K.Wyborny

ÜBER EINE MUSIKALISCH-RHYTHMISCHE FILMFORM

(1985)


In den letzten Jahren habe ich im Rahmen der verschiedenen Ausformungen des Avantgarde- oder Experimentalfilms versucht, eine besondere Spielart dieses Genres durch eine Reihe von Arbeiten zu stabilisieren. Ausgangspunkt war dabei das Werk von Filmmachern wie Kubelka, Kren, Markopoulos, Sharits und Conrad, und das Resultat ist eine entwickelte Filmform, die man am ehesten vielleicht als musikalisch-rhythmisch bezeichnen könnte.

Das Erscheinungsbild dieser Filmform ist für den ungeübten Zuschauer ein irgendwie geordnetes Geflacker von schnell wechselnden Einstellungen, ähnlich wie Musik jemandem, der nie welche gehört hat, zunächst nur eine mysteriös organisierte Folge schnell wechselnder Geräusche sein kann.

Nach ein wenig Übung zerfällt Musik für die meisten von uns in zwei wesentlich voneinander verschiedene Teile; zum einen in denjenigen, den man gleichsam mitklopft, der sich also mit der zeitlichen Ordnung des Wechsels der Tonerscheinungen befaßt, mit dem, was man im lockeren Sprachgebrauch als Rhythmus bezeichnet; und zum anderen in den Teil, den man sozusagen mitsummt, der also grob gesagt mit den Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen zu tun hat, dem, was im wesentlichen durch Begriffe wie Melodik und Harmonik umrissen wird. Diese beiden Teile stehen in intimer Wechselwirkung miteinander, einer Wechselwirkung, für die geübte Hörer ein gewisses Gefühl bekommen, die aber halbwegs genau zu fassen selbst Spezialisten nur gequält gelingt.

Von hier ausgehend ist sofort klar, daß das meiste von dem, was Musik auf rhythmischem Gebiet geleistet hat, im Prinzip auf Film übertragbar sein müßte. Dem Erscheinen eines neuen Geräuschs oder Tons in der Musik entspräche dabei das Erscheinen eines neuen Bildes. Eine Schnitttheorie des Films wäre dann der Rhythmustheorie der Musik verwandt und nicht so sehr, wie bislang üblich, den Mustern der realistischen Erzählung. Bei der Melodik wird solche Übertragung dagegen nicht so ohne weiteres funktionieren - schon allein wegen der Schwierigkeiten, so etwas wie einen visuellen "Ton" zu definieren, aus welchem über Obertonreihen eine physikalische begründbare Harmonielehre ableitbar wäre. Daraus ergibt sich wohl, daß von komlizierteren musikalischen Aspekten wie Harmonik und ähnlichem bei einer Übertragung auf Film ebenso wenig zu erwarten ist.

Nun bleibt jemandem, der länger mit Film gearbeitet hat, nicht verborgen, daß es auch bei der Verknüpfung zweier Einstellungen durch einen Schnitt Übergänge von unterschiedlicher Qualität gibt, die im Cutterjargon irgendwo zwischen "ausgezeichnet" und "unmöglich" bewertet werden. Solche Bewertungen sind bei Kontinuitätssprüngen noch einigermaßen begründbar, in den meisten anderen Fällen jedoch muß ein lapidares "das sieht man doch" zur Erklärung von Qualität ausreichen. Das erinnert interessant an Geigenunterricht, wenn dem noch unbeholfen musikalischen Schüler mit einem "das hört man doch" den Griffpunkt "erklärt" werden muß, und so liegt die Vermutung nahe, daß sich in den Cutterhirnen bei der Schnittbeurteilung der Ansatz zu einer visuellen Melodik verbergen könnte.

Da der menschliche Organismus zwar über einen ausgesprochen entwickelten Zeitsinn verfügt, diesen verbal aber nur unzulänglich artikulieren und analysieren kann, werden an dieser Stelle weitergehende theoretische Überlegungen schnell akademisch und geraten unversehens ins Abwegige. Die Vorstellung, eine musikalisch-rhythmische Filmform theoretisch vollständig zu fassen bevor man Filme gemäß dieser Form macht, scheint kaum weniger absurd wie der Versuch, mit den Harmoniekenntnissen des vierzehnten Jahrhunderts eine Beethovensonate erahnen zu wollen. Voraussetzung für weitergehende sinnvolle Theoriebildung ist eine mit ihr Hand in Hand arbeitende Praxis.

 

Diese Einsichten versammelte ich Mitte der siebziger Jahre zu einer langfristig angelegten Strategie, die folgendes leisten mußte:

1. Es mußte eine Produktionsweise gefunden werden, die die Herstellung musikalisch-rhythmischer Filme mit einem vertretbaren Zeit- und Finanzaufwand auf der Höhe der theoretischen Erkenntnisse ermöglicht.

2. Die entstehenden Filme müssen beim Sehen ein möglichst reiches Reservoir an visuellen Erfahrungen bilden, aus dem ein Maximum ästhetischer Erkenntnissen gewonnen werden kann.

3. Die Produktionsweise muß in der Lage sein, die beim wiederholten Sehen der Filme gewonnenen theoretischen und intuitiven Erkenntnisse zu integrieren.

4. In der Produktionsweise muß genügend Raum für künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten enthalten sein, möglichst mehr als in der Spielfilmform.

5. Die entstehenden Produkte müssen von Anfang an eine gewisse minimale Attraktivität aufweisen, um eine kontinuierliche Finanzierung aufrechtzuerhalten.

Diese Strategie verwandelte sich in den folgenden Jahren in eine Reihe von Filmen mit den Titeln

SECHS KLEINE STÜCKE AUF FILM - 35 MIN - 1977-78
UNERREICHBAR HEIMATLOS - 25 MIN - 1977-78
POTPOURRI AUS "ÖSTLICH VON KEINEM WESTEN" - 25 MIN - 1979
DAS SZENISCHE OPFER - 50 MIN - 1979-81

und zahlreichen kürzeren Studien.


Die Hauptschwierigkeit bei der Herstellung dieser Filme ist am deutlichsten zu erkennen, wenn man sich den Unterschied von notierter und gespielter Musik vor Augen hält. Musik läßt sich spielen, ohne daß eine präzise Notation vorliegt. Daraus ergibt sich beim Komponieren von Musik eine Arbeitspraxis, in der Spielen und Notieren in unmittelbarer Wechselwirkung stehen: man hört aus, was man geschrieben hat, und wenn einem dieses nicht ganz gefällt, modifiziert man das Gechriebene in kleineren Arbeitsschritten; oder man spielt etwas, bemerkt, daß es einem gefällt und notiert es anschließend.

Bei einem musikalisch-rhythmisch organisierten Film ist diese Arbeitspraxis bislang unmöglich, denn so etwas wie Live-Musik gibt es auf der Bildebene nicht. Alles, was dem ähneln könnte, ist so desorganisiert, daß rhythmisches Gefühl sich nur durch Zufall einzustellen vermag. Daher muß das visuelle Komponieren - wie der taube Beethoven - auf unmittelbares "Aushören" verzichten. Und das bedeutet, daß die Anforderungen an die Genauigkeit der rhythmischen Notation vor dem "Spielen" ungleich höher sind als in der Musik, in der gewisse Notationsunschärfen von den Musikern intuitiv präzisiert werden. Ein Beispiel dafür sind die drei Viertelnoten des Walzertakts, die verschieden lang gespielt werden müssen.

Theoretisch lassen sich Situationen herstellen, in denen ein interaktives Komponieren mit Bildern möglich sein sollte; man könnte dabei an ein Fernsehstudio mit Mischpulten für zwanzig Kameras und Recorder denken, mit denen man "live" arbeitet. Die Kosten einer solchen Anlage und die vielen Personen, die zu ihrem Betrieb nötig sind, lassen aber einen so delikaten Arbeitsprozeß wie das sich zaghaft vorantastende interaktive Komponieren im Moment ausgeschlossen erscheinen, und so hat das, was gegenwärtig aus diesen Studios in Form von Videoclips herauskommt, die rhythmische Sensibilität von Bulldozern. Eine feinere Arbeitsweise ist gegenwärtig unbezahlbar.

Andererseits ermöglicht die dem Film eigentümliche diskrete Zeitzerlegung der Sekunde in 24 oder 25 Einzelbilder die einfache und dazu noch billige Konstruktion von Rhythmen, die derart kompliziert sind, daß sie ein Musiker nur vereinfacht abgeschleift zu spielen vermag. Dabei kann eine Kamera, die von einfachen Mikroprozessoren gesteuert wird, Funktionen erfüllen, für die ein Tonstudio wegen der prinzipiellen Schwierigkeit der kontinuierlichen Bandaufzeichnung Großcomputer mit enormem Speicherplatz benötigt. Hier also, bei der Konstruktion komplizierter Rhythmen, bieten sich dem Film Möglichkeiten, die Musik nicht so ohne weiteres hat. //Anm.: dies wurde 1985 geschrieben, als es das MIDI-Format noch nicht gab, seither hat sich auf dem Gebiet der Sequenzer einiges verändert//

Aus all dem kristallisierte sich für mich eine Produktionsweise heraus, deren Hauptinstrument eine mikroprozessorgestützte Kamera ist. Dabei dienen die Mikroprozessoren der Steuerung von Bildhelligkeit und Bildlänge. Die Werte dieser Kameraparameter werden einer Arbeitspartitur entnommen, die im wesentlichen eine Folge von Zahlen ist, die den Mikroprozessoren eingegeben werden. Diese Zahlenfolge bestimmt die rhythmische Grundstruktur des fertigen Films, liefert also gleichsam das zeitliche Korsett. Die Herstellung einer solchen Arbeitspartitur ist das Hauptproblem der musikalisch-rhythmischen Filmform. Um zu ihr zu gelangen, ging ich in der Regel von einer Grundpartitur aus, die in der musiküblichen Notationsweise geschrieben ist. Zu ihr gelangt man duch das übliche komplizierte Wechselspiel von Idee, Inspiration, Logik, Zufall und Überzeugung, das musikalischen Kompositionen zu Grunde liegt, und das sich nicht ohne Qualitätsverlust serialisieren läßt. Der Vorteil der Musiknotation gegenüber dem Zahlenschema der Arbeitspartitur besteht in größerer Übersichtlichkeit und damit vereinfachter Handhabung der einzelnen rhythmischen Elemente bei der Komposition. Das allerdings geht auf Kosten der Präzision (wir erwähnten das Längenproblem bei den Vierteln im Walzertakt).

Von der Grundpartitur gelangt man durch eine schematische Übersetzung, in der die Viertel, Achtel etc. jeweils gleichlang sind, zu einer schematischen Arbeitspartitur, die auch durch ein einfaches Computerprogramm erzeugt werden kann (wobei das den Vorteil hat, daß gleichzeitig relativ komplizierte, sich wiederholende mechanische Rechenoperationen, wie sie bei der Simulation von Mehrstimmigkeit durch eine einzelne Stimme auftauchen, durch das Programm gelöst werden können). Der nächste Schritt aber, der Übergang von dieser schematischen zu der wirklichen Arbeitspartitur, kann nicht mehr von einem Computerprogramm übernommen werden, weil sich in ihm das Interpretationsgwefühl der ausführenden Musiker entfaltet, der Unterschied also von notierter und gespielter Musik. Dieser Bereich ist, bisher jedenfalls, nur intuitiv erfaßbar; alle systematischen theoretischen Versuche in dieser Richtung sind nur grob qualitativ und für die Praxis wenig brauchbar. Hier befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Schwachstelle einer musikalisch-rhythmischen Filmform. Um hier mehr leisten zu können als intuitive Zahlenjongliererei habe ich akustische Repräsentationen der schematischen Arbeitspartitur zwischengeschaltet, die ich mit Hilfe von feinstimmbaren Synthesizern und Sequencern erstelle. Durch die Spannungssteuerung dieser Geräte kann man //Anm: Anfang der achtziger Jahre ging es nicht einfacher// mit Stimmgeräten kleinste zeitliche Veränderungen in rhythmischen Strukturen kontrollierbar erzeugen und aushören. Klingt einem diese Struktur zu mechanisch, kann man sie gezielt ändern und gelangt schließlich sich allmählich vorwärtstastend zu einer brauchbaren Arbeitspartitur. Dabei handelt es sich um ein wenig elegantes, mühsames, zeit- und konzentrationsaufwendiges Geschäft; schon bei leichter Ermüdung geschieht Seltsames mit dem rhythmischen Gefühl.

Im Moment (1985) versuche ich diesen komplizierten Prozeß durch Anschluß des erwähnten Computerprogramms an Computergraphiksysteme zu visualisieren. Zwar wird die Erlangung der endgültigen Arbeitspartitur dadurch nicht weniger mühselig (auch hier muß manuell eingegriffen und intuitiv korrigiert werden, denn das Wissen reicht zu einer vollmaschinellen Verarbeitung nicht aus); es hat aber den Vorteil, daß man im Bereich der visuellen Rhythmik bleiben und so einige Phänomene der visuellen Melodik und ihrer Wechselwirkung mit rhythmischen Systemen gleichzeitig mituntersuchen kann. Allerdings gibt es hier selbst bei einfachsten graphischen Strukturen erhebliche Echtzeitprobleme, die sich möglicherweise nur durch undiskutablen Finanzaufwand beseitigen lassen.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß diese Erarbeitung der endgültigen Arbeitspartitur trotz all der technischen Details ein eher kreativer Prozeß ist, der ein Äußerstes an Sensibilität verlangt. In ihm entscheidet sich die rhythmische Qualität des Films, und weil das Melodische vom Rhythmischen nie getrennt existiert, kann hier schon jeder noch so gut durchdachte Ansatz zu visueller Melodik scheitern. Ich bin dabei, diesen bisher sehr komplizierten Prozeß etwas zu vereinfachen, indem ich erst die rhythmische Struktur einer Musik einspiele, dann deren zeitlichen Verlauf mit Hilfe von Computersystemen zu analysiere, und schließlich auf diese Weise zu einer machinenproduzierten Arbeitspartitur zu gelangen, die das natürliche musikalisch rhythmische Empfinden reproduziert. Die Idee klingt allerdings einfacher als die technische Ausführung. Es hat sich herausgestellt, daß die Programme, die man dazu benötigt, (und weil man sie als einziger benötigt, selber schreiben muß), sehr viel komplizierter sind, als man zunächst denkt - der Teufel steckt im Detail.

Ist die Arbeitspartitur fertig, kann mit dem Drehen begonnen werden, und damit kommen wir zum zweiten Teil dieser Arbeit, der sich mehr mit dem beschäftigen soll, was auf den Bildern zu sehen ist und wie man zu ihm gelangt. Dieses Drehen unterliegt auch in einer rhythmisch-musikalischen Filmform dem üblichen komplexen Prozeß, bei dem Planung, Improvisation, Konzentrationswille, Ausdrucksbedürfnis, architektonischer Ehrgeiz, Botschaft, Wille zu Emotionalität und Theoriebildung, Zufall und was immer sonst einem in diesem Zusammenhang einfällt, ein Netz von der Art knüpfen, die einem gefällt. Das Drehen ist das Zentrum der meisten Filmproduktionen, der Ort, an dem abstrakte Konzepte gewissermaßen zu Fleisch werden sollen, es ist, wenn man es ernst nimmt, ein transzendentaler, ein göttlicher Ort. In ihm konzentriert sich, mit etwas Glück, die Essenz schöpferischer Wahrnehmung. Solch mythisch klingende Verklärung mag Personen, die einige Erfahrung in Filmproduktion haben, abgeschmackt und peinlich übertrieben klingen. Für mich aber wäre das Filmgeschäft ohne zumindest eine Ahnung von dieser Verklärung eine absurde Übung in forcierter Geselligkeit - seelenlos, tot. Kunstproduktion ist immer noch ein transzendentaler Ort, da kommt kein noch so profanisierendes Gerede gegenan. Was durch solch entwertendes Gerede geändert wird, ist nicht die Kunst, sondern nur der Platz der Kunst in den Gesellschaften und als Reaktion darauf gelegentlich die Art der Transzendentalität.

Erklärungen dieser Art wirken selbstverständlich peinlich, weil sie Zurschaustellungen von privaten fixen Ideen ähneln. Zwar ist gerade diese Empfindung von Peinlichkeit ein urtranszendentales Gefühl und meiner Ansicht nach verankert in der europäischen Angst, das zu offenbaren, was einen im Inneren zusammenhält - schon Amerikaner denken da anders - aber ich will das an dieser Stelle nicht weiter verfolgen und zum festgefügteren Terrain der Bemühungen um eine musikalisch-rhythmische Filmform zurückkehren. Wie kam es überhaupt dazu?

Von den verschiedenen Tätigkeitsbereichen, denen man beim Filmmachen begegnet, vermochten eigentlich nur zwei in mir jene schöpferische Erregung zum Klingen zu bringen, die für mich Zeichen von Kunstproduktion ist: der eine Bereich, und das ist fast trivial, denn es geht wohl allen Filmmachern so, ereignet sich in den Phasen, die der Fertigstellung eines längeren Blocks unmittelbar vorausgehen; wenn man spürt, daß man beinahe fertig ist und nur noch wenige, unter Umständen entscheidende Korrekturen vollziehen muß, um das Ganze zu einem sich organisch anfühlenden Fließen zu bringen. Es gibt dann in einem eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, mit der man das Atmen eines Organismus in seinem Werk spürt und seine kleinen Krankheiten kurieren möchte. Diese Sensibilität hat eine hohe erotische Qualität und ist vielleicht das, was einen Mann der Erfahrung von Mutterliebe am nächsten bringt, eine merkwürdige Simulation, in der der fertige Film die Rolle eines wohlgeratenen Kindes übernimmt. Ich selbst kann die Intensität dieses seltsamen Gefühls höchstens eine halbe Stunde halten; schon ein Rollenwechsel zerstört es, und so neige ich dazu, meine Filme in dreißig- bis vierzigminütige Blocks zu zergliedern. Interessant ist, daß dieses Gefühl sich meistens am Schneidetisch ereignet, einer Maschine, die ich in allen anderen Produktionsphasen samt den dazugehörigen Schnittwerkzeugen eher verabscheue.

Der andere Bereich der Filmherstellung, in dem das göttliche Feuer gelegentlich glimmt, ereignet sich bei den Dreharbeiten. Als Nichtkatholik habe ich allerdings wenig Freude an gesetzten Lichteffekten und ähnlichen Maskierungen der Marienverklärung. Wenn bei Dreharbeiten die Lichtmänner an der Reihe sind, schlafe ich ein. Leider werden Innenaufnahmen dadurch schwierig, und so muß meine Kreativität auf freiem Feld vagabundieren, beleuchtet allein vom Finger Gottes, der Sonne, der überall auf der Welt kleine vertikale Strukturen begegnen (Bäume, Häuser, Fabriken), mit denen die Menschen versuchen, das sie umgebende Weltall zu kitzeln. Hier draußen fühle ich mich dem Universum näher. Nicht daß das ein besonders angenehmes Gefühl wäre, im Gegenteil, gewöhnlich versuche ich geradezu zwanghaft, es zu vermeiden, aber wenn man schon einmal den vermessenen Kraftakt der Kreativität zu vollziehen sich anschickt, ist es besser, eine Art Kontakt mit dem Universum aufrechtzuerhalten. Nun begegnet einem solchen Selbstverständnis kaum etwas Lächerlicheres als daß sich neun Männer und eine Frau in ein paar Autos setzen, irgendwo anhalten, eine Kamera auspacken, sie auf ein Stück Welt richten, einige von sich auffordern durchs Bild zu gehen, dies zu drehen, die Geräte wieder einzupacken, in die Autos zu steigen, und das war es dann - zwanzig Sekunden geballter Kreativität, die irgendwann einmal, hoffentlich, Platz in einem größeren Ganzen, einem sogenannten Film, finden wird.

Diese Art von Begehungsritual läßt sich natürlich interessanter machen und durch diverse Katholizismen verschönen (ein paar dieser Menschen gucken nacheinander durch die Kamera und sagen: "Oh, ein ziemlich interessantes Bild", oder der Regisseur feuert einen Darsteller an: "Du mußt das schon mit etwas mehr sexuellem Timbre machen, wenn diese Szene funktionieren soll, hier, ich zeigs dir mal"), aber als Ort der Transzendentalität, an dem das Gottesgeschenk der quantenmechanischen Weltabbildung (das ist Film nämlich auch!) gefeiert werden soll, läßt dies zu wünschen übrig, und so wundere ich mich nicht, daß Regisseure in die Studios flüchten, in denen das Verhältnis von Kreativität und hohlem Aufwand weniger groteske Formen annimmt (und schließlich kann man die Studios auch ehrfurchtseinflößend wie Kirchen einrichten: Ruhe bitte, es wird gedreht).

Als Protestant gerät man bei einem solchen Stand der Dinge in eine schwierige Situation. Mir fiel in diesem Zusammenhang vor allem ein, die Dreharbeiten auszudehnen; wenn man schon einmal den Weg nach außen gefunden hatte, so konnte man an diesem Ort statt drei, vier Einstellungen genausogut dreißig oder vierzig machen und den Wandertag zur Expedition, die ein bestimmtes Terrain genau erkundet und seine Atmosphäre in Bilder faßt. In einer solchen Herangehensweise wurden freilich die Darsteller zum Problem: war Landschaft zunächst Spiegel ihrer Emotionalität und sozusagen Kulisse, so wurde nun die Atmosphäre dominant und die Darsteller verwandelten sich allmählich in Objekte, die meckerten, weil ihnen das Drehen zu lange dauerte; und die zusätzlich noch die lästige Eigenschaft hatten, den Blick auf das Wesentliche zu verdecken. Es gab Orte, an denen hunderte von interessanten Bildern gemacht werden konnten, ohne sie zu erschöpfen - all das ging mit Film und war aufregend, doch nicht jedes dieser Bilder konnte Darsteller beherbergen oder einen Blick auf sich ziehen, der es zum Zwischenschnitt macht, das wäre ein absurdes Spiel. So geriet ich in einen Konflikt zwischen Vernunft und innerem Glauben: denn der Verzicht auf die Idee des Darstellers ist für einen Filmmacher hochgradig unvernünftig, verliert er doch dadurch mit Sicherheit sein Publikum, das, an die Spielfilmform gewöhnt, nur Einstellungen wahrzunehmen bereit ist, die auch ein Darsteller sieht (alles andere ist Tagesschau).

In den siebziger Jahren nun war für einen jungen Mann das Bedürfnis nach moralischer Integrität (die Bereitschaft, sich einer Idee zu opfern, von der man im Innersten zu spüren glaubt, daß sie richtig ist) allemal stärker als ökonomische Vernunft, und so war der vorläufige Entschluß, auf Darsteller zu verzichten und nach einer anderen die Einstellungen zusammenhaltenden Filmform zusuchen, nicht weiter erstaunlich. Die ersten Versuche nach der schlichten (und letztlich einzig wahren) Formel "Ich habe etwas gesehen und Bilder davon gemacht, das will ich euch jetzt zeigen" beantwortete das ohnehin kleine Publikum freilich mit einem lakonischen "Wer bist du denn überhaupt" und zuckte die von der Last der eigenen genialen Siebziger-Jahre-Sensibilität gebeugten Schultern. Das war traurig, doch auch verständlich, denn zwar stellte sich bei den Dreharbeiten eine Art kreativer Trancezustand ein, doch ich war nicht in der Lge, das Material mehr als nur locker zu strukturieren, so daß die Konzentration beim Zuschauer sich nicht lange aufrechterhalten ließ. Interessant war, daß dies von mir mit Mitteln des nachträglichen Schnitts nicht zu verbessern war, im Gegenteil, es schien, als würden die Schnitte, die während des Trancezustandes beim Wechsel der Einstellungen in der Kamera entstanden, ein derart feines Netz von Beziehungen aufspannen (denn man überlegt und fühlt ja eine Menge beim Drehen und läßt sich davon beim Aufnehmen des nächsten Bildes leiten), daß nachträgliche mechanische Schnitte am Schneidetisch dem heroischen Versuch ähneln, ein krebserzeugendes Radikal in der Molekularstruktur der DNS mit einem Holzhammer umzuplazieren.

Diese Unfähigkeit des konventionellen mechanischen Schnitts, das einmal in der Kamera Entstandene zu "retten", führte zu einer Umgruppierung der Wertigkeiten bei meinem Filmmachen. Grundeinheit wurde ein Block von in der Kamera sozusagen "live" geschnittenen Einstellungen, der das direkte Resultat einer kontinuierlichen konzentrierten Aufnahmeanstrengung war. Einen solchen Block nannte ich ein "Stück". Indem mehrere dieser Stücke durch mechanische Schnitte miteinander verbunden werden ergab sich ein Film. Auf diese Weise reduzierte sich die Schneidetischarbeit auf Analyse und daraufhin erfolgende Kopplung der einzelnen "Stücke". In der Spielfilmform entsprechen diese am ehesten der "Sequenz". All die Energie also, die am Schneidetisch als Kreativität in die Konstruktion der Sequenz eingeht, muß sich beim Bau eines Stückes "live" übertragen. Das ist mit einem guten visuellen Gedächtnis bei Schnittparametern wie "Wortstrom" und "Bildkomposition" nicht nur durchaus sondern sogar vermehrt möglich, weil man sie beim Drehen der einzelnen Einstellung ja noch berücksichtigen kann, während sie beim guten alten mechanischen Schnitt so genommen werden müssen, wie sie sind; bei anderen Parametern jedoch, und hierzu gehört vor allem das "Timing", gelingt dies ohne genaue zeitliche Partitur nur mit Einschränkung, weil das menschliche Gehirn kleinste zeitliche Variationen zwar zu registrieren, nicht aber zuverlässig über einen längeren Zeitraum zu speichern versteht.

Hier beim "Timing" war also bis zur Idee mit den Arbeitspartituren die entscheidende Schwachstelle bei der Herstellung der einzelnen Stücke. Ein Beispiel: an einem uns interessant vorkommenden Ort wollen wir ein Stück machen; wir haben uns umgesehen. Die Geräte sind ausgepackt, und im Kopf beginnen vage Konturen eines Konzepts zu kribbeln. Dann ist die Idee für einen Anfang da, drei Einstellungen, zwei längere und dann vielleicht eine kurze. Das Drehen beginnt. Zuerst die erste - gut. Jetzt die zweite, ein bißchen länger. Gut. Jetzt die dritte, energisch und kurz, mit einem kleinen Schwenk nach unten, vielleicht sechs Bilder, jetzt! - Sehr gut. Puh, anstrengend - wie jeder Anfang. So - jetzt die nächste, ein bißchen kürzer als die erste, aber durch den Schwenk wird der dunkle Keil von der kurzen Einstellung auf das neue Bild übertragen, der soll diese Höhlung treffen, Kamera also weiter nach links - ja so, so könnte es funktionieren, wie lang war nochmal die erste? Ah ja, so ungefähr, also jetzt los, ach da kommt ja ein Lieferwagen ins Bild, den nehm ich mit. Los - sehr gut, vielleicht sollte ich ein kleinen Tick länger laufen lassen, wegen des Lieferwagens, stop. Phantastisch. Hoffentlich ist das gut gegangen in Bezug auf die erste. Wie sah noch mal die zweite Einstellung aus? Ach ja. Ja, so könnte es weitergehen. Der Lieferwagen parkt. Da könnte ich in der übernächsten Einstellung die Beziehung zwischen dem Lieferwagen und dem Fluß benutzen, in einer Halbdiagonalen. Aber zur Vorbereitung noch einmal die leichte Schräge aus der zweiten Einstellung. Ja so, sehr gut. Ich glaube das war die richtige Länge. Jetzt der Lieferwagen - nein anders, schräger, ja so, gut, sehr gut. Sehr gut. Oh, anstrengend, erst mal eine Zigarette...

Diese Karikatur von Wortstrom beschreibt vielleicht fünf Minuten Drehzeit und das Resultat wären etwa acht Sekunden fertigen Films. Selbst eine solche Skizze der dabei anfallenden Überlegungen vermittelt vielleicht einen Eindruck von der Konzentrationsfähigkeit, die dabei gefordert ist. Nach einer halben Stunde beginnen Anzeichen von Erschöpfung, aber Ruhepausen kann man sich nicht leisten, weil das visuelle Gedächtnis in ihnen zu lecken beginnt. Nach einiger Zeit beginnt eine Art Trance. In einem Zustand überforderter Konzentration erfühlt und realisiert man in einem Mischmasch von Rationalität und dumpfen Ahnungen eine Unmenge von Beziehungen zwischen den einzelnen Bildern. Nach zwei, drei Stunden hält man den Ort oder sich für erschöpft, früher mußte ich dann ein paar Stunden schlafen. In der Kamera ist eine knappe Minute Film: ein "Stück". Wenn man es sieht - ich wiederhole, es handelt sich um das Drehen ohne die Hilfe vom Arbeitspartituren - stimmt meistens irgendwas mit dem Timing nicht, aber auf eine seltsame Art. Über drei, vier Einstellungen fühlt es sich während des ganzen Stücks fast immer perfekt an, aber als Ganzes stimmt es nur selten. Deshalb kann man auch mit nachträglichen Schnitten nichts machen, denn die einzelnen Übergänge sind ja korrekt. Trotz aller Übung und Anstrengung scheint das Gehirn unfähig zu sein, das begonnene Timing länger zu halten, speziell unter Bedingungen, in denen es, wie oben skizziert, ohnehin durch eine Menge anderer Entscheidungen belastet wird (oder soll man sagen, selbst unter solchen Bedingungen nicht - was wissen wir schon über unser Gehirn).

So war denn von dem, was so mühselig in Form von Stücken erarbeitet wurde, nur wenig für die Konstruktion größerer Filme verwendbar; wenn eins gut geriet, war es einfach Glück. Die Ausbeute wurde besser, als ich beim Drehen nach vier, fünf Einstellungen ein kurzes Stück Schwarzfilm dazwischenschob; das wirkte wie in der Sprache ein Punkt oder ein Komma, und auf seltsame Weise konnte man sich einbilden, die Einstellungsfolgen zwischen dem Schwarzfilm wirkten wie Sätze. Damals hatte ich - wie ich heute denke - übertriebene Erwartungen an den Wortstrom, den Bilder im Zuschauer erzeugen; ich glaubte, daß man ihn relativ eindeutig fassen und vermitteln und tatsächlich so etwas wie satzartige Einheiten herstellen könnte (wo aber waren Subjekt, Prädikat und Objekt, wo war die so alles entscheidende Negation? Im Negativ???). In diesem Zusammenhang erwartete ich viel von dem Verschmelzungseffekt der Flaubertschen Triade ("Er kam, sah und siegte") und begann Bilder in Gruppen von drei Einstellungen zu organisieren, die jeweils von Schwarzfilm getrennt waren; und von Sprache ausgehend begannen dann (angeregt von Gottheims "Horizons" und den Filmen von Emigholz) Überlegungen zu Rhythmus und Reim. Vieles von diesen Bemühungen versammelte sich schließlich in einem erstaunlichen Film: "PICTURES OF THE LOST WORD" (50 Min, 1971-75). Erstaunlich, weil ich weiß, daß meine Zielvorstellungen bei seiner Konstruktion ausschließlich sprachlicher Art waren (Wortstrom, Sätze, Triaden, Sprachrhythmus, Reim), daß er bei seinem Ansehen aber fast ausschließlich musikalisch wirkt und nichts, absolut nichts von sprachlichen Bemühungen erkennen läßt (ist ja auch klar: Film ist keine visuelle Sprache, Film ist visuelle Musik; das einzige, was im Film spricht, sind die Darsteller - später ist man immer schlauer).


Obwohl nun dieser Film einen Irrtum repräsentierte (das macht ihn natürlich nicht schlechter, eher besser), gab er mir doch das Geschenk der Partitur. Um nämlich die Verteilung der Schwarzfilmstellen zu regeln und so etwas wie sprachlichen Rhythmus zu garantieren, entwarf ich vor dem Drehen ein grobes Schema, das die Einstellungslänge vorschrieb (eine, zwei oder drei Sekunden), bevor ich die Einstellungen überhaupt kannte. An dieses Schema hielt ich mich beim Drehen, und in einer anderen Passage, als ich die Triaden in einer Art systematischem wissenschaftlichen Experiment zum Verschmelzen zwingen wollte, gab es sogar ein bis aufs Einzelbild genau ausgefeiltes Zahlensystem, das auf Variationen der Dreier-Permutationsgruppe aufgebaut zehn Minuten Film zeitlich präzise beschrieb. Beim Drehen arbeitete ich mit der Einzelbildschaltung und zählte die Einzelbilder beim Drehen mit. Dabei geriet ich in eine Art Zähltrance, übrigens ein hochinteressanter Geisteszustand. . Ich hielt das damals für viel Arbeit für zehn Minuten Film, doch die Zukunft sollte Bittereres offenbaren. Immerhin blieb eine wesentliche Erfahrung: es schien auch bei Außenaufnahmen rein physisch möglich zu sein, Film bis zum Einzelbild zu kontrollieren.
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Mit dem so gewonnen Konzept der Partitur stellte ich meine Bemühungen um eine genaue Kontrolle des die Bilder begleitenden Wortstroms zunächst einmal ein (dieses diffuse Vor-sich-hin-Gebrabbel des Gehirns à la "das ist ein rotes Auto"). Damit entfiel die Notwendigkeit, die Bilder so zu normieren, daß auf ihnen ein spezifisches Wort erkennbar wird, das heißt, plötzlich wurde ein Bereich von Bildern diskutabel, der vorher verboten war, weil man in ihnen nicht richtig erkennen konnte, was sie eigentlich abbilden wollten. Ein Bild wurde schon dadurch brauchbar, daß es einen irgendwie gearteten visuellen Reiz ausstrahlte, der bis zu einem nächsten Bild reichte. Damit wurden Kategorien wie Schärfe, Belichtung, Farbtreue, Lage des Horizonts zu Variablen, die beliebig verwandt werden konnten. Das vervielfältigte die Zahl der in einem Film möglichen Bilder. In "DER ORT DER HANDLUNG" (150 Min, 1976-77) versuchte ich in einem 40-minütigen Häuser-Stück diese Vielfalt zu nutzen. Dabei machte ich Gebrauch von Einzelbildschaltung und Langzeitbelichtung bei gleichzeitiger Kamerabewegung. Das Ganze wurde von einer lockeren Partitur zusammengehalten, welche die Bildlängen zwischen einer und drei Sekunden begrenzte und gleichzeitig Strukturelemente wie Kamerawinkel, Kamerabewegung, Häusertyp, Art der Belichtung und Art des Filmtransports steuerte. Beim Betrachten des fertigen Films bemerkt man sofort, daß die Verbindung zwischen den Bildern und der darübergelegten Musik in einigen Einzelbildpassagen derart intim wird, daß der Eindruck entsteht, das Flackern der Bilder würde die Mikrostruktur der Musik imitieren. Das Erlebnis dieser Intimität (und natürlich der Tatsache, daß hier für mich zum erstem mal ein 40-minütiges Stück mit komplex wechselndem Bildmaterial ohne erzählerische Tricks funktionierte) überlagerte alles, was ich sonst mit diesem Film vorhatte. Auf einmal schien sich da ein sehr weit führender Weg zu öffnen. Mit Filmen, die sich nicht nur musikalisch anfühlen, sondern tatsächlich so strukturiert sind wie Musik.
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Schon im selben Jahr begann ich mit den ersten musikalisch-rhythmischen Filmen. Sie sind stumm, damit man durch die Musik nicht von den visuellen Strukturen abgelenkt wird. Bei einem bestimmten Schnitttempo nämlich scheint jede Musik zu "passen", und dann kann man die Fehler nicht sehen (und auch nicht die wirklichen Qualitäten). Als erstes drehte ich den ersten Satz von "UNERREICHBAR HEIMATLOS", ein zehnminütiges Stück, dessen durchschnittliche Einstellungslänge 6 Bilder beträgt, dann kam "SECHS KLEINE STÜCKE AUF FILM", in dem ich vor allem mit Mehrfachbelichtungen mögliche Mehrstimmigkeit untersuchen wollte, und schließlich der zweite Satz von "UNERREICHBAR HEIMATLOS", ein 15-minütiges Stück mit drei Bildebenen, die übereinanderliegen. Heute wirken sie auf mich in vielem unbeholfen, aber das ist ja immer so, wenn man neues Terrain betritt. Andererseits hat "UNERREICHBAR HEIMATLOS" gerade in seiner naiven Direktheit eine plumpe Kraft, die ich nie wieder in einem Film zu erzeugen verstand. Vielleicht liegt das an den siebzig Tagen Drehzeit, die seine Herstellung kostete. Die rhythmische Struktur beide Filme ist - von heute aus gesehen - etwas schematisch, erst nachdem ich sie gesehen hatte, wurde mir klar, wie weitgehend der angerissene Unterschied von geschriebener und gespielter Musik eigentlich ist. Und dann sind in diesen Filmen so gut wie alle von mir ihn ihnen versuchten Ansätze zu Melodiebildung gescheitert - es gibt zwar ein paar melodiös wirkende Phasen, aber nur durch reinen Zufall, und manchmal an Stellen, die ganz anders aussehen sollten. Einer der Gründe dafür lag in der geringen Zahl der von mir verwandten Einstellungen. Ich wollte mich über drei, vier Minuten mit zwölf Einstellungen begnügen, die immer wiederkehren, weil ich Angst hatte, der Film würde sonst auseinanderfallen. Aber Einstellungen, die, wenn sie kurz erscheinen, "pizzicato" wirken, und mit anderen Bildern verbunden melodiös, sind schwer zu finden. Ein Bild, das melodiös verwandt werden soll, muß anders strukturiert sein, als eins mit akzentuierender rhythmischer Wirkung. Sehr gut dagegen funktionierte die Bildmodulation: jedes Bild bekam eine eigene Hüllkurve, meistens in Form einer Abblende, die verschieden schnell sein konnte. Dadurch ließen sich "weich" und "hart" anfühlende Rhythmen erzeugen und Übergänge zwischen ihnen. Die Bildhelligkeit diente als Lautstärkeanalogon, das "funktionierte" auch recht gut. Überhaupt nicht funktionierte dagegen die Idee, die schwachen Taktteile mit unscharfen Bildern zu belegen und die starken mit scharfen. Das wirkt zwar interessant, hat aber mit der Taktstruktur von Musik nichts zu tun. Und überhaupt: so eindrucksvoll diese Filme zum Teil waren - mit den Fingern im Takt mitschnippen, das ging nicht.
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POTPOURRI AUS "ÖSTLICH VON KEINEM WESTEN" versammelt etwa fünfzehn sehr kurze Stücke, in denen ich die Arbeitstechniken bei der Herstellung der vorigen Filme zu verbessern mich bemühte. Der entscheidende Fortschritt lag in der elastischeren Rhythmusbehandlung, die in etwa dem entsprach, was ich am Anfang dieses Aufsatzes im Zusammenhang mit der Erstellung der endgültigen Arbeitspartitur skizzierte. Wichtig war aber auch, daß ich die Zahl der verschiedenen Einstellungen in einem Stück deutlich erhöhte und beim Drehen die Rahmung der Bildes beim Übergang von einer Einstellung zur nächsten im Sucher der Kamera an den sich ereignenen Übergang anzuassen versuchte; das ließ melodisch gemeinte Übergänge besser schwingen und zusammen mit der verbesserten Rhythmussstruktur begannen einige der neuen Stücke - für mein Gefühl jedenfalls - wirklich zu "atmen". Im übrigen sind in diesem vor allem in Cleveland und Columbus/Ohio gedrehten Film einige Teile sehr bewußt grob gehalten und ohne jede Bildmodulation, weil ich sehen wollte, wie geräuschähnlich organisierte rhythmische Strukturen auf Film wirken. Denn da es nur sehr wenige nach Musik strukturierte Filme gibt, schien es wichtig, ein möglichst breites Spektrum zu erzeugen - wenn man sich schon in eine fixe Idee verrennt, soll das doch möglichst enzyklopädisch geschehen.
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Bei "DAS SZENISCHE OPFER" schließlich konnte ich zum ersten Mal Mikroprozessoren für die Kamerasteuerung benutzen, die mir das Zählen der Bilder abnahmen. Bis dahin mußte alles mit der Einzelbildschaltung von Hand hergestellt und gezählt werden, auch jede einzelne Abblende. Ansonsten folgte ich bei diesem neuen Film einfach den Strategien, die das beste aus dem "POTPOURRI" erzeugt hatten. "DAS SZENISCHE OPFER" enthält 49 Stücke unterschiedlichster Länge, das kürzeste ist 19 Sekunden lang, das längste 6 Minuten. Seine Herstellung folgte dem anfangs beschriebenen Schema. Wenn ich diesen Film heute sehe, glaube ich kaum, daß ich ihn je gemacht haben könnte. In ihm scheint das Problem einer befriedigenden rhythmischen Artikulation weitgehend gelöst. Es gibt eine Vielzahl von spektakulären visuellen Ereignissen, die zu Namensgebungen wie Triller, Tremolo, Vibrato, Arpeggio und Rubato reizen, deren Struktur in anderen Stücken verwendet werden könnte. Außerdem liefern die vielen erfolgreichen melodischen Ansätze zum ersten Mal eine brauchbare Grundlage für ein systematischeres Studium dieses Möglichkeitsbereiches.

Dieser Aufsatz ist viel länger geworden und sehr viel mehr in die Details gegangen als eigentlich beabsichtigt war.



(abgedruckt in "POSITIONEN - Beiträge zur Neuen Musik"
Heft 17, Berlin, November 1993, S.25ff)


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