidete Frau, das wäre nicht weiter rätselhaft. In einem Kamerahandbuch habe ich einmal Regeln dafür gefunden, präzise Angaben über Diagonalenstruktur, Bewegungsrichtung, Tempo und ähnliches.
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Der an Darstellern orientierte Sehreflex des Zuschauers veränderte die Produktionsweise von Filmen. Aus ihm entwickelte sich das Starsystem und die daran gekoppelten für damalige Verhältnisse monströsen Darsteller-Gagen. Sobald diese bekannt wurden - sie waren so unverschämt, daß sie im Bewußtsein des Zuschauers schon beim Kauf der Eintrittskarte festsaßen - brauchten die Produktionskosten im Film kaum noch erwähnt zu werden. Meist beginnt ein Film erst richtig, wenn sein Star erscheint. Das sich zuvor Abspielende darf man übersehen: es wird der Hauptfigur schon noch einmal erklärt werden. Der Auftritt des Stars bildete den eigentlichen Anfang eines Films.
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Das unterscheidet das Heldenprinzip des Films auch von demjenigen des Romans. Ein Roman erfindet seinen Helden, zu Anfang weiß man nichts über ihn. Ein Film verfügt über ihn schon, bevor das Drehbuch geschrieben ist. Und Filme, die keine Stars haben, können nur hoffen, daß ihre Schauspieler irgendwann zu Stars werden, sonst haben sie es schwer.
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Die Verbindung des Starsystems zu bürgerlichen Ideologien ist nicht verborgen geblieben. Sozialkritische Beschreibungsversuche des Starsystems hat es immer schon gegeben. Übersehen wird dabei aber zumeist die innige Verbindung, welche diese Ideologie mit der Form selbst eingegangen ist. Das Hauptdarstellerprinzip ist wichtige Voraussetzung für die Aufbereitung von Ereignisfolgen. Erst das Starsystem sorgte für eine so nachhaltige Zerstümmelung der Gleichzeitigkeit, daß ihre filmische Rekonstruktion durch die Parallelmontage selbstverständlich wird.
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Diese Art Reflex beim Betrachten filmischer Wirklichkeit ist in der Wirklichkeit selbst kaum vorhanden. In ihr begegnen wir nur selten Stars, ihr Äquivalent könnten höchstens uns plötzlich interessierende Personen oder Bekannte sein. Bei der Begegnung mit einem Bekannten, mit dem man in ein Gespräch kommt, wird diese Person jedoch bald zu einem Teilphänomen unter all den anderen Details, die man während eines Gesprächs wahrnimmt. Selbst die meisten Sätze eines solchen Gesprächs gehen unter in dem Strudel eigener Gedanken, der das Leben ausmacht und in dem von der äußeren Welt zugleich alles Mögliche und nichts wahrgenommen wird. Anders als der Star in einem Film ist das Aussehen eines Gesprächspartner nur winziger Bestandteil der in einem Gespräch erlebten Welt.
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Im Film ist diese darstellerfixierte Sehweise dagegen Teil des Wahrnehmungsprozesses: in jedem Film neu dressiert, ist sie Voraussetzung für das Verständnis seiner Raumzeit-Konstruktionen. Trotz ihrer offensichtlichen Widernatürlichkeit stellt die Entdeckung dieser filmspezifischen Sehweise und ihrer Konsequenzen eine enorme Leistung dar, die lohnt, sie zu verstehen, zu unterrichten und zu bewahren. Den Menschen - das habe ich aus der Physik gelernt - erschließen sich nicht jeden Tag neue Ordnungssysteme. Gerade in der modernen Physik wird oft versucht, schon abgeschmetterte Ideen in Bereichen, für die sie ursprünglich gar nicht gedacht waren, erneut auszuprobieren, manchmal bloß um zu sehen, ob die rechnerischen Konsequenzen in die Nähe der Messungen fallen. Selbst Irrtümer enthalten häufig vielversprechende logische Ansätze. Erstaunlicherweise scheint selbst die Zahl der menschlichen Irrtümer zu klein zu sein, um in allem befriedigende Interpretationen des Wirklichen zu liefern. Und das narrative System ist ein wirklich überraschendes Geschenk, von dem niemand bei der Erfindung der Photographie ahnen konnte, daß es überhaupt existierte. Nur ein paar Buch- und Wandmalereien und aus dem frühen Mittelalter stammende Mosaiken deuteten vage in die Richtung dessen, was da kommen konnte.
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Das Wandern des Auges, dem die van Goghsche Beschreibung seines letzten Bildes folgt, enthält eine Zeitkomponente, obwohl es in dem Bild selber gar keine Bewegung oder vergehende Zeit gibt. Die Beschreibung tastet sich vorwärts und dabei erschließt sich das Bild nur allmählich - obschon als Ganzes vorhanden, ist es als solches nicht wahrnehmbar, und insofern ähnelt diese Beschreibung tatsächlichem Etwas-Erkennen. Balzacs Konstruktion hat im Vergleich dazu eine weit größere Gerichtetheit. Zugleich ist sie sorgloser, und im Grunde überzeugt, daß auch eine schlechte Beschreibung beim Leser die Wirklichkeit entstehen läßt. Als wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Dieses Vertrauen in die selbstverständliche Existenz der Wirklichkeit hat van Gogh nicht mehr, in ihm kündigt sich schon die Moderne an, in der violettes Laub und blaßgrüne Himmel als Wahrnehmungsparameter die gleiche Plausibilität annehmen wie die photorealistische Wiedergabe eines Geschehens.
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Während im realistischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts die abstrakte, vereinfachende Darstellung gleichzeitiger Vorgänge wegen der eindimensionalen Imperfektion der Sprache eine enorme Errungenschaft darstellte, ist ihre formale Übertragung auf Film leider auch ein Rückschritt. Denn Film besitzt im Prinzip ja schon die Fähigkeit der gleichzeitigen Abbildung. Vielleicht aber sind wir als Zuschauer von dieser Gleichzeitigkeit überfordert und sehnen uns nach einer Art Zeigefinger in ihrer Komplexität. Dieser Zeigefinger verwandelt die alogische Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit in das logisch erscheinende Nacheinander des von der Literatur gelieferten Modells. So wird es uns möglich, Filme nach dem literarischen Code des neunzehnten Jahrhunderts herzustellen, zu betrachten, zu beschreiben und zu beurteilen. Ach, die lieben Inhaltsangaben! Daß wir auf diese Weise über nur am Rand Narratives wenig zu sagen wissen, kann nicht erstaunen. Aber das gilt auch für statische Bilder, bei deren Beschreibung sentimental narrative Geschwätzigkeit immer häufiger das Wahrnehmen und Empfinden zu ersetzen sich bemüht. Ich wünschte, auch bei der Betrachtung von bewegten Bildern wird man einmal so lapidar empfinden können:
Eine Bank und 3 Stühle eine Gestalt in Schwarz mit gelbem Hut und im Vordergrund eine schwarze Katze
Himmel grün blaß .
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G. EXKURS: DER STARRE BLICK UND DIE POLITIK
Da bei der besprochenen Rekonstruktion der Gleichzeitigkeit in Form der "realistischen" Konstruktion sehr häufig Blicke auftauchen, lohnt es sich, die im ersten Kapitel angerissene Untersuchung des starren Blicks noch einmal unter diesem Gesichtspunkt aufzunehmen. Zunächst aber sollten wir darauf hinweisen, daß im Film noch eine Verbesserung dieser Konstruktion die Regel ist, und zwar durch das zwanglose Wirken der rahmenden Totalen, für die sich freilich auch literarische Äquivalente finden lassen. Gehen wir zum Beispiel davon aus, daß x1 wie in dem folgenden Diagramm eine Totale ist, die wie in diesem Diagramm x2 mit der Person A und x3 mit der Person B enthält,
dann wird ein Kinofilm häufig folgende Schnittfigur enthalten:
x1 : x2 : x3 : x2 : x3 : ... : x2 : x3 : x1
das heißt nach dem Erscheinen einer Totalen x1 , in der wir A und B entdecken, wird an die Person A im Raum x2 herangeschnitten und dann wie in Balzacs Roman zwischen A im Raum x2 und B im Raum x3 hin und hergeschnitten, bis schließlich wieder die rahmende Totale x1 erscheint, welche die räumlichen Verhältnisse stabilisiert.
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Dem entspricht in der Literatur folgende Figur (wieder aus "Die Kleinbürger" S 276-278):
x1 = "Als sie in den Salon trat, sah sie den Abbé Gondrin im Mittelpunkt eines großen Kreises, den fast die ganze Gesellschaft um ihn gebildet hatte, und als sie sich ihm näherte, hörte sie, wie er sagte:
x2 = "Ich danke dem Himmel, daß er mir diese Freude hat zuteil werden lassen...."
x3 = Den Arm unter dem ihrer Patin, stand Celeste einige Schritte von dem Priester entfernt. An seinen Lippen hängend, so lange er redete, preßte sie Frau Thuilliers Arm und sagte....
dann eine Reihe von Dialogen und schließlich:
x1 = Nach diesen Worten nahm der Abbé seinen Hut und verließ den Salon.
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Wird dabei die Beziehung zwischen A und B oft durch sich gegenseitig wahrnehmende Blicke gestützt, bezeichnet man die Unterfigur
x2 : x3 : x2 : x3 : ... usw.
auch als "Schuß-Gegenschuß-Verfahren", gerade als würden A und B statt Blicken Revolverkugeln austauschen. Das Bedürfnis nach dieser zusätzlichen Stützung der räumlichen Beziehungen ist der Grund der Häufigkeit der Blicke vom Typ der zweiten Starrheit im narrativen System. Da diese Schnittfigur systematisch in amerikanischen Filmen entwickelt wurde und immer noch benutzt wird, könnte man eine solche Zerlegung der Totalen mit anschließender Blickstabilisierung der räumlichen Beziehungen zwischen den Untereinstellungen auch die "amerikanische" Zerlegung der Wirklichkeit nennen.
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In einem interessanten Sinne vertritt der Politiker in einer repräsentativen Demokratie - der "representative" - ebenso eine Meinung, wie die repräsentative Einstellung einen Raum. Er wird dafür ins Parlament gewählt wie die Einstellung in einen Film. Im Blick eines solchen Politikers ist eine andere Starrheit als bei Stalin, er wartet auf den Gegenblick, und ist damit auf eine interessante Weise Vertreter der von uns erwähnten zweiten Starrheit. Das Nacheinander von Meinung und Gegenmeinung in der repräsentativen Demokratie mit anschließender Abstimmung hat also ein beinahe äquivalent scheinendes Gegenstück im narrativen System: Blick, Gegenblick und verbindende Totale.
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Daher ist der ein wenig starre das Beobachten ertragende Blick auch Kennzeichen einer offenen Demokratie, in der man zu seinen Ansichten steht und sich bemüht, sie einigermaßen vernünftig zu halten. Während das Warten auf den Gegenblick Ausdruck einer Sehnsucht ist, daß auch jemand anderes das als vernünftig einschätzt, was man sich als Ansicht abgerungen hat. Das Nacheinander ersetzt das Durcheinander gleichzeitiger Meinungen. Durch die Zerstörung der Gleichzeitigkeit und ihre Verwandlung in Nachzeitigkeit läßt sich interessanterweise das Feld der Meinungen besser aufspannen als durch direkte Darstellungen der Gleichzeitigkeit. Denn da es den Gegenblick gibt und mit ihm die entgegengesetzte Meinung, kann jeder Protagonist oder Politiker wagen, seine Meinungen extremer zu äußern, ohne Angst haben zu müssen, daß das Ganze aus dem Gleichgewicht gerät - man kann also verantwortungslos tun, ohne im Inneren verantwortungslos sein zu müssen. Vertritt jemand eine extremere Meinung, als er sie im Inneren für richtig hält, kann er darauf hoffen, daß sie durch eine Gegenmeinung korrigiert wird. Die Leidenschaft des Voyeurs dagegen, der einer Totalen gegenübersteht, ist maßlos, er gleicht einem Diktator, der die Totale beherrscht; auch in diesem Sinn kann man eigenartiger Weise das Wort totalitär begreifen.
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Insofern wäre dieser Montageform auch ein Ausdruck wie "rhetorische" Montage angemessen. Tatsächlich lassen sich manche Passagen aus Ciceros "orator", die auf die Gestentechnik des Redners gemünzt sind, leicht modifiziert ebensogut auf Darsteller, die sich in einem Schuß-Gegenschußverfahren gegenüberstehen anwenden: zuerst ist bei Cicero von der Stimmführung nach Lautstärke und Tonhöhe (vox), dann von den Ausdrucksgebärden, gegliedert nach Haltung (gestus) und Bewegung (motus) die Rede, wobei Ziel des gestus Sicherheit der Haltung und Bewegung von Rumpf und Gliedmaßen sind; mit den Kriterien: maßvolle Würde, Vermeidung zappeliger, affektierter Clownerien, Berechnung bis in die Fingerspitzen hinein (argutiae digitorum), Hervorhebung des Rhythmus durch Pochen mit den Fingerknöcheln aufs Pult. In diesem Zusammenhang findet sich auch die wichtige Regel: "In der Haltung: aufrechter Stand und Erhobenheit; seltene und nicht ausschweifende Schrittbewegungen...; keine koketten Nackenverdrehungen... Eher soll man mit dem ganzen Rumpf sich selbst ein Maß setzen und durch mannhafte leichte Beugung der Flanken, in der Erregung die Arme recken, sie wieder zurückholen in der Entspannung. Im Mienenspiel, das nächst der Stimme am meisten auszudrücken vermag, mögen Würde und Güte möglichst abwechselnd in Erscheinung treten. (Orator 59,f)
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Überhaupt ist unter den bekannten sprachlichen Ordnungssystemen die Rhetorik dem narrativen System vielleicht am meisten verschwägert. In Quintilians berühmter umfassender Darstellung der Redekunst würde heute auch auftauchen, wie Schnittrhythmus und durch ihn optimal zur Geltung gebrachte Körpersprache die Darlegung von Argumenten unwiderstehlich machen. Von da ausgehend könnte man viele Teile des narrativen Systems eher eine der üblichen Sprache aufgesetzte Rhetorik nennen als eine eigene Sprache, denn daß sie eine solche nicht ist, haben wir ja bereits einsehen müssen.
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Wenn x1 wieder eine Totale ist und x2 ein A enthaltender Ausschnitt wie in dem folgenden Diagramm,
dann wäre folgende Schnittfigur wichtigster Bestandteil der Ästhetik des Voyeurs:
x1 : x2 : x1 : x2 : ? usw.
das heißt die erzählerische Spannung zehrt von der Spannung zwischen Totale und dem Detail. Dies war in Edwin S. Porters "The Gay Shoe Clerk" bereits 1903 in frivoler Klarheit zu besichtigen, wo aus einer Totalen direkt in die Naheinstellung eines Damenschuhs geschnitten wird:
Am unmißverständlichsten wird der Spannungsbogen dieser Montageform, die wir aus naheliegenden Gründen als "voyeuristische Montage" bezeichnen wollen, vielleicht anhand pornographischer Situationen, sobald darin der Geschlechtsakt vollzogen wird. Dann verliert die "amerikanische" Zerlegung ihren Sinn, denn die Protagonisten sind gewöhnlich mit Handfesterem beschäftigt als dem Gegenseitig-sich-Anblicken. Daher bleibt pornographischen Filmen am Ziel ihrer Handlungsführung nichts übrig als dauernd zwischen der Totalen und den Details zu wechseln.
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Von voyeuristischer Montage könnte man aber auch sprechen, wenn folgende Situation vorliegt:
wenn also in den Unterausschnitten x2 und x3 der Totalen x1 keine Darsteller auftauchen, die durch Blicke oder ähnliches einen Bezug zueinander herzustellen versuchen. Dann wird in der Schnittfigur
x1 : x2 : x3 : x1
der Schnitt x2 : x3 ausschließlich durch die vorherige Einbettung beider Einstellung in die Totale x1 begriffen, das heißt von der im vorigen Abschnitt besprochenen voyeuristischen Grundstruktur.
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Die Entsprechung der Worte "total" und "totalitär" ist gewiß zufällig, obwohl seltsam anmutet, wie sehr sich zahlreiche deutsche Fernsehregisseure bis spät in die Achtziger Jahre gegen die systematische Zerlegung der Totalen in Parallelmontagen sträubten, obwohl sie den Erfolg wahrnahmen, den amerikanische Serien mit diesem Verfahren erzielten. Tatsächlich hatte auch der Ostblock Probleme mit der amerikanischen Zerlegung, ich weiß nicht ob aus Unkenntnis, oder ob tatsächlich irgendeine politische Grundüberzeugung dahinter stand. Die Zerlegung der Totalen
nimmt dann häufig folgende Form an:
x1 : x2 : x1 : x3 : x1 : x2 : x1 : ... usw. oder x1 : x2 : x1 : x2 : x1 : x3 : x1 : ... usw.
das heißt A und B werden, wenn sie sich anblicken, nicht direkt aneinandergeschnitten, sondern es wird gern die verbindenden Totale zwischengeschaltet. Da wir die systematische Aufeinanderfolge von Ransprung mit darauffolgendem Rücksprung schon aus der "voyeuristischen" Zerlegung kennen, könnte man diese Schnittfiguren als "halbvoyeuristisch" oder "halbamerikanisch" bezeichnen.
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Viele intelligente Filmmacher lehnen die "amerikanische" Zerlegung als zu plump ab, und arbeiten lieber halbamerikanisch oder voyeuristisch mit dominierender Totale. Vielleicht ist ihnen das demokratische Wechselspiel von Meinung und Gegenmeinung, ist ihnen der Kompromiß, der sich in der verbindenden Totalen äußert, ja doch nicht in Fleisch und Blut übergegangen, und so füllen sie die Totale mit all den Details und Requisiten ihrer Autorenherrlichkeit und glauben sie als Regisseure zu beherrschen wie Stalin die Sowjetunion.
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In diesem Sinne ist vielleicht nicht Walt Whitman der Sänger der amerikanischen Demokratie sondern das Hollywoodkino, das den Raum beschreibt, den die Demokratie sich verschafft. Leider werden die Meinungsträger in Amerika dadurch in ihren politischen Ansichten an einen gewissermaßen verallgemeinerten starren Blick gebunden, der auch das Denken umschließt; es ist schon schwer, nicht darüber zu lachen, wie die gleichen Politiker über die Jahre mit immer gleicher Überzeugtheit die immergleichen Meinungen vertreten, als würde sich in ihnen nichts ändern, scheint es doch eine Starre, eine Versteinerung der Gedanken zu verraten: einmal liberal (oder konservativ) - immer liberal, vorhersehbar in allen neuen Bereichen. Aber dies ist weniger lächerlich, als es vielen erscheint, denn tatsächlich hat jeder dieser Meinungsträger Opponenten, und zwischen ihnen spannt sich der Raum auf, in dem die Individuen ihre Freiheit sich bewahren können - nur in diesem Zwischenraum können Whitman oder Charles Olson* von der Demokratie singen, sie mit ihrem Leben füllen und so am Implodieren hindern.
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Heute freilich wollen erfolgreiche Politiker so verantwortungslos wie schlechte Künstler leben (während schlechte Künstler verantwortungslose Politiker zu sein versuchen), und wer dann einen aufrecht und überanständig klingenden politischen Raum aufspannt, muß sich schon gefallen lassen, daß seine Haltung und seine Vergangenheit genauer untersucht werden. Kein Wunder, daß es zu den unsäglichen Verleumdungen im Privatbereich kommt, womit uns die Medien füttern. Starrer Blick und differenzierte Persönlichkeit passen nicht recht zusammen.
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So weit, so gut. Das Spiel von Meinung und Gegenmeinung in der Demokratie enthält aber a priori auch den Zuschauer. Seltsamerweise entsteht bei Zuhörern einer Diskussion das Bedürfnis nach Parteinahme. Was dazu führt, daß man bei der Beobachtung zweier Argumentierender in einem Reflex vermutet, die Wahrheit befände sich irgendwo zwischen den beiden, und dieser Ort sei der für das eigene Engagement angemessene. Dabei sind derartige Auseinandersetzungen nicht selten erbitterte Kämpfe zwischen zwei Irrenden - in diesem Falle gäbe es zwischen ihnen keinen Ort der Wahrheit und damit auch keinen solchen für den Zuschauer. Interessant ist aber nun, daß sich ihrer beider Ansichten auch im Irrtumsfalle gegenseitig stabilisieren und den Ort der Wahrheit zwischen sich zu schieben verstehen. Und das ist der Punkt, an dem es schwierig wird: bei der ganz demokratisch funktionierenden Fähigkeit zweier Irrer, ganze Gesellschaften durch eine heftige politische Auseinandersetzung in die Irre zu führen*.
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Eine der Hauptursachen der Häufigkeit des starren Blicks ist aber auch schlicht sein gutes Funktionieren. In der Zuverlässigkeit seiner Wirkung ähnelt er der Kadenz in der Musik, die darum ja so häufig benutzt wird. Immer neue Generationen von Filmmachern produzieren ihn zu Beginn ihrer Laufbahn in seiner plumpesten Form immer aufs Neue. Sie erkennen daran eine funktionierende Resonanz und sind darauf bis zur Beherrschung raffinierterer Formen angewiesen wie Amateurmusiker auf die immergleichen Akkordfolgen. Er ist darum, auch wenn man es wollte, nicht ausrottbar.
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So sehr man sie in der Demokratie verankern möchte, paart sich diese zu Starrheit neigende Anfängerästhetik angenehm mit dem Menschenbild totalitärer Gesellschaften, weil man damit zu einem differenzierteren, mit dem Totalitarismus unvereinbaren Menschenbild nicht wirklich durchdringen kann. Gerade in totalitär geprägten Gesellschaften (und auch demokratisch-kapitalistische können totalitäre Züge annehmen) wird der Mensch als starres Wesen mit nur wenigen Grundbedürfnissen und mit einem peinlich starren Blick gesehen, in dessen Leere sich freilich die Hohlheit der für sie verantwortlichen Köpfe entdecken läßt. Nicht zuletzt das kann als Grund dafür gelten, daß viele Gesellschaftskritiker grade hinter dem amerikanischen System einen gefährlichen Totalitarismus wittern.
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Im Leben ist der deutlich wahrgenommene lang anhaltende Blick eher bedeutungslos - außer vielleicht im Kindesalter. An die Blicke meiner Kindheit kann ich mich freilich nicht mehr erinnern. Was ich zu erinnern glaube, kann auch Filmen entstammen, die Kindheitssituationen nach dem Modell des starren Blicks simulieren. Bedeutung im Erwachsenenleben hat vor allem der verstohlene, dennoch aber wahrgenommene Blick. Mit seiner Interpretation sind wir jedenfalls ausgiebig beschäftigt. Der Haken an ihm ist, daß er zwar nicht selten, aber wiederum nicht so häufig ist, daß sich darauf eine Filmform aufbauen ließe.
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Daher braucht es im Film eine Reihe nichtssagend halbstarrer Blicke, um den einzigen unterbringen zu können, dessen Scheue Bedeutung gewinnt. Das führt zu bewundernswerten schauspielerischen Leistungen wie etwa der Ingrid Bergmans zu Beginn von "Notorious*", wo sie das Starre mit einer Leichtigkeit überspielt, die einen, wenn man es erkennt, weinen lassen kann. Diese Leichtigkeit ist leicht indes nur gemessen an der Starrheit, die Film ansonsten innewohnt, mit ihr wird diese Starrheit nur umspielt, und sie hat mit der Leichtigkeit des Lebens eigentlich nur am Rand zu tun. Sie spielt tatsächlich bloß mit der von uns so genannten zweiten Starrheit, im Rahmen derer sie die Freiheit zu verkörpern hat - aber schon dazu gehören Paare, die mit der narrativen Form wegen der Unzahl von Gegenblicken ja viel inniger verwoben sind, als die Einzelperson.
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Trotz der relativen Belanglosigkeit des deutlichen Blicks im privaten Leben, gehört es ohne Zweifel zu den menschlichen Grundbedürfnissen, angeblickt zu werden. Dieses Bedürfnis hat für uns, bereits in der frühesten Kindheit, wahrscheinlich höheren Rang als das nach Moral oder Sexualität, es kommt gleich hinter dem nach Essen und Trinken. Trotzdem gibt es im Kino den frontalen Blick, bei dem man sich angeblickt fühlt, sehr selten, meistens geht der Blick ein wenig an der Kamera vorbei. Dagegen sehen wir häufig jemanden, der jemand anderen anblickt - und jemanden anzusehen, der jemand anderen anschaut, gehört eigentlich nicht mehr zu den elementaren menschlichen Grundbedürfnissen, eher schon zu den Perversionen. Darum haben politische Führer im Zeitalter des Fernsehens gelernt, direkt in die Kamera zu blicken und das Publikum direkt anzusprechen, um den Raum zwischen ihnen und uns auszuschalten. Diese Starrheit ist interessanterweise unglaublich intolerant gegenüber Abweichungen: ein einziger, versehentlicher Seitenblick auf eine nicht im Bild sichtbare Person (wie den Tonmann) entlarvt den Blick in die Kamera als das was er wirklich ist: als bodenlos schamlosen Betrug.
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Das Einander-in-die-Augen-Schauen-Können, von dem die römischen Historiker* glaubten, es sei den Menschen abhanden gekommen (was sie für den Grund des Zerfalls ihrer Republik in den Bürgerkriegen hielten), ist ihrer Kultur in den Bürgerkriegen tatsächlich abhanden gekommen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hatten die Römer etwas zu verbergen. Dies ist aber nicht allein ein Verlust, es stellte auch einen Gewinn dar, denn in einem paradoxen Prozeß wurde damals zugleich die Individualität erkämpft. Ein Individuum ist nur frei, wenn es die Freiheit hat, etwas zu verbergen. Daher die Liebe der Machthaber in totalitären Gesellschaften für den starren, offen tuenden Blick, weil der Skandal der zahllosen gemein Unterdrückten und Toten, die man wirklich verbergen muß, kaschiert werden soll. Dennoch entsteht auch in demokratischen Gesellschaften oft der Eindruck, dieses Einander-in-die-Augen-Schauen-Können existiere weiter als Traum und könne als Basis eines Zusammenlebens dienen oder sogar eines Staatswesens. Aber wenn ich heute jemandem in die Augen schauen möchte und merke, daß ich mich dazu wie ein Schauspieler verstellen muß, bin ich nicht stolz darauf.
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Haben die Menschen etwas zu verbergen? - Naturgemäß ist es von ihnen nicht zu erfahren. Was könnte es sein? Es gibt eine Art Vereinbarung zwischen uns, in Form eines ungeschriebenen Gesellschaftsvertrages, der besagt, daß man darüber nur vage spricht. So sehr wir das ausnahmslos wissen, gilt uns trotzdem noch immer derjenige, von dem klar wird oder der zugibt, etwas verbergen zu haben, als gefährlich und potentieller Verbrecher. Selbst (oder paradoxerweise sogar vermehrt) wenn sein Verhalten nicht justitiabel ist. Nicht zuletzt darauf basieren die Maskierungen der Handelnden in parlamentarischen Demokratien, darauf basiert das Überanständige, dem wir an ihnen bis zum Übelwerden begegnen. Auch hier findet sich eine Wurzel für unser gedankenloses Akzeptieren der zweiten Starre. Genau der unausgesprochene Verdacht des Etwas-zu-Verbergen-Habens, der sich auf alle und alles erstreckt (und vielleicht sogar genetisch verankert ist), ist tatsächlich ein Grund, etwas zu verbergen.
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Denn wenn die Menschen auch nicht klüger geworden sind, so haben sie doch nun ein größeres Bewußtsein ihrer Komplexität. Und damit stellt sich die Frage nach der Normalität anders: Wie soll sich jemand im Reinen darüber sein, ob er jedermann jederzeit in die Augen schauen möchte? Was für einen Sinn soll es haben, jemandem, der daraus einen Treppenstein seiner Karriere machen will, die Bereiche der eigenen Neurosen zu öffnen? Ich erwarte jedenfalls nicht, daß Personen, mit denen ich umgehe, mir ihr Innerstes, ihre Unzulänglichkeiten offenbaren. Den scheuen Blick ziehe ich dem undurchsichtigen und jederzeit gehaltenen der Verstellung jederzeit vor. Insofern fällt mir nicht schwer, mit der bloßen Oberfläche von Personen umzugehen und einem nur gelegentlichen Blick in die Tiefe. Um den tiefgehenden Blick permanent ertragen zu können, muß man mehr sein als Gott. Oder blind sein - für sich, für die anderen. Eine Welt, die es einem jederzeit ermöglicht, jedermann in die Augen zu blicken, wäre zudem vermutlich sowohl gewalttätig als auch langweilig.
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Ein "richtiges" Menschenbild hat etwas mit der Definition von Normalität zu tun. Tatsächlich ist der Kampf um diese Definition, der Kampf um Nichtausgrenzung der eigenen Position, wesentlicher Bestandteil der Demokratie. Merkwürdig ist nur, daß sich die meisten Menschen im wesentlichen normal vorkommen, obwohl viele zugleich meinen, der Rest der Welt bestehe aus Verrückten. Fraglos beeinflußt das Menschenbild einer Staatsform jedenfalls die Art, in der man blickt oder meint, blicken zu müssen, und insofern läßt sich bei der Wichtigkeit der Blicke im narrativen System mit einigem Recht vermuten, daß sie in ihrer Feinstruktur in deutlicher Wechselwirkung mit diesem Menschenbild stehen.
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Habe ich selbst etwas zu verbergen? Seltsamerweise weiß ich es nicht. Eigentlich nicht mehr, würde ich sagen, eigentlich bin ich inzwischen bereit, mich vollkommen zu öffnen, bin ich bereit das Splitternackte meiner Seele, wie der große Laurence Sterne es einmal ausdrückte, mein nacktes Herz offenzulegen. Warum denn nicht? Wenn Goethe sagt, er sei in seinem Leben höchstens vierzehn Tage glücklich gewesen, so befremdet mich das: ich bilde mir ein, vierzehn Jahre glücklich gewesen zu seien. Und doch gibt es Bereiche, die ich nur zögernd offenbare, manche die meiste Zeit nicht einmal mir selbst. In ihrer Mehrzahl haben sie mit Scham zu tun, trivial z. B. darüber, daß man sich nicht einwandfrei verhalten hat oder es nicht kann, auf öffentlich-moralischen, auf sexuellem Terrain. Oder mit Scham über das eigene Versagen, das zu Beschädigungen der Innenstruktur führt, die ich anderen Menschen lieber nicht aufbinden möchte - aus Eigennutz, aber auch, um nicht unnötig zu entmutigen, schließlich sind meine Probleme meine eigenen. Und ich möchte bei der Begegnung mit anderen die Scham auch in ihnen nicht dauernd erkennen müssen.
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Zwar erwarten wir vom Kino, daß es unsere Vorstellung vom Menschen erweitert, gleichzeitig aber doch auch, daß es unser eigenes Menschenbild stützt, das also, was wir für normal halten. Die Unzahl der Happy-Ends im Kino, die Befriedigung, die man bei ihrem Betrachten empfindet, sind schließlich nicht Resultat einer bösartigen Verschwörung. So gern wir uns selbst für einigermaßen normal halten, ist, wie gesagt, die Frage nach der Normalität der anderen weniger leicht zu beantworten. In der Regel wird dazu die Gaussche Glockenkurve bemüht, gemäß welcher jede menschliche Eigenschaft einen gehäuft auftretenden statistischen Durchschnitt liefert und Abweichungen nach dem Maß ihrer Größe seltener werden. In diesem Sinne verfügt jeder Parameter über einen erheblichen Bestand normaler, durchschnittlich veranlagter Menschen. Schwieriger wird es, wenn zwei Faktoren gleichzeitig normal sein sollen, das macht einen durchschnittlich Großen, schon wenn er grüne Augen hat, leicht abnormal. Bei jedem weiteren Merkmal, das isoliert einer sauberen statistischen Verteilung unterliegt, verschärft sich dieser Effekt. Insofern, man kann es leicht ausrechnen, ergibt sich bei 27 Merkmalen unter hundert Millionen Teilnehmern in der Durchschnittslotterie (wie beim Lotto) nur noch ein einziger Gewinner. Und bei 33 Merkmalen in der gesamten Erdbevölkerung - wenn jeweils die Hälfte der Bevölkerung das Durchschnittsmerkmal haben, nimmt nämlich bei jedem weiteren Faktor die Zahl der Durchschnittlichen um die Hälfte ab. Daraus läßt sich mit einigem Recht folgern, daß gerade bei halbwegs durchschnittlich erscheinenden Menschen mit mathematischer Sicherheit ein wahrer Abgrund an verborgener Perversion zu erwarten ist.
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Das läßt Musils Satz vom erwarteten Sieg des Durchschnittsmenschen in einem anderen Licht erscheinen*. Da sich auch der sogenannte Durchschnittsmensch immer mehr ausdifferenziert, hat die Vision von seinem Sieg an Schrecken verloren - der entstehende Durchschnittsmensch ist selbst hochgradig nur noch ein neurotischer Einzelfall. Kracauers romantische Vorstellung vom kleinen Ladenmädchen stellt insofern nur den Versuch dar, bei anderen eine Durchschnittlichkeit zu entdecken, die man selbst - leider - verloren hat. Das wiederum dürfte, überspitzt formuliert, bedeuten, daß die berühmten Abgründe der Existenzen, die man ihrer Oberfläche nicht ansehen kann, absolut normal sind und daher im Grunde nicht ausreichen, im klassischen Sinn eine Geschichte in Gang zu setzen.
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Nun ist die Leinwand Begegnungsstätte vor allem "normaler" Menschen. Da heißt es nämlich nicht nur, normal zu sein, sondern man muß auch anderen normalen Menschen begegnen. Die Ausarbeitung der Details und der Konsequenzen für die Plausibilität der Ereignisse in einem Spielfilm überlassen "wir" - wie Bourbaki - den Lesern. Wahrscheinlich ist auch das ein Grund für das Auftauchen so vieler Psychopathen im Kino. Soviel fürs erste der Beitrag der statistischen Mechanik zu den Problemen der Kinointeraktionen unter überoptimistischen Annahmen.
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Ob führende Politiker gut beraten sind, wenn sie sich alle Naslang mit direktem Blick an ihre Bevölkerung wenden und sich so dem Erscheinungsbild von Sportreportern oder Waschmaschinen-Verkäufern aus Fernsehspots annähern, die ebenso in die Kamera blicken und das Publikum direkt adressieren? Ich weiß es nicht - mir scheint aber der öffentliche Raum, der durch eine Pressekonferenz oder die parlamentarische Rede aufgespannt wird, effektiver. Im Grunde bedeutet der direkte Blick in die Kamera bei einem Politiker doch bloß, daß er spürt, daß der öffentlich aufgespannte Raum, worin sich Meinungen ausbalancieren müssen, nicht in seinem Sinne funktioniert, und er deshalb gern zu weniger demokratischem Regieren übergehen würde.
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Statt also den starren Blick für a priori als verabscheuungswürdig zu disqualifizieren, sollten wir erst einmal untersuchen, was man damit zustandegebracht hat und wieviel an gesundem Menschenverstand in ihm und dem narrativen System steckt. Denn, um mit dem wirkungsgewaltigen Lincoln zu sprechen: "You can't fool all of them all the time." Daher werden wir den starren Blick im Folgenden zunächst einmal einfach als gegeben voraussetzen und das narrative System erst an den ihn betreffenden Stellen befragen, inwiefern er überhaupt nötig ist und was er eigentlich anrichtet.
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Gibt es blicklose Filmformen? Und was eigentlich bedeutet Heldenlosigkeit für Filme?
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Zum Schluß noch einige Bemerkungen zur erwähnten dritten Starre im narrativen System: Die Vergangenheit scheint gegenüber menschlichen Manipulationen etwas robuster zu sein als die Gegenwart. Schrödingers berühmte Katze* ist wirklich tot, sobald sie als tot erkannt wird - tot in dem Sinn, daß sie keine Mäuse mehr fressen wird. Erst dann kann der Nachruf geschrieben werden. Erst dann kann man sicher sein, nichts Wichtiges weggelassen zu haben, so daß sich ihr Leben "konventionell" verfilmen läßt. Erst nach ihrem Tod (und bei den meisten "happy ends" stellt bereits die gewiß erscheinende Ehe so einen Tod dar, den, wenn man so will, einer speziellen Geschichte) läßt sich ihr Leben als Kette zusammenhängender Ereignisse in zusammenhängenden Räumen darstellen, kann man hoffen, daß das so entstehende Bild - in gewissermaßen nachgestellter beschleunigter Echtzeit - als Geschichte die Essenz ihres Lebens enthält. Jedes Innehalten auf ihrem Weg wird dann zu einer Metapher. Zum einen von dem, was sich in Zukunft ereignen wird, zum anderen aber auch all der Gedankengänge und Möglichkeiten, die jedem Moment innewohnten und die sich doch nicht realisierten: beides ist Ursache dieser dritten Starre. Außer der später gezeigten Zukunft enthält so eine Geschichte all die Momente dessen, was sich hätte ereignen können, sich aber, wie wir nun wissen, nicht ereignet hat.
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Darin äußert sich ein sonderbarer Mischzustand des narrativen Systems: einerseits scheinen die Personen auf der Leinwand gegenwärtig zu sein, sie sprechen zu uns in der Gegenwart, andererseits weiß man, daß jeder Film, und damit die darin vorgestellte Geschichte, ein Ende haben wird, ein Ende hat, schon in physischer Hinsicht. Er besteht aus auf einer Spule bereits aufgerollter Vergangenheit, erst das ermöglicht die Einbindung in ein Voranschreiten durch physikalisch als solide empfundene Räume.
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Erstaunlicherweise kann Schrödingers Katze, selbst wenn sie als tot wahrgenommen und damit auch im quantenmechanischen Sinne tot ist, im Bewußtsein eines Betrachters, der sie einst lebendig erlebte, weiterhin sehr lebendig sein und noch immer Anlaß einer Kausalitätskette werden, welche - wie im übrigen auch van Goghs Katze, deren Starrheit ewig anhalten wird - die Wirklichkeit verändert. Für diese Art Wirklichkeit, die mit Erinnerung, dem freien Willen und menschlicher Gestaltungsfähigkeit zusammenhängt und seinen unbewußten Konstituenten, haben die Physiker noch nicht den Hauch einer Formulierung entwickelt. Auch nicht die Soziologen. Und genau dies ist das Thema vieler Erzählungen, und - natürlich der Psychoanalyse.
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In erlebter Gegenwart hat ein Objekt nicht nur eine einzige Geschichte. Tatsächlich besteht es im Moment der Wahrnehmung nicht nur aus den Geschichten, von denen es einst Teil war, sondern zudem noch von all denjenigen, von denen es einmal Teil werden könnte. Wir alle kennen den geheimnisvollen Fremden, dessen Erscheinung fasziniert, während wir uns mit ihm in einem öffentlichen Raum befinden, und wie wir darauf reagieren. Meist ergibt sich, während die Zeit langsam vergeht, jedoch nichts. Da bei einem Drehbuch das Ende bekannt ist, verhalten sich Schauspieler in einem Film anders: sie kennen die Geschichte, der sie zu folgen haben und bewegen sich zielstrebig auf ihr Ende zu. Was immer sie tun, es hat eine Funktion im Rahmen dieser einen Geschichte, jede gezeigte Faszination hat, wenn sie gezeigt wird, sichtbar werdende Folgen - das ist die Ursache der dritten Starrheit.
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Es hat keinen Sinn, sich stets auf eine objektive Wirklichkeit zu berufen, weil wir - heute kann man das in dieser Schärfe sagen - über kein modell-unabhängiges Konzept der Wirklichkeit verfügen. Insofern ist konventionelles Erzählen ein ebenso taugliches Modell zu ihrer Beschreibung wie die Newtonsche, die Marxistische, die Demokratische Mechanik oder gar die Quantentheorie. Problematisch daran ist weniger die Existenz mehrerer einander offensichtlich widersprechender Modelle, sondern eher unsere sich immer wieder aufs neue beweisende Beschränktheit im Erkennen ihrer Grenzen, damit man sie nicht in Bereichen operieren läßt, wo sie nicht länger funktionieren.
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Andererseits hat sich, seit Neil Armstrong am 13. August 1969 den Mond betrat, unsere Vorstellung vom uns umgebenden Raum entscheidend verändert. Die Kosten der bemannten Raumfahrt sind so exorbitant, daß sie selbst den Mars in kaum erreichbare Ferne rücken. Die mit soviel Klugheit und technischer Raffinesse - man beobachte, wie grob durch den Tag-Nachtwechsel fragmentiert und in delikater Weise zerbrechlich sich das von der sich drehenden Erde in einer Computersimulation anschaut - ausgeschickten Raumsonden offenbarten uns ein Planetensystem, das man, bei aller vielleicht sogar schönen ästhetischen Anmutung, sich lebensfeindlicher kaum vorstellen kann. Méliès 1902 unternommene lustige Reise zum Mond* ist heute nicht einmal mehr ein Witz. Alle Suche nach außerirdischen Signalen, die von ferner Intelligenz sprechen könnten, hat sich als erfolglos herausgestellt, und Professor Jordans harmlos klingende Bemerkung "Zwar scheint die Meinung, daß auch das organische Leben dieses Planeten Beispiel einer in einer Fülle von Beispielen vorhandenen Erscheinung sei, in geradliniger Fortsetzung des kopernikanischen Gedankengangs zu liegen. Aber nicht immer ist die geradlinige Fortsetzung eines Weges auch die richtige" muß inzwischen als Volltreffer gelten. Die zigtausendfach bestätigte Lichtgeschwindigkeitsgrenze der Relativitätstheorien wird weder je wen aus der Ferne des Weltraums uns erreichen lassen**, noch werden wir selber das Sonnensystem verlassen können. Das Zeitalter des Raums, das, wenn man so will, mit Columbus Landung in Amerika begann (oder mit Giottos schüchtern die Sterne erfassender Perspektive) ist zu Ende. Bereits Magellan hat, wie sich 500 Jahre später herausstellt, die Grenzen abgesteckt, und Ahab jagte nur noch den weißen Wal. Im Raum liegt keinerlei metaphysische Qualität mehr. Allein die Kunst der großen Seefahrer, die der großen Erkunder, ist uns davon geblieben, Prunkstücke nun unserer Archive und Museen, wo wir ihren ungeheuren Gestus bewundern dürfen, aber auch Tizian, Michelangelo, Melville, van Gogh. Magellan steht an den Toren des Todes. Erzählungen, die dem Raum weiterhin metaphysische, die ihm magische Qualität zubilligen, sind plötzlich von herzergreifender Niedlichkeit. Etwas bloß noch für Kinder. "2001" ist vielleicht der letzte klassische Spielfilm, dessen Form man in seiner Gänze noch ernst nehmen kann. Die Totale hat, auch in der Photographie, etwas Würgendes angenommen, sie weist nicht mehr in Form einer empfundenen Fortsetzung über sich hinaus, sondern ist Metapher eines Käfigs, in dem die Existenzen herum zappeln. Amerikas Traum vom Raum, ohne den das europäische Kino Kammerspiel geblieben wäre (und zum Kammerspiel kehrt es nun, denken wir an Rohmer, wieder zurück) hat uns nichts mehr zu sagen. Nun können die kleinen Länder aufholen, China, Taiwan, Iran, Korea, Portugal, Dänemark, Neuseeland, mit eine Weile weiter unentwegt den Raum feiernden sehr schönen Kamerafahrten in von verführerischer Klugheit im Raum träumenden Filmen, voller uns noch traumhaft erscheinend fremdartig schöner Bilder. Bis auch sie jemanden zum Mond geschickt haben, der ihnen klar macht, daß es im Raum nichts mehr zu holen gibt. Das Kammerspiel kehrt auf allen Ebenen zurück. Seit 1969 leben wir in einem Gefängnis. Eine leichte Instabilität der Sonne kann sämtliches Leben hier innerhalb eines halben Jahres auslöschen, und wies aussieht ist es womöglich das einzige im ganzen Universum. Selbst Amerika träumt nicht mehr vom Raum, im Fernsehen hat das raumgestützte Erzählen kaum mehr als komödiantische Funktion, auch dort bleibt nur noch das Serien-Kammerspiel und für die Klugen Godard. Der in seiner "Verachtung" seinerseits bereits 1963 ein letztes Mal im Kino den Raum gefeiert hat, auf europäische Weise, also ohne Schuß-Gegenschußverfahren, und in vielleicht der schönsten Weise der Filmgeschichte überhaupt. In einer ans Überirdische gemahnenden Blendung, der seine Protagonisten, anders als einst Odysseus, trotz ihrer augenscheinlich physischen Schönheit* nicht mehr gewachsen sind. Viele haben begriffen, daß sie in einem Gefängnis leben, dort sitzen sie nun in Einzelzellen und beobachten im Fernsehen andere, die in Einzelzellen leben und versuchen, dabei komisch zu sein, um sich zu bestelltem Applaus totzulachen. Sitcoms nennt sich diese das narrative System gegenwärtig offenbar ersetzende Kunstform, die Leute sitzen und bewegen sich nicht mehr, nicht einmal mehr nach Californien. Das californische Kino besteht nur noch aus Laienspielgruppen, die, weiter mit Oscars sich feiernd, für uns manchmal sogar Western produzieren. Ja, der 13. August 1969 ist vielleicht das traurigste Datum der menschlichen Geschichte. Anders als die Bartholomäusnacht, als Hiroshima, als die ungeheuren Verbrechen unseres Jahrhunderts nicht wieder gut zu machen. Es bedeutet Schlußpunkt, ist Ende.
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Wir wollen zum Schluß dieser Einführung die Mannigfaltigkeit der Schnittformen noch schnell analytisch zerlegen, um einen Eindruck der Richtung und Reichweite der nun folgenden eigentlichen Arbeit zu geben.
Wir beschränken uns auf repräsentative Einstellungen und bezeichnen als Film eine Folge solcher repräsentativer Einstellungen.
Als erstes (wie aus dem Übersichtsdiagramm auf der übernächsten Seite ersichtlich) zerlegen wir die Schnitte in Raumerweiternde Schnitte, Raumbenutzende Schnitte und Exoten. Wir nennen einen Schnitt auf eine neue Einstellung raumerweiternd, wenn uns der Raum der neuen Einstellung in dem Filmteil, den wir bis dahin gesehen haben, weder ganz noch zum Teil begegnet ist, wenn es sich also bei dem Raum der neuen Einstellung um einen für den Film ganz neuen Raum handelt. Raumbenutzend dagegen nennen wir Schnitte, in denen der Raum auf den geschnitten wird oder zumindest Teile davon, an der Schnittstelle schon bekannt sind. Diese Zerlegung ist vollständig, was heißt, daß es keinen anderen geben kann.
Dennoch ziehen wir, ohne die Vollständigkeit der Zerlegung zu verletzen, von beiden ein paar Sonderfälle ab und nennen sie Exoten. Unter die ordnen wir Schnitte in Rückblenden oder parallele Welten ein, Schnitte in Träume und innerhalb von Träumen, Schnitte in Visionen oder innerhalb von Visionen und generell Schnitte in assoziative Bildwelten oder innerhalb solcher, mit anderen Worten alles, was im konventionellen narrativen Bereich nicht ganz geheuer ist und mit Verletzungen der Kausalität zu tun hat.
Die raumerweiternden Schnitte nun zerlegen wir in linear raumerweiternde und nicht linear raumerweiternde Schnitte. Als linear verstehen wir dabei raumerweiternde Schnitte, wenn wir in der neu auftauchenden Einstellung Bewegungsträger wiedererkennen können, die wir schon vorher im Film gesehen haben. In diesem Falle nennen wir die neue Einstellung auch durch einen linearen Prozeß mit dem bisherigen Film verbunden. Gibt es eine solche Verbindung dagegen nicht, taucht also kein bis dahin bekannter Darsteller oder Bewegungsträger in der neuen, bisher unbekannten Einstellung auf, nennen wir den Schnitt nichtlinear raumerweiternd. Diese Zerlegung der raumerweiternden Schnitte ist wieder vollständig.
Die linearen raumerweiternden Schnitte wiederum zerlegen wir in solche, bei denen der lineare Prozeß in die neue Einstellung aus der unmittelbar hervorgehenden erfolgt und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Die ersten nennen wir einfach linear, die anderen verzögert oder retardiert linear, weil wir bei ihnen den Darsteller der neuen zuletzt in einer Einstellung gesehen haben, die schon einige Zeit zurückliegt. Auch diese Zerlegung ist vollständig.
Durch einen Trick ordnen wir auch die Blicke in die Kategorie der einfachen linearen Schnitte ein, indem wir ihnen virtuelle Bewegungsträger zuordnen. Die kann man beim Erscheinen der neuen Einstellung zwar nicht sehen, man kann aber ihre Wirkung beobachten: wenn jemand in der neuen Einstellung von ihr getroffen wird, blickt er in die Richtung zurück, aus der sie gekommen sind.
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Bei den nichtlinearen raumerweiternden Schnitten handelt es sich um Schnitte in Räume und zu Personen, die wir an der Schnittstelle noch nicht kennen und die erst später an das eigentliche Handlungsgefüge angeschlossen werden. Diese Schnitte sind sehr schwer allgemein zu beschreiben, da sie ein Erfassen der ganzen Filmform voraussetzen, von der sie wiederum ein Teil sein können. Sie tauchen auf, wenn Parallelhandlungen eingeführt werden sollen, die später in einem Konflikt oder einer friedlicheren Begegnung mit der ursprünglichen Handlung zusammengeführt werden. Manchmal, das ist allerdings sehr selten, werden solche Stränge auch gar nicht zusammengeführt, dann bleiben sie nach dem Muster von Griffiths "Intolerance" getrennt. Solche Schnitte sind formal sehr schwer zu beschreiben, gehören aber vom Gesichtspunkt dessen, was im Kopf des Zuschauers stattfindet, zum Interessantesten, was das narrative System zu bieten hat.
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Von diesen nichtlinearen raumerweiternden Schnitten nennen wir solche, die nicht der Raumerweiterung in dem Sinne dienen, daß sie den Raum für ein neues Handlungsgefüge öffnen, atmosphärisch, während wir die anderen offen nennen. Damit haben wir wieder eine vollständige Zerlegung. Atmosphärische Schnitte bilden einen Randbereich des narrativen Systems. Wenn sie in Clustern auftauchen haben sie oft bestimmte Bedeutungen. Die einzelnen Einstellungen eines atmosphärischen Clusters nennen wir atmosphärische Einstellungen. Der Unterschied zu den repräsentativen Einstellungen besteht im wesentlichen wohl darin, daß bei atmosphärischen Einstellungen nicht mehr so sehr innerhalb des Einstellungsraumes erzählt wird als vielmehr mit ihm. Wir werden an den betreffenden Stellen dieser Arbeit Ortscluster, Reisecluster, Ereigniscluster und freie Cluster näher untersuchen. im übrigen gibt es zwischen den atmosphärischen Schnitten und den Exoten einen fließenden Übergang.
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Die raumbenutzenden Schnitte nennen wir auch Rückschnitte. Das soll andeuten, daß man in einen Raum, der durch einen raumerweiternden Schnitt in das Handlungsgefüge eingebaut worden ist, jederzeit wieder zurückkehren kann, ohne jedes Mal Angst haben zu müssen, daß der Zuschauer die Orientierung verliert. Als überlappend bezeichnen wir raumbenutzende Schnitte, wenn der Bildraum der neuen Einstellung mit dem der vorigen überlappt. Bei den überlappenden Schnitten kommt es also zu Sprüngen innerhalb des Bildraums: der Ransprung von der Totalen in die Naheinstellung gehört ebenso dazu wie der Rücksprung von der Naheinstellung zurück in die Totale und die (unter Umständen gleichzeitig damit stattfindenden) Perspektivwechsel, Drehungen und Maßstabsveränderungen des gezeigten Koordinatensystems also.
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Als direkt oder auch direkt linear bezeichnen wir überlappende Schnitte, wenn sie linear in einem Bewegungsträger sind, wenn man in beiden Einstellungen also denselben Bewegungsträger sieht. Taucht bei ihnen ein zuletzt in einer früheren Einstellung gesehener Bewegungsträger auf, nennen wir ihn retardiert linear. Taucht dagegen dabei nur ein bisher unbekannter oder gar kein Bewegungsträger auf, nennen wir den überlappenden Schnitt nichtlinear. Wirken nichtlineare überlappende Schnitte vor allem atmosphärisch (wenn zum Beispiel aus einer Totale auf eine brennende Kerze geschnitten wird), bezeichnen wir sie als atmosphärisch überlappend. Nichtatmosphärisch überlappende nichtlineare Schnitte dagegen bezeichnen wir auch als offene überlappende Schnitte.
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Raumbenutzende Schnitte dagegen, bei denen sich die Räume zweier aufeinanderfolgender Einstellungen nicht überlappen, nennen wir disjunkte oder auch eigentliche Rückschnitte. Bei ihnen handelt es sich um Schnitte in einen Bildraum, den wir ganz oder als Teil schon vor einiger Zeit im Film gesehen haben. Dabei unterscheiden wir wie bei den raumerweiternden Schnitten lineare und nichtlineare, je nachdem ob uns ein Darsteller aus den neuen Einstellung schon aus dem bisher schon gesehenen Filmteils bekannt ist oder nicht. Die linearen Rückschnitte zerlegen sich in einfach und retardiert lineare, je nachdem ob uns der Bewegungsträger in der vorigen oder aus einer weiter zurückliegenden Einstellung zuletzt vor Augen getreten ist.
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Eine Unterklasse der retardiert linearen Rückschnitte besteht aus solchen, bei denen sich beim Wiederauftauchen der bekannten Einstellung in ihr noch immer ein Bewegungsträger befindet, den wir beim letzten Auftauchen gesehen haben. Solche Schnitte nennen wir direkte Rückschnitte und ziehen sie von der Menge der retardiert linearen Rückschnitte ab. Bei direkten Rückschnitten und direkten überlappenden Schnitten wird im Gegensatz zu anderen linearen oder retardiert linearen Schnitten die Linearität in einem Bewegungsträger nicht dazu benutzt, den Raum der neuen Einstellung mit dem einer vorherigen zu verknüpfen, es handelt sich vielmehr um eine Verknüpfung eines Raums mit sich selbst.
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Von den nichtlineare Rückschnitten ziehen wir solche ab, in denen der schon bekannte Raum nur noch atmosphärisch oder aus ihm ein atmosphärisches Detail benutzt wird (z.B. Blumen als plötzlich wieder auftauchendes Detail, das keine Raumfunktion mehr hat). Diese Schnitte bezeichnen wir als atmosphärische Rückschnitte, die anderen nennen wir offene Rückschnitte.
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Diese Zerlegung ist wieder vollständig. Von besonderem Interesse sind dabei die direkten überlappenden Schnitte, die erwähnten Sprünge in die Nahaufnahme also und die Rücksprünge in die Totale, wobei in beiden Einstellungen gleiche Personen zu sehen sind. Sie gehören zu den häufigsten Schnitten des narrativen Systems. Ebenso häufig und wichtig sind die linearen Rückschnitte, weil aus ihnen die Blickinteraktionen bestehen.
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Da alle Unterzerlegungen vollständig sind, ist auch die ganze Zerlegung vollständig, so daß es im narrativen System keinen Schnitt gibt, der von dieser Klassifizierung nicht erfaßt wird. Sollte doch mal etwas so Merkwürdiges auftauchen, daß wir nicht daran gedacht haben, fällt es ganz automatisch unter die atmosphärischen Schnitte oder die Exoten.
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Die linear oder nichtlinear raumerweiternden Schnitte sind raumerzeugend insofern, als sie die räumlichen Beziehung der neuen Einstellung zu mindestens einer aus dem bereits gesehenen Filmteil vermitteln. Die Rückschnitte (überlappende und eigentliche Rückschnitte also) sind raumbenutzend in dem Sinne, daß sie auf der mit raumerweiternden Schnitten erzeugten Raumkonstruktion arbeiten. Beide Schnittformen erzeugen ein vorwärtsorientiertes zeitliches Ordnungssystem. Die Struktur dieses Ordnungssystems ist abhängig von der Art des Austauschs der Bewegungsträger zwischen den einzelnen Einstellungen. Atmosphärische Einstellungen sind an dieser räumlichen und zeitlichen Konstruktion nur kontextuell beteiligt oder wenn sich aus ihnen - wie im schon erwähnten Beispiel der Tower Bridge - explizit ein raumzeitverschiebender Titel ergibt. Die Exoten dagegen sind verantwortlich für alle Risse in diesem in der Regel wohlgeordneten Gefüge.
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In diesem Vokabular haben die meisten narrativen Film eine ganz bestimmte Form. Auf eine Reihe von raumerweiternden Schnitten, die in einer Totale enden, folgt eine Zerlegung dieser Totalen in einer Serie von Rückschnitten, auf die wieder eine Reihe von raumerweiternden Schnitten zu einer neuen Totalen führt, die wiederum durch Rückschnitte zerlegt wird, usw. Ab und zu kehrt man auch durch einen Rückschnitt zu einer schon bekannten Totalen zurück, die dann erneut zerlegt wird. Unterbrochen wird diese Folge zerlegter Totalen, die mittels raumerweiternde oder Rückschnitte verbunden werden, nur durch gelegentliche atmosphärische Schnitte oder Exoten. Rückschnitte sind die in narrativen Filmen häufigste Schnittform. Filme, die dieser Rückschnittsdominanz nicht folgen, kommen so gut wie nie in die Kinos. Das heißt nicht, daß es immer so gewesen ist oder immer so sein wird.
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Bilden die raumerzeugenden Schnitte gewissermaßen das Rückgrat des narrativen Systems, so bilden die Rückschnitte Fleisch. Der Rückschnitt ist zugleich sein stärkster und schwächster Punkt. Der stärkste, weil durch seine systematische Anwendung das erzeugt wird, was man gemeinhin als filmische Spannung bezeichnet. Und sein schwächster und zugleich kritischer Punkt, weil sich in ihm am stärksten das offenbart, was man als das Postulat von der universellen Präsenz des Zuschauers bezeichnen kann, welches regelt, welche Teile des schon entfalteten Geschehens einem Zuschauer in jedem Moment angeboten werden und welche nicht. Dieses Prinzip werden wir als verantwortlich begreifen für den sich immer wieder ereignenden Zusammenbruch des narrativen Systems.
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Unter den vielen Rückschnitten sind die durch den gegenseitigen Blick zweier Darsteller generierten die häufigsten. Wenn man Filme von Spielfilmlänge durch einen Zeitrafferprozeß auf eine Minute reduziert, wobei jede Einstellung durch drei, vier Einzelbilder repräsentiert wird, drängt sich beim Sehen der Kurzfassungen der Eindruck auf, das Problem des narrativen Kinos bestehe darin, von einer Blickinteraktion zwischen zwei Personen zur nächsten zu gelangen. Narrative Filme sind Festivals ausgetauschter starrer Blicke.
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Die meisten bisher unternommenen Versuche, das narrative System zu beschreiben, gingen von einer Analyse der atmosphärischen Schnitte aus. Dabei wurde häufig von Eisenstein und Pudovkins Arbeiten extrapoliert und so getan, als wären die heutigen narrativen Filme immer noch auf ihren Prinzipien aufgebaut. Erstaunlich häufig übersah man, daß die bei Eisenstein und Pudovkin noch vitale Bedeutung des atmosphärischen Schnitts nach der Einführung des Tonfilms nahezu verschwunden ist. Das heutige narrative Kino enthält den atmosphärischen Schnitt bloß als Accessoire in seiner trivialsten Form, der raffiniertere Teil ist jetzt Teil der Exoten und soll uns dort den Mund wässrig machen.
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Die Ironie geht soweit, daß Eisensteins Stummfilme einem heutigen Publikum unverständlich erscheinen und nur noch dank eines Bemühens um Filmkultur gelegentlich zu sehen sind. Sie geraten dabei in eine seltsame Nähe zu Avantgardefilmen, die auch ihr Publikum nicht zu finden verstehen, weil sie sich - aus Prinzip - dem existierenden Erzählsystem nicht unterwerfen wollen.
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