K. Wyborny

DAS LETZTE JAHR

(Festttage, fasti)

---- THE LAST YEAR (Festive Days, fasti) ----

124 Minuten Digibeta 2003 - 2009

Produktion, Regie, Buch, Kamera, Musik, Schnitt: K. Wyborny

Gedreht in einem Jahr voller Todesahnungen; täglich einige Bilder, die mir, ohne Rücksicht auf ästhetischen Anspruch, wirklich gefielen.
Shot in a year full of premonitions of death, each day a few images I really liked

in lockerer Anlehnung an Ovids "fasti", in drei Teilen
loosely based on Ovid, in 3 parts

Teil 1 - Part One: Herbst und Winter - Fall and Winter (61 Min)
Teil 2 - Part Two: Gegengesang - Countersong (46 Min)
Teil 3 - Part Three Von der Wiedergeburt - On Rebirth (17 Min)


Uraufführung 29. 10. 2009 auf der Viennale Vienna International Filmfestival Wien

(mit englischen Untertiteln, with English subtitles)


aus dem Text des zweiten Teils:

Natürlich gehört zu diesen drei Büchern ein viertes. Ein so verwirrter Charakter wie unser Held hätte die ersten drei kaum schreiben können. Dazu braucht es einen klareren Kopf, und man muß daher in einem wesentlichen Kern noch um vieles verwirrter sein. Insofern müßte es im vierten Buch konsequenterweise um mich gehen, um meine Wenigkeit. Doch angesichts der rohen, jedwede Vernunft beleidigenden Substanz dieser fast fünfhundert Seiten, die ich in den letzten acht Wochen, beginnend bei einem Kurzurlaub in Ostende, wie ein vollkommen Besessener in mein Notebook getippt habe, ohne sonst irgendwas übers Allertäglichste Hinausgehende zu tun, überfällt mich eine unglaubliche Fassungslosigkeit.

Eigentlich müßte ich daher diese jetzt zu beschreiben beginnen. Aber dazu müßte ich sehr weit ausholen. Dazu müßte ich zumindest beschreiben, was ich sonst seit Jahresbeginn getan habe,

müßte ich über meine lange Krankheit berichten, die dazu führte, daß ich mit dem Rauchen aufhörte,

müßte ich über meinen langen Gespräche mit Durs Grünbein berichten, müßte ich über Ausonius und Claudianus sprechen und über den Untergang des römischen Reichs, über die unfaßbare Länge seiner Dauer, müßte ich auf unseren Versuch eingehen, uns der römischen Todesgöttin Proserpina zu nähern, der griechischen Persephone,

müßte ich davon sprechen, daß ich seit letztem September, als sich ein befürchteter Prostatakrebs als Irrtum erwies, ein filmisches Tagebuch anfertige, worin ich mit der Videokamera täglich einige Bilder aufnehme, die mir wirklich gefallen (zuerst täglich drei, seit der Jahreswende vier, seit dem Frühlingsanfang fünf oder sieben),

müßte ich über einen Besuch berichten, den ich Anfang März meinem Vater abstattete, wobei ich erfuhr, daß er sich, nachdem er, aus Heidelberg kommend, meine Mutter am 11. März in einem Elbdorf geheiratet hat, vom 13. März bis zum 29. April 1945 in Berlin aufgehalten hatte, von wo er sich allein nach Schwerin durchschlug, wo er am 2. Mai in englische Gefangenschaft geriet, aus der am 3. Mai entkam, um am 6. Mai bei Boitzenburg über die Elbe zu schwimmen und von da auf nächtlichen Fußmärschen, denn tagsüber wäre er unweigerlich wieder in Gefangenschaft geraten, das Elbdorf zu erreichen, wo er geheiratet hatte, das sachsen-anhaltische Roeben, wo er am 15. Mai ankam und wo ich dann am 5. Juni geboren wurde...


Some text from Part 2:

Of course those three books need a fourth one. Because our hero is such a confused character, that he couldn't have written them. You'd have to be much saner and, in a certain sense, even more confused. Therefore, the fourth book should be about me. But looking at the crude, reason-defying substance of the almost 500 pages I maniacally typed into my laptop over the last eight weeks,starting during a short break in Ostend, and only pausing for the most basic activities, I feel utterly bewildered.

So I should be writing about this bewilderment, but that would mean going really far back and at least describing what else I've done this year.

I'd have to talk about my long illness which made me stop smoking.

I'd have to talk about my conversations with Durs Grünbein, about Ausonius and Claudianus, about the incredibly long fall of the Roman Empire, and about our approaches to Proserpina, the Roman goddess of death, Persephone to the Greeks.

I'd have to say that since September, when it turned out I didn't have prostate cancer, I've been keeping a video diary, for which I record a few shots I really like every day, shooting initally three, then four a day. Since spring it's been five or seven. *

I'd have to talk about a visit to my father in March, when he told me that he, on his way from Heidelberg, had married my mother in a little village by the Elbe, and that he'd been in Berlin between 13 March and 29 April 1945, from where he made it to Schwerin, where he was captured by the English on 2 May, escaped on 3 May and swam across the Elbe on 6 May. He walked by night so as not to be recaptured and eventually reached the village where he got married, Roeben in Saxony-Anhalt, on 15 May, and where I was born on 5 June.>


Nichts beschreibt Klaus Wybornys neuen Film besser als der von ihm selbst verwendete Begriff "Meine Wenigkeit". Der Blick aus dem Fenster auf Bäume, Mauern, Balkone. Der wilde Wein ist feuerrot geworden im Lauf des Jahres. Der drohende Tod hat sich ins alte Leben aufgelöst. Besessen und fassungslos zugleich füllt Wyborny die filmischen Seiten seines Tagebuchs mit verzweifelter Ironie, aber ohne die leiseste Sentimentalität. Pferde neben der Straße im täglichen Vorbeifahren, das Meer in Ostende, die flüchtige Begegnung mit einer fremden Frau im Hotel und so weiter und so fort. Seine Wenigkeit. Wenig im Verhältnis wozu?

Wyborny forever!


(aus dem Katalog der Viennale 2009)


Zwischentitel und vollständiger Text
Titles and complete English text


Stimmen:
Rainer Knepperges
Stefan Ripplinger
Antoine Thirion, Independencia, 30. 10. 2009


Photos:




Hommage an Eugène Boudin
(1824-1898)


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