K. Wyborny
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COMÉDIE ARTISTIQUE

(AUS EINEM KÜNSTLERLEBEN)

Sechster Teil

 

ELEMENTARE SCHNITT-THEORIE

Wissenschaftlicher Exkurs (1974/94/98)

Band 1

INHALT, VORWORT UND ERSTER TEIL: EINFÜHRUNG


 

I.

VORWORT ZU EINER ELEMENTAREN SCHNITT-THEORIE (1993)

 

 

 

Diese Arbeit ist das Ergebnis dreier Anstrengungen: die Einführung entstand um 1974, als wesentliche Teile von ihr schon einmal in den Zeitschriften BOA VISTA, FILMKRITIK und AFTERIMAGE veröffentlicht und übersetzt wurden; der Teil über lineare Schnitte und Blicke um 1978, als ich dieses Gebiet unterrichtete; und die Teile über Rückschnitte und Topologie erst kürzlich, als sich endlich ein Formalismus in meinem Kopf zurechtlegte, mit dem auch diese komplizierteren Schnitte einigermaßen zu fassen waren.

Dem Ganzen liegt aber doch der Ansatz der ersten Arbeit zugrunde. In ihrer Entstehungszeit vernebelten - zumindest in Deutschland - linguistische und vor allem aufs Soziologische zielende Beschreibungsversuche die Filmtheorie in einem Ausmaß, daß ich ein naturwissenschaftlich orientiertes Modell dagegen setzen wollte. Das erklärt den zum großen Teil ernüchternden Stil, in dem Filmschauspieler zu Bewegungsträgern, Filmbilder zu Bildvektoren reduziert werden. Im übrigen gab es in dieser damals oft sich klassenkämpferisch gebärdenden Umgebung für Filmmacher meines Typs, die eher künstlerische Zugänge zum Film suchten, erheblichen Legitimierungszwang. Uns wurde vorgeworfen, wir würden bloß "Formeln" abbilden, kaltes intellektuelles Zeugs, das bloß ausgedacht am "Volk" vorbeiliefe und daher von Grund auf uninteressant wäre, im besten Fall den Müllhaufen der Geschichte vervollständigend. Daraus wollte ich einen Gegenangriff machen und zeigen, daß gerade das erfolgreiche Erzählkino ein solches mathematisches Modell repräsentiert.

Tatsächlich entdeckte ich ein mathematisches Modell, das die Verhältnisse - gemessen an der Gereiztheit, aus der heraus es entstand, erstaunlich - einigermaßen beschreibt. Noch erstaunlicher indes fand ich, daß dem narrativen System eine Reihe Prinzipien zugrunde zu liegen scheinen, die Bildern generell zu einer Art von Zusammenhang verhelfen, und zwar nur im menschlichen Kopf. Und daß dieses System weniger mit dem Erzählvorgang zu tun hat, als ich ursprünglich dachte; daß es überdies sogar Bestand haben könnte, wenn es keine Spielfilme mehr gäbe. Auch auf merkwürdigem Boden gewachsene Motivationen können einen offenbar einer Art Wahrheit sich nähern lassen.

Dennoch scheint dieses Zeigen-Wollen deutliches Manko dieser Arbeit zu sein, insbesondere wenn ich mich zu Zukunftsprognosen verstieg. Da drang wohl der Wunsch nach einem Katastrophenszenario durch, welches ich dem Modell vom tendenziellen Fall der Profitrate nachzuempfinden versuchte und das wie schon Marx die bei der Entfaltung der Produktivität anfallenden Erneuerungskräfte jämmerlich ignorierte. Ich weiß nicht, warum eigentlich ich die sogenannt heilenden Kräfte des Marktes so falsch einschätzte, aber im Grunde handelte es sich ja nicht einmal um eine Einschätzung - die Kräfte des Marktes interessierten mich schlicht nicht. Wesentlicher für Erneuerung fand ich Äußerungen der einigermaßen autonomen Existenz, und deren Bezug zum aktuellen Markt ist ja nun einmal meist marginal.

Dazu vielleicht eine Bemerkung zu dem im Text immer wiederkehrenden "wir", das häufig in Formen wie "wir können sehen, daß" auftauchen wird. Dieses "wir" ist bewußt gesetzt und will sich vom einfach passiven "wird sichtbar" unterscheiden. Der sokratischen Gesprächstechnik entlehnt, in der es wohl den Konsens einer Gelehrtengruppe ausdrücken soll, wird mit ihm implizierend gefragt, ob es Widerspruch innerhalb dieses "wir" gebe: falls nicht, hat das Beschriebene nach Maßgabe des den Menschen Verstehbaren den Rang vorläufiger Wahrheit. Hat sich dieses auf Gelehrten-Konsens basierende "wir" in der heutigen Physik noch recht gut erhalten, so verwandelte es sich in der Mathematik in etwas dem Religiösen Verwandtes, das Wahrheit schlechthin zu verkörpern vorgibt, und auf alle Ewigkeit Widerspruch ausgeräumt zu haben meint. Es ähnelt dem Pluralis Majestatis in dem Sinne, daß oberste Majestät jetzt die keine Ausnahmen zulassende Göttin der Wahrheit ist. Ein Irrtum dieses "wir" verlangt den Göttersturz, eine radikale Neudefinition der Wahrheit. In diesem Sinne ist das elegante, sich nicht die Finger schmutzig machende "nous laissons les détails au lecteur" - das Herausarbeiten der Details überlassen wir dem Leser - aus der bewundernswerten Kollektivanstrengung des N. Bourbaki-Kollektivs, das in den fünfziger Jahren eine von Anwendungen ganz losgelöste axiomatische Mathematik (die "Éléments du mathématique") zu formulieren suchte, die Quintessenz dieser Herablassung.

Parallel zum Gelehrtenkonsens in der Naturwissenschaft und dem mathematisch göttlichem "wir" entwickelte die ebenfalls nach Unanfechtbarkeit strebende moderne Philosophie ihr "man" und ihr "man kann sehen", deren Ableger, das soziologische "wir", sich auf dem Gebiet soziologischer Erfahrungen dieselbe Wahrheitsfindung wie die Mathematik zutraut und schnell zum Kampfverband der Beleidigten wird, wenn es sich seine Ansichten mehr oder weniger rabiat in Politik umzusetzen traut. Das in diesem Text benutzte "wir" ist dagegen, zumindest von der Anlage her, noch einmal anders gelagert - es setzt sich aus dem "wir" der Kinozuschauer zusammen, denen in einem dunklen Raum etwas vorgegaukelt wird, von dem eigentlich jeder weiß, daß es sich um Betrug handelt. "Fröhlich" nannte Fuentes das Kino, doch "letztenendes trügerisch, einfach ein Katalog von Gesichtern, Gebärden und Dingen," die seiner Ansicht nach, da fällt es mir schwer, seiner Fröhlichkeit zu folgen "absolut individuell, niemals allgemein" wären. Daß alle dem gleichen Betrug unterliegen, gibt nämlich dem, was in der Tat nur ein Katalog sein könnte, so etwas wie Realität, eine Kinorealität, die nicht auf der Leinwand, sondern im Kino stattfindet. Das Kinoerlebnis kann nur durch das "wir"-Erleben in der Gemeinschaft die physische Realität angenommen haben, die es erhalten hat - wäre nur der Einzelne ihm begegnet, wäre es Betrug, wäre es Jahrmarktstäuschung geblieben. Erst die Tatsache, daß viele bei diesem Betrug das Gleiche erkennen, macht es zu einer Art Realität. Extremer stellt sich dies wohl noch beim Fernsehen dar: wir sitzen zwar allein vorm Apparat, doch das Bewußtsein, daß Millionen das Gleiche sehen oder sehen könnten und es als wirklich nehmen, gibt uns das trügerische Vertrauen, daß es sich bei dem Abgebildeten nicht um Betrug oder fixe Idee handelt.

Unser "wir" ist also das "wir" aller vom Kino gleichartig Betrogenen, und wenn wir Muster in dem Betrug erkennen, tun wir es stellvertretend für alle, die sich darüber wundern, daß das Kino auch bei ihnen funktioniert. Es repräsentiert beinah den genauen Gegensatz zu Bourbakis "wir"; und im Gegensatz zu diesem werden wir uns ganz bewußt in den Wirren der Details verirren und uns die Finger dabei schmutzig machen wollen: weil Irrtum die Quintessenz der Kinoerfahrung ist. Gelegentlich allerdings gedenke ich - wie in diesem Vorwort - zum "Ich" überzuwechseln, wenn sich bei mir nämlich das Gefühl einstellt, das Beschriebene würde nur auf meine privaten Sichtweise der Welt zurückgehen. Daß dieses "Ich" sich nach einem "Wir" streckt, nach Menschen also, die Ähnliches spüren oder gespürt haben, ist - wie wir alle wissen - die Ironie ich-gestützter Mitteilungen. Zuweilen taucht dann aber doch das polemische "wir" auf, das den Gang der Geschichte beeinflussen möchte. Es stammt aus der schon einmal gedruckten Einführung und entspricht so gar nicht mehr meinem Sinnenstand. Manches davon habe ich zwar abgeschwächt, trotzdem ist von dem Rechthaberischen dieser Polemik noch manches enthalten: auch, weil es mir dazuzugehören scheint. Ich versichere aber, daß es nicht so rechthaberisch gemeint ist, wie es zuweilen klingt. Warum habe ich es nicht milder formuliert? Vielleicht wird es durch das Folgende verständlicher.

Vor kurzem las ich Erstaunliches über den Versuch der Kirche, das geozentristische Weltbild (des Ptolemäus etwa) gegen Kopernikus und Galilei zu verteidigen. Der Autor dieser Studie behauptete, vor allem Galilei hätte damals auf einer Wahrheit bestanden, in deren Besitz er sich gar nicht befand - die Kirche wäre daher in ihrer Ablehnung der Galileischen Interpretation des Kopernikanischen Weltmodells weit weniger im Unrecht gewesen, wie jahrhundertelang geglaubt wurde. Nun: ich habe selbst einiges an Naturwissenschaft studiert und bin nicht nur mit den Grundzügen der Weiterentwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens von Aristoteles bis Newton einigermaßen vertraut. Nichtsdestoweniger hatte mir nicht zuletzt Brechts Galileistück - vom Autor des Artikels übrigens als anonymer Teil einer Gruppe "antiklerikaler Avantgardisten" beschimpft - ein festes Grundgefühl für die Ignoranz der Kirche, die den richtigen Weg in die Zukunft aus ihrer Interessenslage heraus ablehnte, mitgegeben. Darum wollte ich die Studie schon weglegen, als ich den Namen des Verfassers: Pascual Jordan, las.

Ich kannte Professor Jordan. Als Dreiundzwanzigjähriger hatte ich ein paar Vorlesungen von ihm besucht - Allgemeine Relativitätstheorie. Damals vermochte ich in ihm nur einen Mann zu erkennen, an dem die Zeit vorbeigelaufen war, kurz vor der Emeritierung: altmodische Weste, rot gemusterter Schlips, ein auf mich aus irgendeinem Grund schmuddlig wirkender grauer Anzug; ein zu einer Art Kloß gewordener unfreiwillig ewiger Junggeselle (so meine beschränkte Sichtweise) mit stammelnder Sprache und fahrigen Bewegungen, die so gar nicht ins Bild technik-orientierter Wissenschaft passen wollten, von dem ich mich damals geleitet fühlte - jemand, dem es beim Reden feucht im Mund wurde, und der sich, wenn er es zu spät bemerkte, den Speichel mit einem großen Taschentuch wegwischte, das dazu auffällig aus dem Anzug gezogen und umständlich wieder weggesteckt wurde. Trotz seiner unter der dicken Brille hochflinken Augen schien er derart senil zu sein, daß er nicht einmal in verständliche Sprache verwandeln konnte, was er sich da zusammengerechnet hatte - so wenigstens faßte ich meinen Eindruck zusammen, als ich dem, was er über Allgemeine Relativitätstheorie zu sagen versuchte, zu meinem Erstaunen nicht zu folgen verstand. Ich begriff nichts, absolut nichts, von dem, was da gesagt wurde. Mag sein, daß ich deshalb geradezu körperlich an ihm Anstoß nahm.

In der Physik war mir so etwas noch nicht begegnet. Physik war das, was man verstehen konnte - jedenfalls wenn man nicht zu den dümmeren Zeitgenossen gehörte, und ich hielt mich für ein, zumindest im Vergleich zu meinen Mitstudenten, ziemlich helles Köpfchen. Ich hätte diese Vorlesungen wohl als Äußerungen eines Verwirrten wegsteckt, die man nicht unbedingt begreifen muß, hätte nicht Dr. Kundt, ein anderer meiner Lehrer, von jenem Professor Jordan auf mein Nachfragen hin im Ton größter Achtung gesprochen: er gehöre zu den ganz Großen im Bereich des Weltverständnisses. Dr. Kundt, bei dem ich damals mit Respekt "Statistische Mechanik III" hörte, war als Kenner dieses Gebiets den vielen Teilchen zugewandt, aus denen die Welt nun einmal besteht - ich hielt ihn deshalb für einen vernünftigen Menschen (er empfahl zum Beispiel, als ich mit seiner Hilfe ein Stipendium dorthin bekam, möglichst viele Pfennigstücke mit nach New York zu nehmen, sie hätten nämlich die Größe der dortigen Subway-Tokens, so daß man mit ihrer Hilfe umsonst U-Bahn fahren könne; bei meiner Ankunft stellte sich leider heraus, daß die Token-Größe gerade gewechselt worden war). Wolle man sich über etwa Entropie orientieren, sagte er (das Dilemma der Statistischen Mechanik bestand damals - besteht wahrscheinlich noch immer - ja darin, das grauenhafte, letztlich unbegriffene Entropiegesetz kausal aus der klassischen Mechanik ableiten zu müssen, deren Grundlagen dafür keinen Platz haben), könne einem in Deutschland nur Jordan einigermaßen zuverlässig vermitteln, was um Entropie herum helle Behauptung und was wirklich erwiesen sei.

Solche Einschätzung wollte natürlich nicht in meine physikalische Welt passen - Weltverständnis und Größe gehörten irgendwie nicht zusammen. Ersteres hatte schließlich jeder; ich zumindest glaubte, genug davon zu haben, um schon mal das zweite anpeilen zu können, wirkliche Größe, schließlich verstand ich die Welt doch sehr gut! Nun, Prof. Jordans Körperlichkeit hat uns inzwischen verlassen - seine weltverstehende Gestalt hat sich jedoch mit meiner Niederlage beim Versuch, seiner Allgemeinen Relativitätstheorie zu folgen, und der Hochachtung des wirklichkeitszugewandten Dr. Kundt (dem ich für das Stipendium an die Yeshiva University danken möchte, das mich paradoxerweise der Welt der Physik endgültig den Rücken kehren ließ) zu einer undurchsichtigen Gewebelage verknüpft, vor der ich mir bis heute Höllenrespekt bewahre. Die Kopernikus-Galilei-Studie schrieb Jordan einige Jahre, nachdem ich ihn so senilisiert schon weggedämmert habe wahrnehmen wollen, sie verrät mir heute ungebremste Geisteskraft und erst jetzt, da ich selbst ganz gern einer honorierten Emeritierung entgegenhoffen würde, beginnen sich in meinem Respekt Konturen eines vagen Begreifens abzuzeichnen.

Kopernikus habe sein Werk aus Angst vor der "Verachtung, welche ich wegen der Neuheit und der scheinbaren Widersinnigkeit meiner Meinung zu befürchten hatte" gar nicht erst veröffentlichen wollen - zu Recht, denn vor der Entdeckung der Gravitation war absolut wahnsinnig, die Erde als um sich selbst sich drehenden Körper zu begreifen. Tycho Brahe, aus dessen präzisen astronomischen Messungen Kepler später seine Planetengesetze ableitete, wies damals darauf hin, daß solche Rotation die Erde zerreißen würde, die "träge dicke Erde" wäre nämlich, wie er schrieb, zu solcher Bewegung "viel zu ungeschickt", und hat deshalb die kopernikanische These als wohl anregend, im Endeffekt aber nicht haltbar abgelehnt - weil ohne Erdrotation mit der Erdbewegung um die Sonne zwar die Planetenbewegungen, nicht aber mehr die viel offensichtlicheren Bewegungen der Sterne zu erklären waren. Erst der Mathematiker Rheticus gab die kopernikanische Theorie für die Öffentlichkeit heraus, zusammen mit dem katholischen Gelehrten Osiander, der den Druck betreute und dem Buch ein Vorwort beigab, welches die kopernikanische Vorstellung vom Umlauf der Planeten um die Sonne als bloße Hypothese darstellte. Das stand in entsetzlichem Gegensatz zur Ansicht des eigentlichen Verfassers, zur Ansicht des Kopernikus, für den unmißverständlich feststand: "Alle Kreisbahnen (der Planeten) umgeben die Sonne, als stünde sie in aller Mitte, und deshalb befindet sich der Mittelpunkt der Welt in der Gegend der Sonne."

Osiander dagegen hielt für relativ belanglos, ob diese kopernikanischen Hypothesen nun wahr oder auch bloß wahrscheinlich seien, "sondern es reicht allein schon hin, wenn sie eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergeben." Diese vorsichtige Deutung sorgte dafür, daß die Kirche das Werk fünfzig Jahre lang nicht beanstandete. Bis schließlich Giordano Bruno und Galilei mit zum Teil - Prof. Jordan führt das genüßlich aus - aberwitzigen Begründungen die kopernikanische Interpretation in aller Konsequenz durchzusetzen versuchten. Galilei bekämpfte damals vehement eine Theorie von Ebbe und Flut, welche eine (vom heutigen Standpunkt aus richtige) Fernwirkung des Mondes postulierte. Eine solche Fernwirkung lehnte er als alchimistisch ab und erklärte stattdessen die Gezeiten auf Grund des kopernikanischen Modells in absurder Weise durch allein die tägliche Erdrotation bewirkt: wobei er übersah, daß mit der Fernwirkung des Mondes auch die Gravitationskraft verschwand, die allein der durch Rotation auseinanderstrebenden Materie zu Halt verhilft. Nun, Bruno wurde verbrannt, Galilei gerügt; Osiander und die Kirche dagegen bekamen die bekannt jahrhundertelangen Prügel für ihre - im Grunde nur allzu gut begründete - Vorsicht, während des Kopernikus Ansichten durch die Newtonschen Begründungen hundert Jahre später den Rang einer unbezweifelbaren Wahrheit erhielten und Galilei als ihr Durchsetzer gefeiert wurde.

Obwohl aber - das ist die groteske Ironie dieses Kapitels der Wissenschaftsgeschichte - Osianders Beweggründe und Zielsetzung anders ausgerichtet waren, käme, so Prof. Jordan, seine Betrachtungsweise dem heutigen physikalischen Denkstil erstaunlicherweise näher als die leidenschaftlich betonte kopernikanische Unterscheidung von "wahrer" und "scheinbarer" Bewegung. Denn ob wir die Bewegungsvorgänge im Planetensystem nun heliozentrisch oder geozentrisch betrachten, bedeutet für die - wie Max Born schrieb - "in der Allgemeinen Relativitätstheorie erreichte Erkenntnishöhe gar keine Veränderung." In ihr sind beide Betrachtungsweisen peinlicherweise gleichberechtigt. Und schlimmer noch: Es mute wie eine Vorwegnahme entscheidender Gedankengänge aus der Physik des 20.Jahrhunderts an, daß Rheticus in dem durch die Auseinandersetzung mit Osiander entfachten Gedankenaustausch (in - wie Prof. Jordan bemerkt - "Heisenbergschen Formulierungen, könnte man sagen") den Plan eines Werkes faßte, "durch das ich die Astronomie von Hypothesen befreie, indem ich mich ausschließlich an Beobachtungen halte."

"Wirtschaftliche Notwendigkeiten", fährt Jordan fort, und als ich das las, stieg mein Respekt für seinen feinen Humor ins Unermeßliche - "die ihn zum Überwechseln von der Mathematik in die Medizin nötigten, haben die Verwirklichung dieses kühnen Planes verhindert." So daß sich mit einigem Recht sogar argumentieren ließe, gerade die rechthaberische Plumpheit Galileis hätte dem vorsichtigen Abwägen eines Rheticus die Butter vom Brot genommen, ihn in die Medizin gedrängt und den Fortschritt der Physik um 400 Jahre verzögert.

Unter dem Eindruck solcher Umbewertungsmöglichkeiten weit größerer menschlicher Errungenschaften als der meinigen möchte ich in diesem Manuskript gar nicht erst versuchen, recht zu haben, auch wenn es manchmal so klingt, beim ersten Schreiben sogar gemeint war. Stattdessen möchte ich der Kirche um den Erzählenden Film - und dazu zählen viele, die sich heute lautstark zum narrativen Film, man muß es so sagen, bekennen! - ein Angebot machen. Diese Arbeit will vor allem ein Vorschlag sein, mit dem gewisse Erscheinungsformen bei Spielfilmen: auch! beschrieben werden können. Oder in den Worten Osianders: es reicht schon, wenn sich aus meinen Überlegungen und gelegentlich exzentrisch anmutenden Begründungen eine einigermaßen mit den Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergibt. Nicht mehr, auch nicht weniger.

In diesem Vorschlagsangebot möchte ich aber wirklich bescheiden wirken, und nicht die verlogene Bescheidenheit von Herrn Brechts Keuner imitieren, der sich auf sein Grab ja auch nur das "Er hat Vorschläge gemacht" setzen lassen wollte und dabei lässig übersah, daß diese Vorschläge, mit Maschinengewehren durchgesetzt, Millionen verhungern und in Sibirien verenden ließen. Nichts in dieser Richtung ist im folgenden beabsichtigt, im Gegenteil:

Ich verstehe die Allgemeine Relativitätstheorie noch immer nicht, und werde sie wohl auch nicht mehr verstehen, bin aber - und war es in mich heute überraschender Weise eigentlich immer - in meiner künstlerischen Arbeit durchaus bereit, ihr darin zu folgen, daß die subjektive Wahrnehmung als einzig zuverlässiges Koordinatensystem übrig bleibt und daß es wesentlich darum geht, diese subjektive menschliche Wahrnehmung ohne Zweck und ideologische Obertöne wiederzugeben - ansonsten fühle ich mich zufrieden als biederer Geometer, der Freude daran hat, die Welt zu befahren und sie mit seiner beschränkten Vernunft zu ermessen.

Und dennoch: Warum so viel Mühe? Wohl habe ich mittlerweile einiges von dieser Schnitt-Theorie unterrichtet, aber eigentlich sehe ich keine Notwendigkeit, auch vor mir selbst nicht, sie so ausführlich darzustellen. Es mag ein Bedürfnis nach einer Schrift über den Schnitt in Form eines knappen Kompendiums für Praktiker geben - diesem Bedürfnis verdanke ich ja die Gelegenheit, unterrichten zu dürfen; doch zur Herstellung eines solchen Kompendium fehlt mir das Interesse. Was also ist es, was mich zu dieser absonderlichen Form geführt hat, in die ich so nebenbei möglichst viele meiner Ansichten zum Film einfließen lassen möchte - ich weiß es nicht. Warum mache ich nicht stattdessen mit mehr Energie Filme? Vielleicht habe ich schon so viele gemacht, daß es auf einen mehr oder weniger nicht ankommt; ich habe auch das Gefühl, daß ich mich in ihnen perfekt ausgedrückt habe - auf zwei, drei weitere kann ich gern verzichten. Dennoch: ich tue zwar so, als arbeitete ich auf eine Veröffentlichung hin, bemerke dabei aber auch, wie dieses Buch mit jedem neuen Absatz, den ich dabei einfüge, ausufernder und unlesbarer wird, fast belletristisch, mit freilich einem so seltsamen Helden, daß allmählich niemand mehr das Resultat entziffern kann. Der Held dieser seltsamen Anstrengung ist natürlich ein Teil von mir, ein Teil meines Ichs, und dieses Ich landet allmählich bei der Erkenntnis des Heiligen Augustinus: "So ist der Geist zu eng, sich selbst zu fassen. Wo aber ist es, was er an Eigenem nicht fassen kann? Ist es etwas außer ihm, nicht in ihm selbst? Wie also faßt er's nicht? Ein groß Verwundern überkommt mich da, Staunen ergreift mich über diese Dinge." und kann nicht glauben, daß sich das, selbst nach 1500 Jahren naturwissenschaftlicher Entwicklung kaum geändert hat.

Manchmal denke ich aber auch, daß in der Verankerung einer Theorie in Person und Werk eine größere Wahrheit angelegt ist, als sie ein bloßes Kompendium bieten kann. So habe ich von allen Harmonielehren nur die Schönbergs verstanden. Andere enthalten wohl mehr oder weniger das Gleiche, schienen mir aber trotz ihrer relativen Kürze aus bloß Aneinanderreihungen willkürlicher Regeln zu bestehen - bei Schönberg bildete ich mir ein, wirklich etwas zu verstehen; keine Ahnung, womit das zusammenhängt, vielleicht ist es eine fixe Idee. Verblüfft hat mich freilich, daß neuere Darstellungen der Harmonielehre die Arbeit Schönbergs nicht einmal in den Quellenangaben meinen erwähnen zu müssen. Weil er als Überwinder der Harmonielehre gilt, wird getan, als hätte es seine Anstrengung auf diesem Gebiet nie gegeben. Man liebt eben - und auch dazu gibt es einen Kommentar des Heiligen Augustinus - an der Wahrheit das Licht, haßt aber an ihr das Gericht.

Prof. Jordan läßt seinen Kopernikusaufsatz freilich vorsichtiger enden: "Dem besinnlichen Betrachter fällt der Eifer auf, mit welchem - in weiter Verbreitung - altmodische Neigungen gepflegt werden, naturwissenschaftliche Entscheidungen aufgrund apriorischer Urteile statt aus Erfahrungstatsachen ableiten zu wollen. Zwar scheint die Meinung, daß auch das organische Leben dieses Planeten Beispiel einer in einer Fülle von Beispielen vorhandenen Erscheinung sei, in geradliniger Fortsetzung des kopernikanischen Gedankengangs zu liegen. Aber nicht immer ist die geradlinige Fortsetzung eines Weges auch die richtige."

Und darin liegt mehr Wahrheit als ich früher vermutete, auch in Bezug auf die Schönbergsche Anstrengung. Zum Beispiel hielt ich Film lange vermessen für eine Art Sprache und wähnte mich - wie lange liegt das jetzt zurück? - auf dem Weg zu ihrer Grammatik; bis ich zufällig jemandem gegenübersaß, einem gewissen Grahame Weinbren, meine ich, der mir ganz nebenbei erklärte, daß das nicht angehen konnte. Wieso? Es gäbe nämlich im Film nicht einmal die Negation, und das wär das mindeste, was eine Sprache aufweisen müsse, wenn sie als solche gelten wolle. Und in der Tat: wie eigentlich will man Worte wie "kein", "nicht" oder "nein" im Film darstellen? Ich zumindest weiß es nicht. Und es stimmt, mein Gesprächspartner hat recht, jede Sprache enthält, wie wir zu unserer Verblüffung irgendwann einmal bei unserer eigenen feststellen, ganz entschieden das Wort "Nein!". Offensichtlich ist der Begriff "Filmsprache" ähnlich vage wie "die Sprache der Augen" oder gar "die Sprache des Windes". Und wenn Film keine Sprache enthält, daran zweifle ich inzwischen nicht mehr, gibt es in ihm auch keine Grammatik. Daher habe ich mir erlaubt, im schon veröffentlichten Teil dieser Arbeit Begriffe wie "Filmsprache", "Grammatik oder "Filmgrammatik" durch den schlichteren Ausdruck "narratives System" zu ersetzen, denn daß ein System dahinter steckt, werden wir im Folgenden schnell begreifen lernen. Und das ist vielleicht, wenn man so will, das Hauptmanko des narrativen Systems: daß es überaffirmativ ist und weder "Nein!" sagen kann noch will - und sich allem und jedem zur Verfügung stellt. Darin ähnelt es ironischerweise wieder wirklicher Sprache.

Mag sein, daß vieles des hier Dargestellten nicht des Darstellens wert ist - diese Meinung teile ich nicht, doch vielleicht bilde ich mir nur ein, daß das meiste, was hier ausgebreitet wird, von manchem vielleicht gedacht, von kaum jemandem aber schriftlich auch nur angedeutet und gewiß von niemandem so zusammenhängend dargestellt worden ist. Eine Zeitlang - das wiederum war sicher zu verwegen - befand ich mich in dem Glauben, diese Arbeit könnte für das narrative System so etwas sein wie die Harmonielehre für die Musik. Auch von einer "Sprache der Musik" wird ja immer wieder geredet und man hat es bei ihr doch nie zu einer Grammatik gebracht. Ich wollte also so etwas wie eine Harmonielehre des Films entwickeln und die elementaren Zusammenhänge des uns schon Vertrauten so klar darstellen, daß man danach zum Wesentlichen und Neuen, auch danach noch Möglichen übergehen kann. Wenn Film aber nicht einmal Sprache zu werden in der Lage ist, warum dann so viel Aufhebens um etwas, das - da braucht man sich nichts vorzumachen - künstlerische Leistungen vom Range des Spätwerks Beethovens bisher jedenfalls noch nicht hervorgebracht hat. Im Grunde wären unsere Betrachtungen Rheticus und Osiander betreffend dann gegenstandslos - diese beziehen ihren Wert schließlich aus der objektiv erstaunlichen Leistung des Kopernikus. Aber ich habe den Eindruck, daß das narrative System unterschätzt wird: weil es bisher vor allem als etwas angesehen wurde, mit dem man berühmt werden und Geld verdienen kann - ähnlich wie die numerische Mathematik unterschätzt wurde, solange sie als Buchhalterkunst nur zur Geldverwaltung diente.

Das narrative System ist erstaunlicher als man denkt. Es ist nämlich keinesfalls selbstverständlich, daß Einstellungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Stellen der Welt aufgenommen worden sind, vom Zuschauer in der Projektion als zeitlich und räumlich zusammenhängend begriffen werden können - das ist etwas sehr Erstaunliches, um nicht zu sagen Ungeheures, etwas, wovon die Erfinder von Photographie und Film nicht haben träumen können und dessen Tragweite meiner Ansicht nach bis jetzt noch gar nicht richtig gewürdigt ist. Es handelt sich dabei möglicherweise um etwas, was in Spielfilmen nur zufällig zum Vorschein gekommen ist, in Wirklichkeit jedoch auch ohne sie existieren könnte.

Offensichtlich handelt es sich bei diesem System um mehr als bloß eine Serie jener Sinnestäuschungen, wie sie in Büchern über Physiologie beschrieben werden. In diesen wird von einer intakten Welt ausgegangen, aus der heraus man eine Sinnestäuschung als solche begreifen kann. Das narrative System ist jedoch zu komplex, um auf diese Weise faßbar zu sein: im Kino täuscht man sich zu zuverlässig und schon zu lange, als daß man so etwas als Täuschung hinwegreden kann. Die Sinnestäuschung im Kino scheint vielmehr unsere Wahrnehmung von Zeit und Welt selbst zu betreffen, die anscheinend auch, und zwar prinzipiell nur über eine Art Sinnestäuschung stattfindet. In anderen Worten heißt das, daß die Sinnestäuschung die Wahrnehmung selbst ist, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es gar keine andere gibt.

Wem das zu vage klingt leuchtet vielleicht folgender Satz ein: Wenn sich das menschliche Gehirn von einem so simplem System wie dem narrativen zu einer solchen Zusammenhangsanstrengung veranlassen läßt, mit welchem Vertrauen nehmen wir eigentlich die Welt um uns herum dann eigentlich als zeitlich zusammenhängend wahr? "Groß ist die Macht meines Gedächtnisses, gewaltig groß, O Gott, ein Inneres, so weit, so grenzenlos." schreibt Augustinus im fünften Jahrhundert zu seinen Bemühungen, die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses zu verstehen, und in der Tat stellen wir ja erst durch unsere Gedächtnisleistungen so etwas wie Kontinuität in der Wirklichkeit her. Nicht daß ich glaube, daß eine Analyse des narrativen Systems auf erkenntnistheoretische Fragen dieser Art Antwort liefern kann, im Gegenteil: irgendwann wird sich das Verständnis des narrativen Systems vielleicht einmal auf eine Theorie der Zeit stützen können, von der wir bislang ja, wie die neuere Physik zu ihrer Verblüffung hat feststellen müssen, nur die allerjämmerlichsten Vorstellungen haben - aber bis es soweit ist, lohnt es sich, jede vom menschlichen Gehirn mit Hilfe des Gedächtnisses erfaßbare Zeitstruktur genauer zu untersuchen, so genau, wie es eben geht. Es gibt nämlich - und das ist überraschend - erstaunlich wenige solcher Systeme. In der Musik fand die Menschheit ein anderes. Jedes von ihnen ist ein erstaunliches Geschenk.

Dank also an Professor Jordan und seine schärfsten Verstand reflektierende Bescheidenheit. Dank aber auch an Filmmacher wie Jack Smith, David Larcher und Jonas Mekas, die Professoren Ken Jacobs, Larry Gottheim, Ernie Gehr, Paul Sharits und Tony Conrad, deren verstehende Intuition Ähnliches und ähnlich Großartiges zustande brachte und mich in meiner frühen Filmarbeit freundlich ermutigte. Und Dank schließlich an den verstorbenen Hollis Frampton, ohne dessen Aufsatz A PENTAGRAM OF CONJURING THE NARRATIVE ich das Interesse an Film wohl bald wieder verloren hätte, um mich eher versicherungstechnischen Problemen zuzuwenden.

Dank an die Studenten der HfBK Hamburg, HBK Braunschweig, SUNY Binghamton, Ohio State University, wieder der HfBK Hamburg und schließlich der Fachhochschule Dortmund, die vor allen das frühe Stadium meiner Überlegungen erdulden mußten, speziell auf dem Gebiet der offenen Schnitte und Rückschnitte, das ich eigentlich erst im letzten Jahr zu beschreiben lernte. Dank aber auch Institutionen wie dem Whitney Museum, dem Millenium Filmworkshop New York, dem Literaturhaus Hamburg, der Akademie der Künste Berlin und dem Filmmuseum Frankfurt, wo ich habe Vorträge halten dürfen, deren Überlegungen in diesen Text einflossen, und - last not least - an Heinz Emigholz, dessen Arbeit die meine seit inzwischen über zwei Jahrzehnten irgendwie begleitet und ohne den ich jede Orientierung darin verloren hätte.


Hamburg, im Sommer 1993; überarbeitet im Sommer 1998 - K.Wyborny


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EINFÜHRUNG: ZUM SCHNITT IM KONVENTIONELLEN SPIELFILM (1974/93)

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