K.Wyborny

EIFERSUCHT!

(Performance vom 20.11.79 im Künstlerhaus Hamburg)



(Ankündigungszettel)


Auszug aus der COMÉDIE ARTISTIQUE, in deren ersten Teil "7 Tage Eifersucht" diese Performance beschrieben wird. Die in diesem zum Teil noch unfertigen Text auftauchenden Charaktere - Carl, Roberta und andere - sind allerdings fiktiv und haben allein der Logik des Romanes verbundene fiktive Biographien. Auch der darin auftauchende Autor ist eine eher windige Erscheinung, deren kommentierende Beiträge kaum als wahrheitsgemäß anzusehen sind - im Gegenteil: dieser Autor scheint die damals stattfindende Veranstaltung massiv mißbrauchen zu wollen, um ein wenig überzeugendes und dazu sentimentalisierendes Spiel mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten zu entwicklen. Das an dem Text einzig wirklich Reale sind die darin auftauchenden Filme und Bilder und (in wegen der Fragilität unseres Zeitempfindens natürlich weit geringerem Ausmaß) der Ablauf der Performance selbst.


1. DALLAS-TEXAS! - AFTER THE GOLDRUSH

 

Ein paar Tage später fand seine Veranstaltung im Künstlerhaus statt. Er hatte nichts Neues mehr gemalt, aber sehr viel geschrieben, für seine Verhältnisse jedenfalls viel. Das Bildwerk, woran er die letzten Wochen gearbeitet hatte, stand ein wenig geheimnisvoll um sein noch einmal leicht modifiziertes Grundensemble herum und es war knackevoll, so an die 100 Zuschauer, von denen ihm einige später zu verstehen gaben, daß sie beeindruckt gewesen wären. Er begann mit einer Vorführung seines Films 'Dallas Texas', den er zwischen sein Ensemble und der Bank mit den Malutensilien an die Wand projizierte und während seines Ablaufens so kommentierte, wie er ihn jetzt verstand:


"Es begann alles im Toulouse-Lautrec-Institut, an einem Abend," eröffnete er seine Veranstaltung: "dort saß ich irgendwie mit ein paar Leute zusammen - irgendwann kamen zwei Schwestern aus Bergedorf hinzu. Später waren wir dann bei Dieter, damals war er noch Verkäufer in einem Photogeschäft, wo er direkt über dem Laden wohnte. Eine dieser Schwestern war mitgekommen, leider nicht die, auf welche ich eigentlich spitz gewesen war, sie war vorher gegangen, aber im Grunde wars ja egal, irgendwie schliefen wir dann doch ein - am nächsten Morgen ging das Mädchen ganz früh weg, und so frühstückte ich allein mit Dieter, bis schließlich ein Freund von ihm dazukam, irgendwie lag Eifersucht in der Luft."

Der Film war anders als seine heutigen. Er war viel langsamer montiert und wies nicht die nervösen Schnittfolgen auf, an denen man seine Filme mittlerweile erkannte. Eigentlich wurde in ihm gar nicht geschnitten, die Einstellungen waren durch Auf- und Abblenden miteinander verbunden. Das Verklingen der Bilder war für ihn offenbar bereits eine Obsession gewesen, bevor er von Adam von Fulda gehört hatte, die Essenz der Musik bestände im Verklingen ihrer Töne. Auch eine richtige durch Dialoge vorangebrachte Handlung gab es nicht. Wohl tauchten Personen auf, meist aber nur in Totalen, sie standen im Freien herum, wo sie sich kaum bewegten, so daß rätselhaft blieb, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Trotzdem bastelte man sich als Zuschauer eine Art Geschichte zusammen, wie in einem Reflex. Der Film war kurz, an die sieben Minuten - während er lief, verriet Carl seinen Zuhörern die Geschichte seines Entstehens:

"Und ich erinnerte mich daran, daß Dieter mir mal eine Bolex gezeigt hatte, eine 16mm Kamera, auf die war nun ich sehr eifersüchtig, weil ich selbst immer nur mit Super 8 oder davor Normal 8 gedreht hatte. Es war ein Märzmorgen, und so sagte ich dann: Laß uns doch einfach n Film machen, und Dieter holte 5 Kassetten Super 8 - Kodachrome II hieß der Farbfilm damals - von unten aus dem Photoladen, dazu eine fabrikneue Kamera, und dann fuhren wir in seinem R4 weiß der Teufel warum Richtung Bergedorf. Unterwegs entdeckten wir eine Art Kiesgrube, wo wir dann zu dritt diesen Film drehten. In der Einstellung eben habt ihr gesehen, daß meine Hand verbunden war, damit hatte ich ein paar Tage vorher in einen Flipper gehauen, auch im Toulouse-Lautrec-Institut, das haben sie im Hafenkrankenhaus zusammengenäht. Der R4, den ihr hier seht, ist Dieters Wagen, ein vierter Darsteller, wenn man so will; es ist kühl, Spätmärz oder Frühmärz, abends um 4 oder 3 - langsam ging das Licht weg, so daß wir uns beeilen mußten. Manchmal machte Dieter Kamera, manchmal tat ich es, je nachdem wer im Bild war. Gleich nachdem ich die Rollen wiederbekam, hab ich sie geschnitten, eine Woche später wurde der Film dann im Toulouse-Lautrec-Institut aufgeführt, wo sich der Kreis schloß, das waren noch schnelle Zeiten. Das war 1970."

Ja, dies war der Film, durch den er begriffen hatte, daß in den Bildern selbst gar kein so großes Rätsel liegen mochte, daß man sie jedenfalls entschlüsseln konnte. Mit Hilfe dessen, was er beim häufigen Betrachten dieses scheinbar höchst einfachen Films gelernt hatte, mit Hilfe des dabei sich allmählich entwickelnden Vokabulars, hatte er in Cannero das Geheimnis der Wirkung der Insel im See zu enträtseln versucht, erfolgreich, wie ich meine. Nein das Geheimnis von Film lag nicht in den Bildern, es lag in ihrer Aufeinanderfolge, ähnlich wie "Vater", "Mutter" und "Kind" für sich gesehen zwar hoch komplizierte, doch immer noch verständliche Begriffe waren, während ihr Wechselspiel dasjenige erzeugte, was in der Welt wirklich vor sich ging. Oder wie das große Wort "Ewigkeit", von dem die Menschheit träumte, dem Universum vielleicht innewohnen mochte, diese für uns aber unerreichbar bleiben wird, weil wir sie nur in einem Nacheinander beschränkter und dabei allzurasch verklingender Momente fassen können. Als er dies begriffen zu haben meinte, begann er sich für Filmschnitt zu interessieren. Vielleicht verband er bis dahin seine Einstellungen fast instinktiv durch Auf- und Abblenden, auch in diesem Film, weil er die üblichen Schnittverfahren, bei welchem Bilder in einem harten Sprung verbunden werden, im Grunde nicht begriff; mit diesem Auf- und Abblenden wollte er ihr verrücktes Einzeldasein betonen, es zumindest nicht von vornherein verschleiern.

"Damals war ich 25, und kam mir ungeheuer alt vor. Aber die Menschen, die ihr in diesem Film seht, sind eigentlich gar keine Menschen, sondern Berührer des Wesentlichen. Das, dieser Satz ist wesentlich. Und da ist zum Beispiel der Verband zu sehen, von dem ich erzählte, an der rechten Hand, irgendwas daran hat auch mit Masturbation zu tun. Der Flipper ist davon blutig geworden. Man sieht natürlich auch den Himmel. Und das erstaunlichste Ereignis des ganzen Film ist wohl, wie die Tür der Hütte jetzt zufällt, hier in der Totalen, und dazu die Musik einsetzt, als wäre es vorherbestimmt - dabei war das Zufallen der Tür reiner Zufall. Und dies ist die Schlußeinstellung, weil in ihr diese sexuelle Schwüle irgendwie besonders schön symbolisiert wird."

Die systematischen Auf- und Abblenden waren aber nicht das einzig formal merkwürdige an diesem Film. Denn er hörte nicht auf, wie ein Film gewöhnlich aufhört - nach seinem scheinbaren Ende erschien nämlich ein neuer Titel: 'After the Goldrush', wonach ein neuer Film begann, von dem sich herausstellt, daß er am gleichen Ort gedreht worden war wie der vorherige, der sogar so ziemlich aus denselben Einstellungen bestand, in denen sich aber die Jahreszeit und die Kleidung der Protagonisten geändert hatten.


(Der am Bildrand stehende R4 in "Dallas Texas")

"Dann, ein Jahr später, war es Februar... auch sehr kalt," fuhr Carl an jenem Abend fort: "Das ganze Jahr über habe ich mir den Film angeguckt, zig mal, bei allen möglichen Gelegenheiten, wo immer ich ihn vorführte, und war unheimlich eifersüchtig auf diesen R4 da am Bildrand, auf Dieters Wagen. Und ein Jahr später konnten wir uns zusammen dieses größere Auto leisten, einen Opel Rekord, weil wir Geld vom Fernsehen bekommen hatten, daher der Titel: 'Nach dem Goldrausch'. Diesmal hatten wir ein Mädchen dabei, wir wollten den Film nochmal machen, dabei aber die Autos tauschen und den Freund Dieters gegen meine Freundin - weil ich den Film an diesem Nachmittag beim Drehen nicht mehr in allen Einzelheiten im Kopf hatte, wurde er, wie Ihr sehen könnt, ein bißchen anders."

"Wie man sieht, überschattet Eifersucht die Bildwelt dieses Films noch mehr als in dem anderen. Irgendwie herrscht in ihm eine schwüle Stimmung, ja, trotz der Kälte, in der er gedreht wurde, ja trotzt des Februars geht es hier schwül zu. Die Bildwelt wimmelt von Sexualität, sie ist freilich wie vieles in der Natur irgendwie ausbalanciert, so kommt es einem jedenfalls oft vor - nur das Auto stört, das auch in diesem Film in der dominierenden Totale links am Bildrand steht, es ist ein Fremdkörper: Summa summarum haben wir also ein gespanntes erotisches Verhältnis zwischen der Bildwelt einer Kiesgrube und diesem Auto vor uns - und um dieses gespannte Verhältnis zu kompensieren, müssen Personen auftauchen, die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten."

Nachdem der Film eine Weile vor sich hinlief, meinte Carl es wiederholen zu müssen: "Das Auto stört." Und nach einer Pause: "Ja, diese Personen metaphorisieren bloß das gespannte erotische Verhältnis zwischen Auto und Landschaft. Hier sieht man es sehr deutlich." Und dann, an der vielleicht überraschendsten Stelle des Films: "Hier in dieser Einstellung ist das Auto plötzlich verschwunden! Weg! Friede! Aber auf welche Kosten." Zwischendurch erläuterte er die Struktur des heutigen Abends: "Dies hier ist also der erste Teil der Euch angekündigten Show, die den Titel 'EIFERSUCHT!' hat; es folgt gleich ein zweiter Teil, ebenfalls ein Film, er heißt 'Famos Gewaschen', und dann gibts noch einen dritten Teil, wo ein bißchen mehr passiert."


(Klassisches Dreieck an offener Hütte in "After the Goldrush")

"Die Bildwelt dieses Films, ich habe es schon gesagt, wimmelt geradezu von sexuellen Anspielungen. Wenn man ein bißchen Traumdeutung gelesen hat, von diesem Freud, dann weiß man, daß ein See zum Beispiel eine Frau bedeuten kann, und so ein Hochspannungsmast, wie er dahinter den Himmel gerade so ankratzt, ist natürlich ein Mann. Häuser mit Balkons, das sind Frauen, und Häuser ohne Balkons, das sind Männer. In diesem Film haben wir also einen kleinen See, und nicht weit davon ein Haus ohne Balkon, und die haben ein ganz gutes Verhältnis miteinander; und da kommt dieses Ding rein, dieses Auto, es fährt ganz langsam rückwärts ins Bild, dringt ein, wie ein Phallus in eine Frau, während der Baum auf der anderen Seite, der die Bildkomposition dominiert, so eine Art Schutzengel sein könnte. Da steht er also, dieser Eindringling, mit geöffneten Fenstern, kein Fahrer zu sehen; man sieht, irgendwas ist unheimlich an dieser Totalen mit Auto und Schutzengel - seht Ihr das Haus, da ganz hinten in der Bildmitte, am schönen See? Und schaut Euch den Schutzengel und diesen Eindringling an!"


(Der am Bildrand stehende Opel in "After the Goldrush")

"Der Film ist natürlich ein wenig penetrant, weil die einzelnen Teile immer wiederkehren. Aber wann dreht man schon zweimal hintereinander denselben Film: Das ist es wert, ausführlich dargestellt zu werden. Raffiniert ist dieser Mantelwechsel jetzt, bei dem jemand sich gewissermaßen die Mannheit überstreift. Und diese Stelle erinnert mich immer an 'Johnny Guitar' von Nick Ray, den ich damals sehr bewundert hab, während ich, vielleicht geht dieses Gefühl nur vom Farbeindruck der Bilder aus, 'Dallas-Texas' immer mit 'Wind Across the Everglades' von ebenfalls Nick Ray verglich. Auch dies eine Bewunderung, die sich mit Eifersucht paart, mit Neid auf die große 35mm-Maschinerie, mit der diese Filme gedreht wurden, und es bereitete mir eine ungeheure Genugtuung, daß ich das gleiche große Gefühl mit einer Super 8 Kamera hingekriegt hatte - dazu noch ganz nebenbei, nach jeweils einer Nacht, die in einem gewaltigen Kater endete. Nun kommt ein natürlich meisterlicher Musikschnitt: wenn ihr gleich dieses gezogene 'Huihuiii' hört, wird im gleichen Moment ein Lastauto erscheinen, dieses 'Huihiii' steht für die Bewegung, die auch in dem Abgang des verschwundenen Autos anwesend gewesen sein mußte. Ja: Das war im Februar 1971."

"Der Film hat die klassische fünfgeteilte A B A' B A Form: jetzt kommt also wieder 'Dallas Texas' in der ersten Fassung: es ist wieder März, März 1970, in einer Kiesgrube in der Nähe von Bergedorf - Seht ihr die masturbierende Hand? Wenn man so will, ist dieser Film, gerade weil seine Teile als Ganzes wiederholt werden und man sich an das gerade Gesehene erinnern kann, sehr spannend."


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2. EIFERSUCHT!

"So nun kommt der zweite Teil des Abends", fuhr Carl an jenem Abend im Künstlerhaus fort: "Er heißt 'Famos gewaschen' und besteht aus einen Film, den ich vor kurzem auf dem Flohmarkt gefunden habe: ein Werbefilm für ein Waschmittel aus den fünfziger Jahren, es hieß 'FAMOS', das es mittlerweile nicht mehr gibt. Seine Beziehung zum Thema Eifersucht wird aber so klar werden, daß sie nicht weiter kommentiert zu werden braucht, außerdem muß ich noch was für den nächsten Teil aufbauen."

Für Carl bestand die Pointe am nun Gezeigten wohl darin, daß jenes Waschmittel mit dem Namen 'FAMOS' in Düsseldorf hergestellt wurde und zugleich in diesem Film schrecklich "modern" tat. Sah man heute diese schwarzweißen Bilder von Frauen an Waschbottichen, worin sie mit Hilfe jenes famosen neuen Waschmittels auf nunmehr vorsintflutlich anmutende Weise Wäsche wuschen - offenbar gab es 1953 in Deutschland noch kaum Waschmaschinen - wirkte das Fortschrittspathos, in welchem sich der Filmkommentar ausgiebig wiegte, geradezu komisch grotesk, und Carl hatte das vage Gefühl, es war schon mehr als nur eine Hoffnung, daß es dieser Kunst aus Düsseldorf ebenso ergehen würde. Im Grunde war er nämlich gar nicht eifersüchtig auf seine malenden Künstlerkollegen: in einem gewissen Sinn war er ganz objektiv, war er ganz Weltgeist! Im Geheimen verband er indes noch etwas ganz anderes mit diesem Film, es hatte mit Kindheit zu tun: Die Bilder erinnerten ihn direkt an seine Mutter, auch an seine Tante Friedel, und wie sie früher, fast immer in düsteren Kellern, hinter ihren Waschbottichen gestanden hatten. Er hatte das Bedürfnis, das, wovon er gleich sprechen würde, ganz solide in der Kindheit zu verankern, sonst wäre ihm dieser Abend haltlos vorgekommen. Und Haltlosigkeit hatte er in den letzten Tagen fürchten gelernt.

Erst einmal pumpte er jedoch das Schlauchboot auf, mit dem er seit jenem Abend mit Lilly - Barcelona, Madrid, Mailand, Saloniki! - wieder süße Erinnerungen verband. Warum jedoch veranstaltete er überhaupt diese "Show", wie er diese Veranstaltung nannte, warum hatte er dafür einen Text geschrieben? Hatte er das Gefühl, es würde sonst alles, was ihm in letzter Zeit zugestoßen war, einfach verschwinden? Bedauerte er das? Meinte er, daß sich nur in einer Darstellung etwas davon aufbewahren ließ? Schon weil das sich ereignende Leben im seinem Kern höchst fragwürdig und unbestimmt ist? Aber dann würde doch auch diese Show bald vergessen sein: weder machte er einen Film darüber, noch hatte er eine Videoaufzeichnung veranlaßt. Nein, auf das Vergessen kam es nicht an, denn er würde es nicht vergessen. Aber Lillys Geschichte hatte ihn auf seltsame Weise wieder ins Leben zurückgeholt; das "Knacksen", das er dabei verspürt hatte, war der Beginn einer Genesung. Er versuchte herauszufinden, warum ihre im Grunde doch sehr traurige Geschichte so viel weniger traurig war als seine eigene bisher eigentlich noch gar nicht so traurige. Statt weiter zu malen fing er an, einen Text für seine kleine Show zu schreiben. Mag sein, daß manche von uns nur die Fügung unseres Lebens in eine ausdrucktragende ästhetische Form als wirklich empfinden, als tatsächlich wirklich, seine Verwandlung also in eine ästhetische Geste. Und auf eine verrückte Weise war die Suche von Lillys Ex-Mann trotz ihrer Wirklichkeit so eine ästhetische Geste gewesen, die der dahinter liegenden Traurigkeit ihren Biß nahm. Ja, auch er, Carl, mußte seine zu Tage getretene Verwirrtheit nun in so eine Geste verwandeln, das hatte er sich überlegt. Widersinnigerweise gab es aber noch eine andere, eine viel direktere Motivation: Er hoffte, daß er durch diese Show Roberta wiedererobern würde. So seltsam es klang, erwartete er wirklich, daß Roberta die Fähigkeit bewundern würde, in der er all das, was sie in letzter Zeit erlebt hatten, zusammen erlebt hatten, in eine Form brachte, und sich nicht scheute, sie der Welt mitzuteilen: das war modern. Und zudem originell - er kannte nichts, was dem, was er hier veranstaltete, auch nur entfernt ähnelte. Er hatte wirklich keine Ahnung von Frauen. Aber nach den mühsamen Antastversuchen bei der fruchtbaren Uta wollte er seine Roberta jetzt endlich zurückhaben. Und so begann er mutig den letzten und eigentlichen Teil dieses Abends - das zuvor Geschehene war für ihn nur eine Art Aufwärmübung gewesen, eine bloß mechanische Anwendung ästhetischer Intelligenz, seiner und der des Publikums - jetzt ging es in der Tat um die Wurst:


("Eifersucht!")

"OK, wir kommen jetzt zum dritten Teil unserer 'EIFERSUCHT!'-Show" begann er, noch immer mit seinem Pumpen beschäftigt, mit maximalem Understatement und auf eine Weise, als würde er all das hier gar nicht wichtig nehmen: "Es gibt aber ein Problem mit der Luft hier im Boot, es hat nämlich ein Leck ... Könntest du mal n bißchen weggehen..." unterbrach er sich dann aber nervös gleich wieder, weil jemand einen Teil seines Ensembles umgestoßen hatte: "Du hast das Bild da zerstört, es muß erst wieder aufgebaut werden..." Und das tat er dann, froh darüber, daß sich der Anfang noch einmal verzögerte und er noch etwas plappern durfte: "Ihr seht hinter mir hier ein paar Bilder, die an diesem Abend eine Rolle spielen sollen - Vielleicht könntet auch Ihr noch ein bißchen zurückgehen." Anschließend begann er wieder zu pumpen und stellte dann - er sprach in ein von Roland geliehenes Mikrophon, über einen kleinen kürzlich erworbenen Übungsverstärker (der flamencoliebende Jean hatte ihm ja im Ganz eröffnet, wie preiswert sie mittlerweile waren) - sein Ensemble erst einmal umsichtig vor:


("7 Tage Eifersucht", 1979, 5 mal 31 x 34 cm hintereinandergestellt)

"Also - dieses Bild hier in der Ecke heißt 'Sieben Tage Eifersucht!' Man sieht, es besteht aus fünf solchen Dingern, die hintereinander an die Wand gelehnt sind, insofern ist es gar kein Bild. Ich nenne es aber mal trotzdem so, weil es immerhin noch gerade so an der Wand ist, jedenfalls einen Bezug zu ihr hat. Ich weiß aber nicht, wie ich die Einzelteile nennen soll - hingen sie an der Wand, würden sie aussehen wie Bilder, ja, dann müßte man sie wohl auch Bilder nennen. Doch so hintereinander stehend sind sie eigentlich nichts, und so nenne ich sie für diesen Abend mal provisorisch einfach 'Dinger'. Aus dem Titel 'Sieben Tage Eifersucht!' kann man natürlich schließen, daß das irgendwo mit dem Titel dieser Show zu tun hat: Weil, wenn die Show 'Eifersucht' heißt und dieses Bild '7 Tage Eifersucht!', denkt man 'Eifersucht' und 'Eifersucht', das hängt irgendwie zusammen. Mag sein. Mag sein."

So eröffnete Carl diesen für ihn lebenswichtigen Teil. Aber es gab noch einen Grund, warum er so sprach: Ich glaube, es ging ihm ums Sprechen selbst. Er hatte genug von dieser Sprachlosigkeit, mit der man sein eigenes Tun begleitet und sich die irrsinnigsten Sachen antat, ohne zu wissen, was eigentlich mit einem geschah. Er wollte - sich verständlich machen. Vielleicht erklärt das auch die Empfindlichkeit seiner Reaktion auf Roberta, als sich herausstellte, daß die interessanteren Passagen ihres Briefes an ihn von Aragon abgeschrieben waren. Tief im Inneren erkannte er an seiner Kunst, sei es als Filmmacher oder als Maler, den Ausdruck eines Mangels, dessen Kern aus dieser Sprachunfähigkeit bestand, mit der seine Familie ihn, jawohl: in die Welt hinausgeschickt hatte. Beim Lesen von Robertas Brief hatte er gehofft, jemandem begegnet zu sein, der so sprachfähig war, wie er selbst es gern gewesen wäre. Daß er jetzt von den Bildern, die, wie wir wissen, buchstäblich mit seinem Herzblut gemalt worden waren, so achtlos als 'Dingern' redete, als wären es leb- und aussagelose Objekte, die kaum einen Namen verdienten, hing vielleicht ebenfalls damit zusammen, mit jener unverbindlichen dumpf-dinglichen Sprachlosigkeit, die sie für ihn letzten Endes doch ausstrahlten. Nun, sprachfähig oder nicht: an diesem Abend immerhin sprach er, und oh Wunder, seine Zuhörer, von denen viele bereits recht genau wußten, was sich zwischen ihm und Roberta abgespielt hatte, hörten und verstanden eine ganze Menge. Und so höre auch ich ihn auf seine eigentümliche Weise weitersprechen:


("Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom Teil 1 und Teil 2", 1979, fünf und sieben mal 19 x 21 cm hintereinandergestellt)

"Das Bild, das hier an der Wand lehnt, heißt 'Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom Teil 1'. Und dies Bild hier daneben, das ebenso, das nicht anders an der Wand lehnt, heißt 'Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom Teil 2'. Das erste besteht aus fünf von diesen hintereinander gestellten bemalten Dingern, und das zweite hat 7 Dinger hintereinander, eins davon jeweils ein Deckblatt. Ihr seht: Die 'Dinger' sind überall."


("Deutschland im Herbst", 1979, drei mal 50 x 47 cm hintereinandergestellt)

"Dann dieses hier: es heißt 'Deutschland im Herbst' und besteht aus drei Dingern hintereinander - man sieht, die Titel erinnern an die Titel im Moment mehr oder weniger bekannter Filmen, und irgendwie erinnert auch der Aufbau dieser Bilder an Film. Im Film sind Bilder ja ebenfalls gewissermaßen hintereinander gestapelt, sie kommen jedenfalls erst in der Projektion zum Vorschein. Deshalb stehen sie hier auch unter der Leinwand, wo der Film gerade gelaufen ist."


("Aus dem Schlauchboot der Erinnerung", 1979, sieben mal 51 x 49 cm und Stahlstange mit zwei Farbflecken)

"Dieses Bild hier," - er ging ein wenig nach links, wo das zuletzt von ihm hier im Künstlerhaus erst gemalte und dann ein wenig eigenwillig zusammengestellte Ensemble aufgebaut war: "Dieses Bild hier erinnert dagegen mehr an einen Roman, auch wenn das für Euch vielleicht noch nicht so ohne weiteres zu verstehen ist. Die Arbeitssituation an den gerade beschriebenen filmartig hintereinander gestellten Bildern war nämlich tatsächlich ein wenig wie beim Film: man stößt mit einer gewissen, einer maschinenhaften Gleichgültigkeit nach einem bestimmten Verfahren eine große Menge von Bildern aus. Wohingegen ich mir bei diesem hier, von dem ich sagte, es ließe mich an einen Roman denken, echt Mühe gegeben hab, wirklich wie bei einem Roman, oder so wie ich mir das vorstelle. Er hat aber noch keinen Titel und besteht aus den Phasen eines Prozesses: von einem Anfang bis hin zu einer fertigen Form; so wie auch unsere Biographie aus Phasen besteht, von einem Anfang, wo wir noch nichts sind - dieser Zustand sollte übrigens ursprünglich durch eine nur grundierte Leinwand ganz links in der Reihe symbolisiert werden (die hab ich jetzt aber weggelassen, weil man "nichts" eigentlich nicht zeigen sollte); Ihr seht dieses unbemalte Bild dafür links um die Ecke, allerdings nur von hinten, nur den Keilrahmen und die Art wie ich im Augenblick meine Leinwände mit dem Tacker spanne - von einem Anfang also, in dem wir noch nichts sind, bis hin zu einer gerahmten Form, von der man drei an dieser Stahlschiene übereinandergestellt (das vierte hatte er, weil es so besser aussah, weggelassen) am rechten Ende dieses Roman-Bildes sieht: als ebenfalls wie am Fließband, wenn man so will, hergestelltes Endprodukt."

Carl atmete durch: "Dann aber gibt es natürlich noch die Komödie - die ist weder Bild noch Roman, die hab ich hier hinten ausgestellt, ein bißchen abseits, an einer Ecke, nicht weit von der nur von hinten zu sehenden erwähnten ganz unbemalten Leinwand."


("Anarchistische Junggesellin vor dem Betreten von bürokratischer Parkanlage mit Springbrunnen", 1979)

"Diese Komödie, wie ich sie nenne, besteht aus vier bemalten Brettchen und heißt 'Anarchistische Junggesellin vor dem Betreten von Bürokratischer Parkanlage mit Springbrunnen'. Von diesen vier Stücken ist das erste Brett, hier schräg an die Wand gelehnt, die Heldin dieser Komödie, die anarchistische Junggesellin; die beiden flach übereinander auf der Erde liegenden bilden natürlich die bürokratische Parkanlage, und über das letzte, das sich zwischen der bereits stehenden Anarchistischen Junggesellin und der bürokratischen Parkanlage befindet, müßte sie hinüberspringen, wenn sie in die Parkanlage wollte, deswegen auch Springbrunnen. Heute Nachmittag stand die Junggesellin noch auf diesem den Springbrunnen darstellenden Brettchen, als wollte sie es als Sprungbrett benutzten, aber das leuchtete mir plötzlich nicht mehr ein. Im übrigen seht Ihr, daß alle vier Brettchen nach dem gleichen Muster bemalt worden sind und sie sich nur in den Farben unterscheiden, und damit ähneln sie wirklich den Anarchisten, Bürokraten, Parkanlagen und Springbrunnen der wirklichen Welt!"

Nach dieser Anstrengung, bloße Beschreibung ist ja immer entsetzlich anstrengend, weil so gar kein rechtes Erleben in ihr ist, pumpte er wieder ein wenig an seinem Schlauchboot herum, um so seinen Zuschauern und sich ein Gefühl für wirkliche Körperlichkeit wiederzugeben. Es war natürlich ein wenig riskant, Anarchisten und Bürokraten als nach dem gleichen Strickmuster hergestellt zu bezeichnen, und das, nachdem er gerade den Film 'Deutschland im Herbst' angesprochen hatte, worin die Anarchisten, von denen er ein paar als wirklich wahnsinnig Gewordene kannte, zu Heiligen verklärt wurden. (Ist nicht erstaunlich, in wie geringem Maße er spürte, daß Roberta für ihn diese anarchistische Junggesellin repräsentierte - anarchistisch schon insofern, als sie sich nicht seinem sie einengenden Willen unterwarf? Und daß, mehr noch, die seltsame Szene zu Beginn dieser Erzählung, in der Carl sich so widersinnig lange eine heulende Laterne neben einem beleuchteten Springbrunnen beschaute, nun, nachdem wir sie bereits als eine Art Selbstporträt zu verstehen lernten, eine weiter Transformation erfahren und Eingang in diese obskure, abseits in einer Ecke stehende kleine Skulptur, die er eine "Komödie" nannte, gefunden hatte? Jener beleuchtete Springbrunnen, der, nachdem das übliche Tageslicht einer künstlichen - in diesem Falle sogar womöglich künstlerischen - Beleuchtung wich und, neben einem blassen Phantom von Haus, so beleuchtet in den Augen Robertas größer geworden war, wie sie ihn aus dem Fenster jenes Dorfcafés betrachtete; und den sie nun ebenso überspringen mußte, um zu eigener Künstlerschaft zu gelangen, wie sie es auch mit Carl zu tun hatte, wenn sie in jenem im Dunkel verschwimmenden Phantom von Haus, das in unserem Zusammenhang sehr gut die Kunstgeschichte repräsentieren könnte, einen Platz finden wollte; in jenem Phantom von Haus, übrigens ein Bild Rilkes, das schließlich von tiefrot schweren Vorhängen verhängt wurde, um von einer privaten Obsession ersetzt oder zumindest verdeckt zu werden, einem geschichtslos düsteren Ensemble, dem zwar - wie der dem düster Belgischen entwachsenen Kunst Magrittes: eine Pfeife ist keine Pfeife! - auch einige Faszination innewohnt, aber eine hoffentlich nur vorübergehende, wie sie hoffentlich auch ihrem Eifersuchtsgetue bestimmt war. Ja: auch diesen Carl hatte Roberta als wirkliche Künstlerin zu überspringen, nicht nur ihr eigenes liebenswürdiges Ich, wie es in dem nett plätschernden Springbrunnen symbolisiert war, wenn sie in jenem Phantom von Haus Platz finden wollte, jawohl: auch Carl, diese, na klar, warum denn nicht: "bürokratische Parkanlage" - er war damals ja, wie er so oft ohne jegliche Koketterie wiederholte, gar kein Künstler: das Bürokratische seines Filmmachens, das pedantische Zählen, seine Zahlenfolgen, denen er wie ein Bürokrat sich zu unterwerfen hatte, um irgendwann das von ihm ersehnte gefällig rhythmische Gleiten von Bildern erzeugen zu können, wenn man so will das Paradies, machte ihn zwar nicht zu einem puren Bürokraten, aber doch zu so einer bürokratischen Anlage. Da er sich indes klar um das Schöne bemühte, ganz unzweideutig, brachte er es in seiner kleinen "Komödie" aber immerhin zum Status einer an Gefälligkeit ihren anderen Teilen wenigstens nicht unterlegenen "Parkanlage", doppelbödig wie sie nun einmal war - damit konnte er leben; so daß unsere langatmig dunkle Anfangsszene, die ja, wie sollte es anders sein, aus authentischen Notizen Carls zusammengebastelt ist - niemand könnte sich etwas so vage Zielloses in einer Phantasieanstrengung aus den Fingern saugen - hier also auf einmal den Charakter einer Urszene anzunehmen begann, mit freilich nicht so sehr frühkindlichen oder früh-christlichen als vielmehr früh-künstlerischen Untertönen: von der Bedeutung der heulend leuchtenden oder, wenn man so will auch: leuchtend heulenden Laterne und was man als gewöhnlicher Analytiker von dem davor um Einwertigkeit ringenden Carl zu halten hat, war ja bereits die Rede. Und daß er Roberta nun, da er sie zur Künstlerschaft fähig erachtete, für aus dem gleichen Holz und nach dem gleichen Muster gestrickt hielt wie sich selbst, erstaunt mit dem Wissen um solche Perspektiven ebenso wenig wie daß Carl auch die Anarchisten aus ebendiesem Stoff gemacht wähnte, schließlich kannte er in der Tat ein paar davon, als sie noch aus dem gleichen Holz gemacht waren wie er selbst, unruhig nach irgendwas suchende wirre junge Gesellen, bevor sie sich in das Unheilige verwandelten, was leider aus ihnen ward.) Von den Anwesenden schien all das jedoch keiner bemerkt zu haben, und so fuhr er ähnlich verwegen fort:

"Dann dieses, was hinter Euch steht und eigentlich als einziges aussieht wie ein richtiges Bild: das ist überhaupt kein Bild, sondern es steht einfach nur dumm rum."


("Blond", 1979, 140 x 150 cm)

"Und zwar aus sentimentalen Gründen, es ist nämlich der eigentliche Grund dieser Show. Der Gedanke für diese Show entstand, nachdem mir dieses jetzt bloß noch so dumm rumstehende Bild, das ich für die Show 'BLOND' in Annas Laden gemacht hatte, danach so gut gefiel, daß ich gleich ein paar Bilder in dieser Art machen wollte. Daher rief ich Boris an, ob ich diesen Raum hier zum Malen haben könnte, weil ich zu Hause ja nur Teppichboden habe. Boris gab ihn mir dann unter der Bedingung, daß ich nicht nur malte, sondern auch diese Show hier mache. An sich wollte ich in vierzehn Tagen zwölf Bilder malen, mit zwei Ruhetagen also, dann aber hab ich den Raum hier nur für sieben Tage gekriegt, da dachte ich: dann muß ich schon vorher anfangen - und so sind, schon zu Hause, diese filmartigen Bilder entstanden, auf meiner Maldecke; und als ich dann hier war, hatte ich irgendwie keine rechte Kraft mehr - so sind nur fünf Stück halbwegs fertig geworden. Ich hatte aber zehn Leinwände gespannt, zwei davon sind noch völlig unbemalt, sie sind nur grundiert und drei nur irgendwie angefangen, in einer frühen Arbeitsphase steckengeblieben. Das Ganze bildet nun in Verbindung mit dieser Stahlschiene dieses Bild hier, was ich eher einen Roman nannte."

"Nun könnt Ihr Euch natürlich nun fragen: Wieso gerade diese Formate? Wieso sind deine Bilder nicht größer? Warum sind sie nicht so groß wie die von den anderen Malern, die jetzt so malen? Der Grund ist ganz einfach: Ich hab diese Format gewählt, damit sie in das Schlauchboot passen. Das sogenannte Bild zum Beispiel, was hinter Euch steht, 'BLOND', das eher wie aus der heutigen Zeit stammend aussieht, gehört deshalb nicht zu dieser Ausstellung, weil es nicht ins Schlauchboot paßt - und deshalb ist es kein Bild im Sinne des heutigen Abends. Ich kann es Euch sogar beweisen..." - reif er und schritt federnd zu 'BLOND' hinüber, wo er sich die fast 2 mal 2 Meter große Leinwand griff (ganz wie Roberta sich ihre Bilder beim Transport von Alidas durch den Hauptbahnhof in ihre neue Wohnung gegriffen haben mußte) und sie dann vorsichtig auf das Schlauchboot positionierte: "Ihr seht, es geht nicht hinein. Und wenn wir so ein Objekt hier so einfach drauflegen und es nicht hineingeht, werden schlimme Sachen passieren, die nicht im Sinn der Idee dieser Show sind. Man kann diese bemalte Leinwand zwar schon mit dem Schlauchboot verbinden," - nun stellte er das Bild senkrecht auf - "aber Ihr seht, daß sie jetzt wie ein Segel aussieht, mit dem ich auf meinem Boot die sieben Weltmeere befahre. Das liegt aber nicht in den Intentionen dieser Show, und entspricht so gar nicht dem Gemütszustand, in dem ich mich befinde. In dem möchte ich nämlich alles in dieses Boot reinpacken, und nicht im mindesten die Welt befahren... " Nach dieser Erläuterung brachte er das nun für sogar den Dümmsten erkenntlich zu groß geratene Objekt an seinen alten Platz und erklärte: "Dieses Bild gehört also nicht zu dieser Show, alle anderen gehören aber dazu, und jetzt könnt Ihr fragen: Warum so viele? Und warum gerade diese Zahl? Die Antwort ist: Weil sie alle gerade so in das Boot reinpassen, ich hoffe es jedenfalls. Mehr gehen nicht rein. Ich hab es aber noch nicht probiert, außerdem muß ich selbst da noch reinpassen, auch ich gehöre schließlich in dieses Schlauchboot. Dann könnt Ihr natürlich auch noch fragen: Warum überhaupt Bilder, warum nimmst du keine Ytong-Steine, die du da mit in dein Boot nimmst? Darüber habe ich sehr lange nachgedacht. Dann bin ich draufgekommen, daß ich einfach an den Bildern gut finde, daß sie bunt sind, und die Ytong-Steine, so wie sie kommen, sind nicht bunt, und ich hatte keine Lust, Ytong-Steine zu bemalen."

Und nachdem er so auch die Bauarbeiten in Robertas neuer Wohnung und seine Weigerung, sich an ihnen zu beteiligen, angesprochen und seine Haltung dazu ganz ohne dialektischen Un- und Hintersinn ausgedrückt hatte, gelangte er - auf die einsam abseits stehenden 'Säulen des Hercules' ging er gar nicht ein - zu den weniger deskriptiven Teilen des Abends.

"Der Titel dieser Show heißt zwar 'EIFERSUCHT', aber eigentlich sollte er anders heißen, nämlich 'ALLES NICHTS', das war jedenfalls der Titel, den ich Boris vorschlug. Unter diesem Titel habe ich jedenfalls angefangen, den Text, den Ihr gerade hört, zu schreiben. Und damit wir das, es ist nämlich wichtig, nicht vergessen, werd ich diesen Titel jetzt gleich auf das Boot malen. Ihr seht, daß Schlauchboot hat schon von der Fabrik aus einen Namen bekommen; Es heißt 'ATLANTIC', was deutlich auf ihm zu lesen ist." Er nahm einen schwarzen Filzstift aus seiner Brusttasche, kniete nieder und schrieb vorsichtig, in durch mehrmaliges Übermalen verdickten Buchstaben, das Wort 'ALLES' an die äußere Bordwand, anschließend schrieb er das Wort 'NICHTS' ebenso auf die Innenseite und sagte: "Wenn man das jetzt liest, dann heißt dieses Boot von außen ganz klar 'ALLES ATLANTIC', während es von innen schlicht 'NICHTS' heißt. - Wenn man aber genauer hinguckt, genau jetzt, stellt sich heraus, daß es überhaupt kein Schlauchboot mehr ist, sondern eine Karte - und auf dieser Karte gibt es einen Ort, der ALLES heißt, gleich neben dem Atlantic und hier, an der anderen Seite befindet sich ein Ort namens NICHTS. ALLES, das könnte jetzt zum Beispiel Amerika sein, und NICHTS vielleicht Europa, oder umgekehrt, vielleicht ändert sich das auch sekundenschnell, wer will das wissen - bei den schnellen Flugzeugen jetzt; mit denen ist man ja im Nu drüben, da kann schon mal passieren, daß man Europa und Amerika verwechselt, sie sind ja nur noch in unserem Bewußtsein getrennt, physisch gibt es da ja gar keine Trennung mehr." Leider gelang ihm wieder nicht, seine Rede auf 'Die Säulen des Hercules' zu bringen, die einst am Beginn der Erkundung des großen Atlantik gestanden hatten, gerade an dieser Stelle wär es nicht mal besonders schwierig gewesen: ganz wie seine beiden so benannten Bilder, die bei der Entwicklung seines Malens eine erhebliche Rolle spielten, standen sie heutzutage im Abseits, war ihnen in der weitergeführten Welt nur noch eine abseitige, allenfalls gefällige Existenz beschieden.

"Wenn man aber weiter genau hinguckt, noch genauer meine ich, merkt man, das ist gar nicht eine einfache Karte: Denn Karten, das kennt man ja, sind zweidimensional, hier handelt es sich aber um etwas Dreidimensionales, es kann daher weder eine Mercatorprojektion von unserem Globus sein, noch eine Zentralprojektion (wie vorhin bei der Projektion des Films) oder eine Lambertprojektion oder eine wie auch immer zustandegebrachte Mischprojektion des Erdballs auf die Ebene dieses Fußbodens, die ja eindeutig eine zweidimensionale ist - sondern es ist eine irgendwie kompliziertere Projektion, eine Projektion des Erdballs auf ein Schlauchboot: also eine Art Torusprojektion. Ein weiterer Unterschied zu einer normalen Landkarte ist das, was im Schlauchboot passiert. Das gibt ihm nämlich eine Art dritter Dimension, in der es ähnlich merkwürdig zugeht, wie in der vierten Dimension unserer wirklichen Welt - und wenn Ihr das nicht glauben wollt, dann sagt mir bitte: wo befinden sich denn die Orte ALLES und NICHTS auf einer normalen Landkarte? - Also, und um es zusammenzufassen: irgendwie ist es bei dem, was Ihr hier vor Euch habt, ein bißchen anders als bei einer normalen Landkarte, aber wenn wir uns daran erinnern, daß die Worte ALLES und NICHTS sich in unserem Bewußtsein aufhalten, dann begreifen wir auch auf einmal, worum es sich hier handelt: es handelt sich um nichts anderes als eine Landkarte unseres Bewußtseins, und in dem finden wir ja mühelos die Kategorien des ALLES ODER NICHTS - ja: genau genommen spielt sich alles in unseren Leben zwischen genau diesen Worten ab. Aber nun werden wir dieses Schlauchboot unseres Bewußtseins mit Ereignissen füllen und sehen, was infolgedessen passiert." Carl wußte noch, wie sehr er sich im Filmseminar neulich mit dem Wort Zeitmaschine beinahe blamiert hatte: mittlerweile begriff er den Zustand, in dem er da offenbar gewesen war, nicht mehr als hochangestrengte gesegnete Geistesleistung, sondern er merkte, daß er ein wenig neben sich gestanden und gerade noch rechtzeitig wieder in die Welt zurückgefunden hatte; tatsächlich war ihm dies erst in den letzten Tagen gelungen, als er nämlich den Text für den heutigen Abend niederschrieb. Dementsprechend knapp ging er auf seine kurzzeitige Geistesverwirrung ein und behauptete: "Dieses Schlauchboot ist natürlich keine Zeitmaschine oder irgendein höheres Wesen, das einem bei der Kunstproduktion behilflich ist, es handelt sich selbstverständlich um ein ganz natürliches physisches Objekt. Seine Metamorphose zu einer Landkarte des Bewußtseins wird es jedoch trotzdem in üblen Gewässern segeln lassen. Und das alles unter der Flagge der Eifersucht. Natürlich bleibt es dabei ein Schlauchboot, jederzeit, aber es ist zugleich eine Karte unseres Bewußtseins. Dieses Schlauchboot wird also den Atlantik unter der Flagge der Eifersucht besegeln - wobei es stürmisch und wild zugehen wird, denn in unserem Bewußtsein geht es ja ebenfalls stürmisch und wild zu, und zu irgendeinem Zeitpunkt, wenn es zu stürmisch werden sollte, werde ich diese Decke neben das Schlauchboot legen, so daß es etwas Halt hat. Dies ist an sich meine Maldecke, daher ist ihre eine Seite sehr dreckig, die andere aber, die Ihr jetzt gerade seht, ist noch einigermaßen sauber. Diese Decke ist natürlich auch nicht einfach nur eine Decke sondern sie symbolisiert eine konventionelle Landkarte. Und dann, wenn es ganz kritisch wird, wird es einen Moment geben, wo Decke und Schlauchboot sich berühren werden, und in diesem Moment der Berührung von Schlauchboot und Decke werden wir uns daran erinnern, daß das Schlauchboot kein Schlauchboot ist, sondern eine Karte unseres Bewußtseins, und daß dieses dann fest in einer konventionellen Karte verankert ist. In diesem Moment wird vielleicht so was wie ein elektrischer Funken fliegen - metaphysisch gesprochen erleben wir mit der Berührung von Schlauchboot und Decke nämlich die Kollision zweier Ideengebäude, von denen jedes in sich abgeschmackt ist. Durch die gegenseitige Berührung aber bekommen sie zumindest für die nächsten zwanzig Minuten eine elektrisierende Kraft, und es wird sich eine Art Metamorphose ereignen. Vielleicht aber auch nicht, ich kann das noch nicht sagen, wir müssen warten, bis wir soweit sind. Ich lege die Decke erst mal ein wenig zur Seite. Und dies hier, diese Pumpe ist, wenn das von ihr Aufgepumpte ein Schlauchboot des Bewußtseins sein sollte, sowas, wie, wie heißt das, Bauchnabel, Gebärmutterschlauch oder Nabelschnur - ja Nabelschnur, denn wir brauchen natürlich Energie, um so eine Landkarte des Bewußtseins in ihrer Dreidimensionalität aufrecht zu erhalten, das geht nicht so ohne weiteres und von allein."

Er rhythmisierte seine Sätze immer wieder mit Pumpanstrengungen, unter denen sich das Schlauchboot nun allmählich aufblähte, hielt aber, als das Boot endlich fast aufgeblasen war, inne und erklärte: "Das ist natürlich, tut mir leid, alles eine Sackgasse, weil die Show heißt ja, wie Ihr gelesen habt, gar nicht 'ALLES NICHTS', sondern sie heißt 'EIFERSUCHT!' - aber es fing eben an als 'ALLES NICHTS' und ich kann Euch jetzt ja mal vorlesen, wie die Grundidee von 'ALLES NICHTS' einmal ausgesehen hat. Doch bevor ich es Euch erzähle, fang ich schon mal an, unsere Zeit ist knapp, das Schlauchboot zu beladen." Damit griff er sich ein Bild von 'Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom', hielt es hoch und den Zuschauern so entgegen, daß es für sie gut sichtbar wurde, und warf es dann, mit einer Geste äußerster Achtlosigkeit, ins Schlauchboot. Diese Prozedur wiederholte er mit dem nächsten Bild der Serie, und dann dem mit dritten - ein von Hand arbeitender, lachhaft langsamer Projektor, der ganz bedächtig bewerkstelligte, was im Kino eine technische Apparatur sowohl gedanken- als auch wohltuend mühelos im Nähmaschinentempo zustandebrachte: einem Zuschauer erst etwas zu präsentieren und dieses dann zur Wieder- oder Weiterverwendung in irgendeiner Struktur verschwinden lassen, in diesem Fall einem Schlauchboot, in welchem es einen sich darin allmählich aufbauenden Haufen von gerade Gesehenen vermehrt - am Ende würde dieser Haufen aus all seinen hier ausgestellten Bildern bestehen, als würde der im Laufe dieses Abends projizierte Film nicht von einer Spule aufgefangen sondern von einem schlauchbootförmigen Eimer, der zugleich unser Gedächtnis symbolisieren könnte. Nein, er wußte nicht, was in den nächsten Wochen geschehen würde, aber er wußte auch nicht richtig, was er da eigentlich tat, als er jene hintereinander gestellten Dinger, gelegentlich unterbrochen von weiterem Pumpen, hochhob und in dieses Schlauchboot manchmal warf und dann wieder sorgfältig legte - aber da deutete sich bereits an, daß er mit dem Malen aufhören würde, um es noch einmal mit Film zu versuchen. Und die Flagge der Eifersucht war nicht die weiße Flagge der Vernunft, wie er behauptete, es war ganz schlicht die weiße Flagge der Kapitulation: er hatte vor diesen Malern und ihrer Kunst kapituliert und würde ihnen nicht mehr ins Gehege pfuschen, wenn er seine Roberta wiederbekam. Er hatte es ihnen zwar gezeigt - aber sie hatten es gar nicht wahrgenommen, und das war schon fast komisch. Er war tatsächlich auf famose Weise, wenn man so will: 'FAMOS' besiegt. Doch auch Carl war komisch, und genau diese Komik rettete ihn vermutlich damals aus einer Situation, in der andere vielleicht nicht zu retten gewesen wären:

"ALLES NICHTS sollte eigentlich ganz locker und improvisiert anfangen," ließ er sein Publikum nämlich nun wissen: "Aber leider läuft unsere Show hier bisher noch nicht besonders gut, so will ich lieber textgetreu arbeiten und ablesen - Also: Erwartet nicht zuviel; ich werde jetzt alles so vorlesen, wie es hier aufgeschrieben ist." Damit legte er das Manuskript auf den Boden und las dann doch gar nicht ab, als er sprach: "Das Stück beginnt mit einem Mikrophon und einem Verstärker. Hier also," - er zeigte auf den Verstärker: - "haben wir also ein Mikrophon, und dort einen Verstärker" - nun zeigte er auf das Mikrophon - "hier haben wir Euch" - dabei zeigte er auf sich selbst - "und hier haben wir mich!" und jetzt machte er eine Bewegung als würde er nicht nur sein Publikum, sondern gleich die ganze Welt in ihrer banalen Kugelgestalt umfassen wollen. "Das Mikrophon erwartet was von mir, ich erwarte was von mir, und Ihr erwartet was von mir. - Ich weiß nicht, was das Mikrophon erwartet, ich weiß nicht, was ich erwarte, und erst recht weiß ich nicht, was Ihr erwartet!" Er machte eine Pause, um das fundamentale Dilemma dieses Gedanken einsickern zu lassen, und fuhr dann fort: "Dem Mikrophon ist es jedenfalls egal, und Euch ist es egal, und mir ist es egal - aber," dann verlor er sich in einer längeren Pause, änderte den Tonfall und sagte: "Als ich noch ein kleiner Junge war...", dabei schaltete er die beiden Scheinwerfer aus, die nicht nur ihn sondern auch den Raum beleuchtet hatten, ging im Dunkel in die Hocke und blitzte mit einem Blitzlichtgerät erst das Mikrophon, dann das Publikum und schließlich sich selbst an, um dann, während das Publikum die Nachbilder dieser Blitze im Dunkeln in sich wirken sah, noch immer im Dunklen leiser fortzufahren: "Und dann, als ich 25 war..." - wieder machte er eine gestische Pause, schaltete die Scheinwerfer anschließend wieder ein, um daraufhin mit einem Dosenöffner eine Thunfischdose zu öffnen. Während er ein wenig daraus aß, mußte er an seinen ersten Aufenthalt in New York denken, er wollte jedenfalls auf jene Zeit hinweisen, als er monatelang von solchen Konserven gelebt hatte - wie selbständig war er sich da doch vorgekommen! dann aber, schon um diesen sentimentalen Gedanken zu trivialisieren, erklärte er: "Die ist vom TOOM-Markt, 89 Pfennig, sehr billig, von sehr schlechter Qualität." Und das stimmte: nach Deutschland zurückgekehrt, begriff er nicht nur nicht, wieso Dosenthunfisch hier so viel schlechter sein mußte, so viel weniger schmackhaft, er begriff auch nicht recht, was ansonsten 1968 in diesem Land geschehen war - doch nun legte er die Dose weg und wandte sich wieder seinem auf dem Boden liegenden Manuskript zu, aus dem er die nächsten Sätze ablas: "Und dann als ich fünfundvierzig war, saß ich mit Katie und einem Picknick-Korb auf einer Wiese, und träumte, ich wäre wieder zweiundvierzig, und der Wind blies in ihr Haar und unser Helikopter parkte neben uns und sie lachte..." und als er da auch Gelächter im Publikum hörte, hielt er diesen Teil des Abends für schon von Grund auf gelungen und wurde wieder platt sachlich: "Ja soweit bin ich gekommen mit ALLES NICHTS," sagte er und stand dann überraschend energisch auf: "Das Thema der Stunde aber heißt: EIFERSUCHT!"

Ja, das glaubte Carl tatsächlich: daß er mit fünfundvierzig erfolgreich sein würde, so erfolgreich, daß er mit einem Helikopter zu einem Picknick fliegen könnte; so ironisch es gemeint war, hielt er einen solchen Aufstieg, viele seiner malenden Alterskollegen erlebten ihn ja, durchaus für möglich. Aber er täuschte sich: er wurde nicht wohlhabend; vielleicht unterschätzte er die Langsamkeit der Mühlen des Kulturbetriebes, oder ihm war nicht klar, daß durchaus nicht alles Originelle schon wegen seines Verdienstes nach oben gespült wurde - mit anderen Worten, wie bereits die Village Voice in Bezug auf Carolas Photographien anmerken wollte: 'New is not always the best!' Es gab Zensuren für das, was man tat, und Originalität war nur ein Bewertungskriterium unter vielen; und dann waren in jenen Jahren viele der netten Plätze, nach denen er in Deutschland hätte streben können, von den Ost-West-Problematikern besetzt, die keine wirkliche ästhetische Diskussion zuließen, ging es ihnen doch um die Macht im Staat. Zwar blieb Unsinn, den im Zeitgeist dominierenden Linken pauschal vorzuwerfen, sein Onkel Harri hatte es ja getan, sie wären allesamt "Rot wie die Schreiber des Neuen Deutschland", in ihren geheimen ästhetischen Überzeugungen waren sie dennoch auf gefährliche Weise nicht weit entfernt davon. Sie hingen dem verführerischen Irrtum an, der Staat bestünde aus einer Summe bloß vegetierender Einzelwesen (aus Schrödingerschen Wahrscheinlichkeitswolken im Grunde, wollte man es in Carls neuem Vokabular ausdrücken), die es zu befrieden und vor möglichen Ausbrüchen ruhig zu stellen galt, dann würde schon Gerechtigkeit walten. Bei Petra war ihnen diese Befriedung ja bereits gelungen, in Form von forcierter Ruhigstellung, ließe sich sagen - Ja, sie wußten genau, wie diese Gerechtigkeit auszusehen hatte, diese Leute, die eine 70 x 100 cm groß in Bronze gegossene Verbotstafel einem jeglichen zeitgenössischen Kunstwerk für tausendfach überlegen hielten, nicht nur an präzisem Ausdruck sondern auch an ästhetischem Charme, vermehrt noch, wenn man sie wöchentlich feierte, ordentlich putzte und ihr eine aufklärerische Bibliothek zur Seite stellte, zur Sicherheit, in welcher sich die einem Nahestehenden zudem vielleicht ein nettes Plätzchen zu ergattern vermochten - da hatte jemand wie Carl keinen leichten Stand. Denn daß die Welt heisenbergsch war, das wollte diesen Vertretern einer ordentlich eingerichteten Welt voller anständig wenn nicht bereits gewordener so doch werdender Menschen, in der Verbotsschilder ("Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!") die Kunst ersetzen konnten (oder in welcher Kunst vor allem vorhanden war, um die Wichtigkeit der auf diesen Verbotsschildern enthaltenen Gebote zu illustrieren) nicht recht in den Kopf, auch wenn ihre so von Grund auf vernünftig cartesianische Welt mitunter von ein paar eigenwilligen Wahrscheinlichkeitswolken verdüstert wurde. Sie, die sie selber die Welt ganz orthodox (wenn man so will sogar: heisenbergsch) manipulieren wollten, um sie sich, wenns ging, fürs "Bessere" gefügig zu machen, begriffen nicht, daß die Welt keineswegs für sie oder ihren guten Willen oder ihre zur Schau gestellte Fürsorglichkeit da war und schon gar nicht dazu, daß sie, die durch Schlauheit Mächtigen, sie änderten und rigoros neu ordneten, sondern daß in jedem ihrer angeblich so dummen, jedem ihrer auf Leitung angewiesenen Untertanen ein kleiner Heisenberg schlummerte, der wie Carl seine eigene kleine Welt nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten bestrebt war, und von der Politik vor allem erwartete, daß sie die größten Schweinereien verhinderte. Für solche wie ihn war der Staat, um den von jenen anderen so hart gekämpft wurde, im wesentlichen nur die Versammlung einander oft entsetzlich widersprechenden Bemühungen, worin man sich irgendwie zurechtzufinden hatte. Nun: dennoch ließ dieser Staat Carl nicht verhungern, im Gegenteil - er bekam weiter Geld für seine Projekte. Ein richtiger Durchbruch wollte ihm jedoch nicht gelingen, womöglich wäre er ihm auch nicht gewachsen gewesen. Insofern stimmte jenes seltsame Bild mit der Gewitterwolke: er hatte den Bereich bereits erreicht, in dem er sich bewegen würde, er würde nicht weiter steigen, so gern er auch wollte. Und dies war einem ihn hindernden Zeitgeist, obwohl dieser zweifelsohne Kunst auf gefährliche Weise zum Beleg- oder Quellenmaterial für moralisches Verhalten banalisieren und den Rest zu irrelevanter Spielerei erklären wollte - l'art pour l'art wurde ein Schimpfwort - nun wirklich nicht anzulasten, es kam Carl auch nie in den Sinn. Im Malstrom seiner Eifersucht erreichte er damals zwar eine für ihn neue Ebene, aber schon beim Malen im Künstlerhaus hatte er begriffen, daß es mit einem bloßen Erreichen nicht getan war: man mußte die Welt auch mit den Erreichten füllen, und das war gar nicht so einfach, jedenfalls nicht für einen mit seiner psychologischen Substanz.

Wahrscheinlich hätte Carl seine weitere Erfolglosigkeit kaum überrascht: von dem, was damals in ihm ablief, war ihm viel zu viel unheimlich, als daß er sich ernstlich über irgendetwas hätte wundern können. Er war auf alles Mögliche vorbereitet. Aber er hätte sich wohl doch gewundert, wenn man ihm gesagt hätte, er würde sich einmal ein Ohr abschneiden wie van Gogh. "Unmöglich!" hätte er gesagt, das wäre nicht originell, das läge nicht in seiner Natur - jemanden nachzumachen! Und es stimmte: Er schnitt sich natürlich nicht das Ohr ab, aber irgendwann landete er trotzdem in einer Art Irrenanstalt, weil man seiner Mitwelt seine Gegenwart nicht mehr zumuten mochte , nicht lange zwar, nicht einmal drei ganze Monate; aber so etwas geht nicht spurlos an einem vorbei. Danach war er, wie man sich leicht vorstellen kann, ein wenig - verändert. Doch immer noch war in ihm eine kreative Wut, die sich nicht bändigen lassen wollte: während und gleich nach dieser Zeit schrieb er drei Romane mit freilich so verrücktem Inhalt und Stil, daß man ihn bei einer Veröffentlichung wohl gleich wieder in eine Anstalt gesperrt hätte. Gott sei Dank fand sich kein Verlag, der das verantworten wollte, und diese neue Niederlage veränderte unseren Carl noch einmal; und noch einmal entscheidend; und wieder wurde er zu etwas anderem, er wurde zu - mir; warum soll ich es nicht sagen: er wurde zu mir, der ich all dies nun aufschreibe, mit mitunter leider schon eisigem Atem, um zu versuchen, all das zu verstehen, was mit mir damals geschehen ist. Merkwürdigerweise ist das alles aber inzwischen schon so weit weg, daß es kaum noch schmerzt. Ich hatte es nämlich fast vergessen.

Nur seine Filme habe ich nicht vergessen, ich habe sie in der Zwischenzeit so oft vorgeführt, daß sie weiter zu mir gehören. Ja, diese Filme gehören nun mir, obwohl sie einmal von jenem Carl gemacht worden sind. Sie sind ja objektiv vorhanden, seltsame Pakete aus der Vergangenheit, und ich kann mir in aller Ruhe überlegen, worin ihre Bedeutung bestanden haben mochte; ich könnte sie sogar umschneiden oder vernichten, ohne daß es mir jemand verbieten kann. Auch mit den von ihm hinterlassenen Bildern könnte ich dies tun: Ich bin in einem jeglichen Sinne ihr Besitzer. Carl dagegen gehört mir nicht, er gehört sich selbst, und da er sich selbst damals kaum begriffen hat, begreife auch ich ihn nicht. Doch das ist ja nicht weiter erstaunlich: selbst wenn ich heute denke, begreife ich mich im Grunde kaum. Wenn ich schreibe, zwinge ich mich nämlich offenbar nur zum Denken - auf sonderbare Weise ist Denken, meine ich, gar nichts Natürliches, außer in seinem Vergehen, sondern etwas Ausgedachtes: ja ich denke (mit mitunter freilich nur noch eisigem Atem, ich wiederhole es, beinahe schon dem noch kälteren der Geschichte, der mich und alles was mir, was meiner Umgebung, einmal geschehen ist, ersticken wird) mir auch heute mein Denken nur aus, und weiß gar nicht, wie ich in Wirklichkeit bin. Wir haben im Grunde alle keine Ahnung, wie wir "unausgedacht" denken, weil wir es nicht recht bemerken und sofort vergessen. Heute begreife ich Carl, jemanden wie Carl, in diesem kühleren Atmen, vielleicht ein bißchen mehr, dennoch hat all das kaum mehr als den Charakter einer groben Vermutung, da ich mich selbst noch immer nicht begriffen habe. So habe ich mir einen Carl konstruiert, von dem mir mit Sicherheit nur die Form seiner Filme und Bilder bekannt sind, oder ein paar authentisch wirkende Notizen; schon solche Rekonstruktion ist unverschämt genug. Aber um wieviel mehr gilt das für die Personen, mit denen er umging, den Walters, Joachims, sogar den Robertas (die kannte er noch am besten), denn die Gabe der vorurteilsfreien Beobachtung war Carl nicht gegeben. Und da er sie nur aus seiner beschränkten Perspektive hat wahrnehmen können, weiß auch ich so gut wie nichts von jenen Personen, die mir einmal sehr lieb gewesen waren und es zum Teil immer noch sind; ihre Substanz ist im Grunde bloß ausgedacht. Ebensowenig weiß ich, was die Leute aus seiner Umgebung damals von Carl hielten. Und noch eins, das wichtigste vielleicht: glauben Sie mir bitte nicht alles, was ich Ihnen hier sage - das Wort 'Ich!' ist eine entsetzliche Waffe! die, von Solschenizyn und dem glänzenden Josef Brodsky zum Beispiel klar ausgesprochen, selbst Stalin und die ihm Nachkommenden um den schon sichergestellt geglaubten Erfolg gebracht hat.

"Eifersucht ist das, was die Trennungen aufhebt," fuhr Carl jedoch nun in seiner für diesen Abend charakteristischen Schlichtheit fort, ohne einen Gedanken an eine Monstrosität wie Stalin und seinen sozialistischen Realismus zu verschwenden: "Die Trennung zwischen Mir und Dir, zwischen Uns und Euch, zwischen Allen und den Anderen, zwischen Sonne und Mond und selbst zwischen diesem Mikrophon hier und dem dazugehörigen Verstärker. Eifersucht ist sozial. Der Mond ist eifersüchtig auf die Sonne, die ihn hält, und läßt die Erde im Gezeitenwechsel vibrieren. Eifersucht hält die Welt zusammen."

"Was aber ist Eifersucht? Eifersucht geht an die Substanz. Ihr alle seid eifersüchtig auf mein Schlauchboot, aber diese Eifersucht nützt Euch nichts, Ihr könnt Euch so ein Schlauchboot nicht mehr kaufen - es gibt es nicht mehr. Und ich bin natürlich eifersüchtig auf jeden von Euch, aus Gründen, die Ihr wahrscheinlich selber am genauesten kennt. Eifersucht basiert auf Unsicherheit und Unsicherheit macht uns zu sozialen Wesen. Wir treten heraus aus den Schranken des Ichs und sagen Du, und wir meinen alle. Die Eifersucht sprengt die Ketten des Ichs und über das Du das Gefängnis des Ich und Du."

Nur mein maximaler Erfolg, die angestrebte Lehrexistenz, will sich trotz entsetzlicher und entwürdigender Bemühungen - lohnte überhaupt, sich darüber zu beklagen? - nicht recht einstellen: es begann bei jenem Bettenbinder in Braunschweig und setzte sich in einer Kette viertklassiger Demütigungen fort: Offenbach, Köln, Stuttgart, Düsseldorf, Weimar und Dortmund ... und so werde ich wohl, um nicht unterzugehen, weiter mein Unwesen in dieser Kultur treiben müssen. Nun, dafür braucht man sich ja, Gott sei Dank, nicht mehr zu entschuldigen - und vielleicht lebe ich ja noch lange genug, vielleicht gewinne ich dabei soviel Weisheit, daß ich diese entsetzlichen drei Romane, die Carl in seiner Verwirrtheit schrieb, so umzuarbeiten verstehe, bis sie meinen Mitmenschen zumutbar sind. Und doch gehört dieses Buch nicht mir, es gehört jenem Carl; dem jungen Carl und seiner Zeit und seinen Gefährten, dem Vierunddreißigjährigen mit der Seele eines Siebzehnjährigen, der - ein Kind noch - seiner Umgebung von seiner Weisheit mitteilen wollte:

"Auf der anderen Seite ist Eifersucht nicht modern. Liebe ist modern - aber was ist Liebe? Liebe geht an die Substanz. Ihr alle liebt wahrscheinlich mein Schlauchboot, und in Euch allen gibt es etwas, was ich liebe, und Ihr selbst wißt wahrscheinlich am genauesten, was das ist. Liebe macht uns zu sozialen Wesen. Liebe läßt uns heraustreten aus den Schranken des Ichs und wir sagen Du. Du bist schön, du bist dick, du bist modern! Liebe ist modern! Eifersucht ist nicht modern. Aber was ist Eifersucht und was ist Liebe. So kommen wir nicht weiter."

Nein, Carl kam so nicht weiter. Aber da damals kaum jemand seine Filme sah, kann ich heute sogar so tun, als hätten sie nie existiert, als würde ich sie mir nur vorstellen. Das machte sie auf seltsame Weise zu einem Gegenstand der Belletristik und als solche nahmen sie in diesem Text auf einmal eine größere Lebendigkeit an, als ihnen vielleicht innewohnte; ja, sie wurden in einem ganz realen Sinne für mich - und durch mein Schreiben nun vielleicht auch für andere - wirklicher als das eigene, sich vergessende Leben. Wer hätte das gedacht? Und so habe ich den Raum zwischen ihnen und ein paar anderen übrig gebliebenen Kunstwerken Carls mit ein wenig gewöhnlicher Wirklichkeit zu füllen mich bemüht, von der allerdings so viel nicht von mir wahrgenommen oder bereits wieder ganz vergessen wurde, daß sich die darin angesprochenen Personen kaum wiedererkennen werden. Die hölzerne Unbeholfenheit, mit der sie - Andreas, Jean, Arndt, Deiters, Prantler und viele andere - dargestellt sind, allzuoft nur in Form eines zufälligen Schnappschusses, dürfte ihnen kaum Freude bereiten. Manche kommen natürlich besser weg, das liegt in der Natur der Welt; ich bin aber kein Geschichts- oder Geschichtenaufschreiber, dem daran liegt, ein Urteil abzugeben: mir geht es nur um eine Art Verständnis. Dennoch sind sie allesamt Menschen, an die ich gerne denke - vielleicht ist das sogar das Beste, was man von so einem fremden Leben sagen kann, in das man nur ein paar Momente tiefer hineingeschaut hat, über die Jahre verteilt. Ich weiß nicht, warum sich solche Weltsicht öffentlich kaum aussprechen läßt, wir wollen es offenbar lieber ein wenig kitschiger - wenn man jedoch Carls Gedanken von einem klaglosen Verklingen der Töne und Bilder einen Augenblick lang ebenso ernst nimmt wie Adam von Fuldas damit verbundene "meditatio mortis", verliert vielleicht sogar die Sentenz, jemanden aus den Augen verlieren wäre besser als ihm wieder zu begegnen, ein wenig von ihren traurigen Biß. Die Endlichkeit des Lebens verurteilt auch unser Erleben zur Endlichkeit, zu einem Akzeptieren seiner Flüchtigkeit, zu sogar einem klaglosen Akzeptieren seines Verklingens. Max und Carola kenne ich immer noch, auch Dieter, sie heißen natürlich anders und haben mich mein Leben lang begleitet; ich liebe ihre Kunst noch immer wie damals und orientiere mich an ihr - sie nehmen mir sicher nicht übel, daß ich sie so unvollständig zeichnete: ich verstand und versteh es nicht besser. Jeder von ihnen - auch die hier nur mit einem (oft leider nur mißglückten) Schnappschuß Bedachten - verdient ein eigenes Buch. Die in diesem Text deutlich weniger gut Weggekommenen bitte ich, wie die inzwischen auch schon recht zahlreichen Toten, ebenfalls, mir zu verzeihen, ich meine es nicht mehr böse - seltsamerweise bin ich ohne viel Neid. Haß kenne ich schon, neidisch bin ich jedoch komischerweise nicht, obwohl man diesem Psychogramm ebenso gut auch das Gegenteil entnehmen könnte.

"Es gibt natürlich auch die Musik!" rief Carl nun überraschend (und bereits ebenso neidlos wie ich es inzwischen bin) aus, wobei er eine Schallplatte auflegte, was wiederum nicht zuletzt andeuten wollte, daß ihn die Musik in seiner Filmarbeit an einer entscheidenden Stelle aus der Sackgasse geholfen hatte: "Dies ist Musik! Musik ist der Kampf der Liebe mit der Eifersucht. Dies zum Beispiel ist Bruckners Achte Symphonie, dirigiert von Furtwängler, 1944 in Berlin, als die Bomben der Alliierten vom Himmel tropften. Die Alliierten waren eifersüchtig auf Furtwängler und seine Musik, die er liebte, so jedenfalls steht es in den Geschichtsbüchern, aber ist das auch die ganze Wahrheit? Man muß sich das vorstellen, 1944 Berlin, Bomben prasselten runter, Furtwängler mit den Philharmonikern will Musik machen, die Bomben fallen, machen unheimlichen Krach, und Furtwängler denkt natürlich, Warum machen die solchen Krach, ich will meine Musik machen, die haben was gegen meine Musik, die sind eifersüchtig auf meine Musik, und er sagt, die machen Krach, gut, ich mach auch Krach, ich mach meine Musik, und er fängt an, den Taktstock zu heben, und die Philharmoniker spielen zum Beispiel Bruckners achte Symphonie, und hier an dieser langsamen Stelle, hört Ihr sie, die Bomben? Gut zu hören, und wenn man sich überlegt, was das bedeutet, eine solche Situation: Furtwängler eifersüchtig auf die Alliierten, weil sie mehr Krach machten als er je können würde, sehr viel mehr Krach, und vielleicht liebte er seine Musik auf einmal nur noch, weil die Alliierten durch ihre Bomben so lautstark ihre Überlegenheit über seine Kultur kundtaten, und Musik hin, Bomben her, Musik ist ja nun einmal zunächst auch nur Geräusch. War also Furtwängler nur eifersüchtig auf die Geräusche der Alliierten, und die Alliierten nur besessen von ihrer Liebe zu Bomben? Ja, obwohl er seine Musik in dieser Zeit vielleicht gar nicht mehr lieben konnte, geht dieser Furtwängler noch mal ganz hartnäckig an ihre Essenz heran, man kann es richtig hören, wie die Alliierten da ihre Bomben runterwarfen und Krach machten, ja, da spielte er weiter diese Musik, jedenfalls kann man es so sehen."

Was war aus Carls "Angst" von damals geworden? Sie hatte sich in etwas anderes verwandelt. Jetzt hatte er abends keine Angst mehr; aber er fühlte sich nicht gut, er war enttäuscht - seine Angst hatte sich in Enttäuschung verwandelt. Und was einmal als Angst vor einer Leere begonnen hatte, was immer diese gewesen sein mochte - Angst vor der Kälte und Leere des die Erde umschließenden Vakuums war es gewiß nicht - heute würde er es als Angst vor dieser Enttäuschung bezeichnen, obwohl oder weil er deren Ausmaß nicht ahnte; vielleicht war dieses weite Nichtwissen Ursache für die Weite des Raums, den er als Leere bezeichnet hatte und vor dem er sich so fürchtete. Doch gefallen war er im wirklichen Leben nicht in die Enttäuschung, sie hatte sich allmählich eingestellt; war wieder verschwunden und kam wieder, bis sie allmählich so präsent war, daß sie sich nicht mehr wegreden ließ. Sie paarte sich mit Erfolglosigkeit und offensichtlich werdenden körperlichen Gebrechen: die Muskeln wurden schlaffer, Zähne fielen aus, Bandscheiben und Gelenkkapseln schmerzten und wenn einem irgendwann nichts mehr weh täte, sagte ihm neulich wieder mal ein ganz Schlauer, dann war man tot. Ja, er war enttäuscht, von sich und von dem, was das Leben ihm bot. Da war er ganz enttäuschter Bourgeois, obwohl so überhaupt nichts Bourgeoises an ihm war, der naiv glaubte, die Essenz des Lebens wäre auf diesem Planeten verteilt worden, um Leute wie ihn glücklich zu machen - darin irrte er sich natürlich, aber er tat es ja nicht allein, da war er bloß ein weiterer Dummkopf. Nein, darin war er nun wirklich nicht mehr allein. Dennoch war seine Enttäuschung real und nicht weniger biologisches Fakt, als sein Wunsch, sagen wir mal in seinem schlichten Vokabular: zu essen oder zu ficken.

Vielleicht war falsch, überlegte Carl an genau dieser Stelle später einmal, daß er überhaupt angefangen hatte, dies niederzuschreiben: es bleibt so viel mehr in einem zurück, oder bildet man es sich nur bereitwilligst ein? als man in Worten auszudrücken vermag. Jeder Gedanke, selbst ein unbedeutender, erscheint uns, solange er in uns wirbelt oder schon schlummert, immer tiefer als der dann in Worten ausgedrückte; ausgesprochen, vor allem aufgeschrieben erscheint er uns lächerlicher und im Grunde: ehrloser. Vielleicht weil wir meinen, daß Dummheit, vor allem, wenn man sie auf den Markt trägt, von Grund auf ehrlos ist. Einiges vom dem, was er an jenem Abend sagte - ich sage das heute - klang allerdings wieder gar nicht so ehrlos und dumm:

"Aber das steht natürlich nicht in den Geschichtsbüchern, und wird wahrscheinlich nie drinstehen," verkündete er seinen Zuhören nämlich - und wer will das schon bestreiten. Und dann fuhr er fort: "Ihr könnt natürlich fragen, Was geht uns das an, das ist lange her, das kann man nicht beweisen - und was man da gerade hört und gehört hat, wäre ohnehin nicht Bruckners Achte von Furtwängler 1944 eingespielte Symphonie, sondern bloß die Siebente, zwar auch von Furtwängler dirigiert, aber in einer Aufnahme von 1951 für den Rundfunk in Cairo: und damit hättet Ihr selbstverständlich recht."

Und während er, um seine Gedanken zu sammeln, wieder etwas Luft in das Boot pumpte, denke ich (hier zaghaft einen Ausdruck verbessernd, dort vorsichtig einen unklaren Bezug verdeutlichend, ab und an ein in der Leere sich suchend drehendes "irgendwie" sang- und klanglos verschwinden lassend), daß manche der hier erscheinenden sogenannten Nebengestalten wohl ebenso gut hätten weggelassen oder zu drei vier künstlichen Personen komprimiert werden können, mit dann genug tiefgängiger Substanz, daß sich mit ihnen die üblichen belletristischen Bande schnüren ließen - jene uns so lieben Verknotungen und Verschlingungen, zwischen denen wir so gern ein Verstehen in mehr als nur Umrissen zu spüren meinen, als wäre es darin verpackt. Andererseits sprachen wir bereits von jenem nervösen Künstlergas, worin unsere kleine Geschichte nun einmal spielt und das sich so weder verpacken noch packen läßt, schon weil es eine weit höhere Mindestzahl von mitspielenden Charakteren zum Funktionieren verlangt und leider nicht mit ein paar jener marionettenhaften Verknotungen und Verschlingungen zu fassen ist, wie wir sie in der Belletristik oder auch im Film so mögen, die aber von der Wirklichkeit so eines Künstlergases kaum weniger weit entfernt sind wie die Valenztheorie der klassischen Chemie mit ihren klassischen Wertigkeiten (nach deren Muster Carl zu Beginn dieser Erzählung so vergebens die Welt der Bilder zu klassifizieren suchte) von der quantenmechanischen Wirklichkeit eines entarteten Elektronengases, dem wir nichtsdestoweniger das Brennen nicht nur der Glühbirnen verdanken. Von solch simplem Klassifizieren war Carl längst abgekommen. Überdies mag paradoxerweise gerade das Hölzerne dieser sogenannten Neben- und Nebenstgestalten und daß sie in ihrer Vielzahl keinen rechten Bezug zum Hintersinn des eigentlich Dargestellten entwickeln können, Ausdruck ihrer Lebendigkeit sein - diese schnappschußartig präsentierten Gestalten sind zudem wichtig in einem weiteren Sinn: allein in ihnen ist die Wahrhaftigkeit des hier Erzählten nämlich einmal verbürgt gewesen, in ihrer Existenz als bloß eingeschränkt wahrnehmende Zuschauer. Nur in ihnen ist es einmal auf ähnlich hölzern unklare Weise präsent gewesen, wie sie, gewissermaßen in einem im zähen Äther der Zeit verschobenen Spiegel, nun selbst - sie mögen es verzeihen - in diesem Text auftauchen und erscheinen. Wie wir ja überhaupt die meiste Zeit mit einer Hölzernheit durchs Leben wanken, vor der einen grauen kann, gäbe es nicht so respektable Ideengebilde wie die der Stoa, des Epikur oder den nur allzu gut begründeten Skeptizismus eines Phyrro, deren vielstimmiger, aus vielschönen Worten bestehender Wechselgesang uns die Bestialität unserer Gleichgültigkeit mitunter zu versüßen vermag. Das jenseits davon Liegende ist bei den damals Beteiligten gewiß längst vergessen, wenn es überhaupt je wahrgenommen wurde. Weil auch ich selbst so viel vergessen habe und so gut wie nichts mehr genau erinnere, ist die Chronologie der Ereignisse nicht weniger absurd: kaum jemand vermag in so kurzer Zeit so viel zu ertragen, wie unser Carl es damals tat - da wäre er schon viel früher in seiner Irrenanstalt gelandet. Die Harten macht so etwas zwar härter, aber die Weicheren gehen dabei drauf. Und er gehörte nicht zu den ganz Harten. Auf seltsame Weise ist durch das Gedrängte, das so anders als jede Wirklichkeit ist - selbst in einem einzelnen Leben gibt es ja erstaunlich viel Platz - etwas anderes entstanden, ein Eindruck, der seltsamerweise tatsächlich ein wenig demjenigen einer gespannten Schnur ähnelt, von dem Carl einmal sprach, und so entsteht in dieser Erzählung ab und an doch so etwas wie das Gleiten der Ruderboote, das Carl stets so beneidete, wenn er eins an sich vorüberziehen sah. Ich hoffe, daß Teile dieser Geschichte jetzt mitunter am Leser vorbeigleiten wie jene Boote, und muß auf einmal vor Rührung weinen, wenn ich ihn zu Bruckners von Furtwängler dirigierter Musik so klarsichtig und doch noch so unwissend reden höre:

"So, ich muß jetzt mal die Decke auslegen. Ach, ich hab ganz vergessen, den Himmel darüber zu legen." Und nun bedeckte er das Schlauchboot bis hin zum Beginn seiner grünen Decke mit diesem Bettlaken, aus dem ihn das wunderschön geschwungene Blumenmuster, das am Morgen noch in seinem Zimmer vor dem Fenster gehangen hatte, anleuchtete. Dieses hell-leuchtende Laken hatte er in Columbus entstanden, und sich oft über die Feinheit der blau-rot-grünen Linien gewundert, die viel zu schade zum bloß Drauf-Schlafen war, über ihre Klarheit, bis er vor kurzem eine rechteckige Öffnung hineingeschnitten hatte, um durch sie hindurch bei 'BLOND!' seinen Italienfilm auf sein gespachteltes Wandbild zu projizieren. "Dieses Bettlaken ist der Himmel über dem Schlauchboot unseres Bewußtseins: Wie Ihr seht ist es etwas zerrissen. Wenn Ihr genau hinschaut, entdeckt Ihr aber zudem ein Loch in diesem Himmel - und durch dieses Loch kann man dann die Bilder hineinschieben in das Schlauchboot des Bewußtseins, und außerdem berührt der Himmel noch die grüne Decke." Er sagte das traurig, ich weiß aber nicht, ob er in seiner Traurigkeit in diesem Moment wirklich aufrichtig gewesen ist: Es blieb in ihm immer eine Art Versteck, das er um keinen Preis verlassen wollte.

"Also das mit der Musik, das ist irgendwie auch ne Sackgasse glaube ich, aber nun stellt Euch mal vor, es ist Herbst, Spätherbst und Ihr seid in Deutschland. Ihr werdet sagen, das ist ziemlich schwer, sich das vorzustellen, aber wenn Ihr Euch anstrengt, dann geht es. Und nun kommt der leichte Teil." Wenn ich ihn so reden höre, bekomme ich - will es mir wer verdenken? - zärtliche Gefühle, obwohl er nicht sehr liebenswert ist: aber er ist doch ganz Ich, und wenn ich mich auch heute nicht gern im Spiegel sehe, so beginne ich doch zu begreifen, daß diese seltsame Figur, die mich da in letzter Zeit mißmutig anschaut, diese zusammengefallene, nicht mehr besonders attraktive Erscheinung, die einzige Person ist, die immer noch Verständnis für mich hat:

"Stellt Euch vor, Ihr seid das letzte Blatt auf einem Baum, ich glaub, das ist nicht so furchtbar schwer, Herbst, die Blätter alle abgefallen, und Ihr seid das letzte Blatt, auf so einer Linde, oder irgendwas, etwas angewelkt, ansonsten aber noch ganz gut in Schuß. Und es ist ein windstiller Sonntagnachmittag. Und nun frage ich Euch: Würdet Ihr da eifersüchtig sein? Worauf denn? Worauf denn? Auf die Sonne, die Euch wärmt, den Baum, der Euch trägt, die Erde, die Euch ernährt? Natürlich nicht. Auf den Wind, der Euch streichelt - man hat natürlich auch Angst vor dem Wind. Oder doch auf die Sonne, weil sie einen hat verwelken lassen oder sowas; oder man kann eifersüchtig sein auf ein anderes Blatt auf einem anderen Baum. Aber dieser andere Baum ist so weit weg, so weit, und um Euch herum ist es leer, könnt Ihr Euch das vorstellen? Da macht Eifersucht doch keinen Sinn."

Nun, auf einmal sehe ich Carl vor mir, wie er am Telefon sitzt und versucht, jenen Walter Dahms anzurufen, irgendwie erscheint mir das als der furchtbarste Moment dieses Buches, dieser kindliche Versuch, mit seinem Gegner zu einer Verständigung zu gelangen, in Art einer polnischen Teilung - wie entsetzlich! Aber so ist Polen einmal aufgeteilt worden! Und Hitler besiegt! - "Ich hab gesagt, daß das Schlauchboot des Bewußtseins unter der Flagge der Eifersucht segeln wird, und wenn Ihr jetzt hier so guckt, dann seht Ihr zwar nicht die Flagge der Eifersucht, aber Ihr seht den Fahnenmast, an dem die Flagge der Eifersucht weht. Die Flagge der Eifersucht ist den meisten, die sie nicht sehen wollen, unsichtbar, aber das Rot erkennt man natürlich; und das Grün. Und da werdet Ihr natürlich sagen, das Rot, das ist das Blut der Künstler; und Grün, das ist das Leben, das sie nicht verstehn."

Ja, ich muß weinen, wenn ich ihn so über die beiden Farbflecken am Ende der Stahlschiene sprechen hören, die in seinem Boot nun als Fahnenmast zu dienen hatte - ein kaum sichtbar stumpfroter neben einem grünen - in diesem Brustton der Überzeugung, da er doch eigentlich gar nichts von dem wußte, was ihm und der Welt geschehen würde - aber er hatte Recht, auf seltsame Weise und unmißverständlich, oder wie Susan Sontag über eine gewisse Künstlerarroganz gegenüber der Welt schrieb: "He was right - because he was the real thing." - in dieser Welt, in der alles drunter und drüber geht, in der immer absurdere Verstelltheiten der Vernünftigen zu immer neuen Kalte-Kriegsabsurditäten führten, wo neue Ost- und Westpolitiken entstanden, deren Resultate den Bemühungen der sie Betreibenden immer mehr widerliefen, bis ihnen ihre Staaten schließlich um die Ohren geschleudert wurden: verglichen mit jenem Irrsinn, in dem die Zukunft von Millionen auf Spiel gesetzt und geopfert wurde, war Carl ein hochvernünftiger Mann, der eigentlich nur seine eigene Katastrophe verantworten mußte, und auch die war nicht so total, daß er nicht jetzt noch sprechen könnte, in einem gewissem Sinne kann man sogar sagen: er war einer der wenigen, deren Lebensplan ohne große Verstellung aufgegangen ist.

"Und nun noch mal ein anderes Beispiel," sprach er: "Stellt Euch wieder vor, es ist Herbst, Spätherbst, und Ihr seid in Deutschland, Ihr habt das ja schon geübt, und nun stellt Euch vor, Ihr kommt zu einer Show, die 'EIFERSUCHT!' heißt, das ist natürlich schwer, sich sowas vorzustellen, aber wenn Ihr Euch unheimlich anstrengt, dann schafft Ihr das vielleicht. Und nun nehmt einmal an, Ihr hättet bestimmte Erwartungen an die Show gehabt, und diese Erwartungen werden blutig enttäuscht. Denn was Euch vorgesetzt wird, wäre ein inkohärenter Mischmasch, eine Kette von Schwachsinn und unzusammenhängenden Sätzen von erbärmlicher logischer Struktur, einer Art Mickerlogik, in der Ihr keinen Zusammenhang entdecken könnt, und Ihr seid extra hergekommen und habt eigentlich was besseres zu tun gehabt, und nun frage ich Euch wieder: Gibt es da einen Grund zur Eifersucht? Und wenn - ist diese Eifersucht sozial? Oder, sind die Italiener eifersüchtiger als die Deutschen? Oder sind die Deutschen eifersüchtig auf die Italiener?"

Es stellte sich heraus, daß Roberta ihn gar nicht an jenem Tag betrogen hatte, als Carl annahm, sie würde sich, zwei Tage nach ihrer Rückkehr aus Bochum, nun dafür rächen, daß er sie von Walters Ausstellung ferngehalten hatte. Sie gab es jedenfalls nie zu. Aber er hatte Recht mit seiner Vermutung, daß etwas im Busch lag: Roberta betrog ihn nämlich nach seiner Veranstaltung im Metropolis, gleich nach dem Filmseminar, und zwar mit Volker; daß dieser es war, der ihm erst kürzlich angeboten hatte, ihm in jedweder Hinsicht behilflich zu sein, hätte Carl, obschon ihm eine gewisse von Volker ausgehende Kühle ja bereits aufgefallen war, nicht gedacht. Damit hatte ihn Roberta wirklich getroffen. Und natürlich mußte sie es Carl irgendwann sagen - sonst wärs ja sinnlos gewesen. So traurig es war, tat er gut daran, sich darüber nicht allzusehr aufzuregen. Denn das mit Volker spielte letztendlich keine Rolle, weil nämlich noch zwei Jahre vor ihnen lagen, eine gute Strecke in Düsseldorf, wo sie dann doch noch die von Carl erträumte kleine Wohnung bewohnten - so toll wars natürlich nicht, mit einer Hortensie im Hinterhof, aber das hatte er auch nicht erwartet - und er in aller Ruhe seinen Ruhrgebietsfilm machen konnte, mit Hilfe seiner den brutal linearen Verlauf der Zeit anhaltenden Anhaltemaschine selbstverständlich, der schließlich in Annas Buchladen uraufgeführt wurde . Wenn Roberta sein Auto fuhr, hatte er oft eine unbestimmbare Angst, für seinen Geschmack fuhr sie immer zu schnell, gerade wenn sie übers Land fuhren, und einmal zeigte sie ihm im Spätherbst in Kappes ein interessant aussehendes Feld mit reifenden Kohlköpfen, das man, wie sie sagte, erst im Dezember abernten würde. Mit Kohl kannte sie sich aus. Abends gingen sie in den Ratinger Hof, wo sie sich einem ein wenig anders gearteten Künstlergas aussetzen konnten, er ein wenig gelassener diesmal, als bloßer Gast in einer weniger angreifbaren Position, aus der er sogar einigen seiner allmählich einen Namen erlangenden Malerkollegen, Thomas Schütte oder einem gewissen Kippenberger (von dem es übrigens ein Ensemble von auf irrsinnige Weisen verbogenen Laternen und Beleuchtungskörpern gibt, manche in Form von Selbstporträts und jener verwandt, vor der Carl zu Beginn dieser Erzählung einmal rätselnd gestanden hatte) ein wenig näher kam, gelegentlich sogar im Geist heiterer Freundschaft, ganz anders, als es in Hamburg der Fall gewesen war. Zwei Jahre, in denen Roberta und er sich zwar weiter viel stritten und sich nie recht vergeben konnten, was sie einander angetan hatten, aber immerhin erlebten sie auch so manches beachtliche Glück, das anderen ihr Leblang verwehrt sein würde. Und wenn er von all dem nicht wußte, es weder wissen konnte, noch wollte, so ahnte er doch schon, daß er zumindest diesen Abend und wahrscheinlich noch viel mehr strahlend überstehen würde und kam endlich zu einem Schluß:

"Jetzt müssen wir mal das Schlauchboot die grüne Decke berühren lassen," fuhr er fort, denn nun war das Schlauchboot aufgeblasen und mit seinen Bildern - auch 'Die Säulen des Hercules' hatten inzwischen stumm ihren Weg hinein gefunden - beladen: "Ich hoffe daß jetzt was passiert. Aber das tut es offenbar nicht. Nicht so richtig."

Zwei Jahre, werden Sie sagen: Was sind denn schon zwei Jahre, warum dann so viel Aufsehens! Da hätte er sich doch die Mühe sparen können, und sich gleich mit jemand anderem abgeben können. Gewiß, gewiß waren es nur zwei Jahre, doch für jemanden, der mit so hoher Flamme brennt wie Carl es damals tat, können zwei Jahre bereits eine Ewigkeit darstellen, die er ohne seine Roberta wohl kaum so relativ wohlbehalten überstanden hätte. Vielleicht nicht einmal eine einzige weitere Nacht.

"Vielleicht sollte ich ein bißchen nachhelfen," sagte er vielleicht im Wissen darum: "Der elektrische Funken ist irgendwie nicht übergesprungen, da prallen ja jetzt zwei Welten aufeinander: einmal so eine altmodisch zweidimensionale Landkarte und dann dieses komplexe Schlauchboot des Bewußtseins, in das sich diese Dinger reingezwirbelt haben, da muß ich mal mit einem kleinen Feuer nachhelfen."

Ja, ich muß weinen, wenn ich ihn so reden höre, merke diesmal aber zugleich, daß sich etwas in mir heftig dagegen wehrt. Worüber weine ich eigentlich? Wieder sind fünf Jahre vergangen, worin das von mir Niedergeschriebene immer größere Stabilität erhalten hat. Eine Stabilität wofür? Sogar ein neues Jahrtausend, man mag es kaum aussprechen, hat begonnen - das alte, das, wie viele sagen, der Kunst, ist sang- und klanglos zu Ende gegangen. Inzwischen ist klar, daß es mit zierlichen romanischen Skulpturen begonnen hat, mit viel zu großen und dabei schlichten Köpfen auf klein gehaltenen, kaum verstandenen und dennoch penibel gemeißelten Leibern, die dem, was Gott ihnen bescheren würde, in post-stoischer Demut entgegenblicken. Mitunter meint man, diesem Jahrtausend wäre der Ausdruck dieser Gesichter genau angemessen gewesen, um vieles mehr als die Schreie der Verdammten oder das realistische Leiden, das seitdem aus so vielem, vor allem dem photographischen, Bildwerk spricht; angemessen gewiß angesichts der Summe, angesichts dieser Unzahl von Leiden, die dieses Jahrtausend beschert hat, aber auch der Erfindungen von übergroßen Köpfen für übergroße Köpfe und über das Äußerliche hinaus noch immer kaum verstandenen Leibern, deren gesetzmäßig brutales Verschwinden aus unserer Welt, schließt es doch jedermann ein, für uns ein Skandal geblieben ist. Vielleicht wäre auch uns ein wenig mehr von dieser post-stoische Miene angemessen, bei all dem, was unweigerlich kommen wird. Darf ich, lohnt es sich wirklich zu weinen, bloß weil ich einen jungen Mann so reden höre? Oder weine ich bloß über den Untergang der Kunst? Zehntausende haben wie er geredet, ohne daß sie ihn haben aufhalten können - Gewiß erkenne ich ihn, erkenne ich mich in ihm wieder, wenn ich auch anders geworden bin. Denn obwohl er sich mit seinen Vierunddreißig bereits für "uralt" zu halten geneigt war, besaß er, ich wiederhole es (auf den Photos aus dieser Zeit ist es ja nicht zu erkennen), noch die Seele eines Siebzehnjährigen und verhielt sich weiterhin wie ein Kind, das glaubte, daß man mit Aufrichtigkeit zu etwas kommen könnte, in dieser Welt, ganz ohne jede Verstellung. Ja, er war ein kleines Kind geblieben, trotz der zahlreichen Abenteuer in fremden Betten - aber er sehnte sich wohl einfach danach, in den Arm genommen zu werden, und als das nicht mehr gewährleistet zu sein schien, lief er bockig Amok. Ja, und natürlich verließ ihn Roberta, als sie das begriff; sie suchte natürlich an einem Mann kein kleines Kind. Aber auch sie hatte unter ihm nicht wirklich gelitten; was er ihr antat, gab sie mit gleicher Münze zurück. Auch sie hatte mit ihm nur einiges ausprobiert, um sich irgendwohin zu bewegen, an den Rand von etwas zu bewegen, den Rand des ihr Möglichen vermutlich: Danach probierte sie es mit anderen aus. Zielstrebig ließ es sich beinah nennen, warum denn nicht, und wahrscheinlich erreichte sie so schließlich auch, was sie wollte, was sie seit dem von ihr erkämpften Ballettunterricht wollte; sie blieb wenigstens nicht, wie so viele, unter ihrem Niveau, sie erreichte das ihr Mögliche - genau das hatte sie als Realistin nämlich gewollt. Carl, auch darin noch ganz Kind, wenn nicht seines Zeitalters so doch seiner Epoche, zündete indes erst mal ein kleines Feuer an:

"Was hier brennt, sind die Keile für die Keilrahmen, die habe ich aber nicht benutzt, deswegen sind die Bilder etwas schief, das ist aber nur gut. Und das, was hier ebenfalls brennt, ist der Flugzettel einer Show, die 'EIFERSUCHT!' heißen sollte, na ja, das muß alles gut ins Feuer gehalten werden, sonst brennt es nicht recht, hier ist schlechte Luft, ich muß ein bißchen Luft machen." Mit diesen Worten ergriff er den nach dem Aufblasen des Schlauchboots nutzlos gewordenen Blasebalg und versuchte damit die Mickrigkeit der vor ihm verkümmernden Flammen anzufachen, aber nachdem das Flugblatt verkohlt bereits war, wollte das Feuer die erstaunlich feste Holzsubstanz der kleinen Keile, die er da aufgehäuft hatte, nicht mehr so recht angreifen. Für das von ihm Beabsichtigte reichte es indes schon, das Feuer war immerhin angezündet, keiner hatte übersehen können, daß es brannte. Nein, dies ist nicht meine Stunde - sie gehört jenem Carl, denn verglichen mit ihm hab ich (hier zaghaft einen Ausdruck verbessernd, dort vorsichtig einen unklaren Bezug verdeutlichend, dann und wann ein in der Leere sich suchend drehendes "irgendwie" sang- und klanglos verschwinden lassend) das Leben verloren, an dem er so brennend teilhatte, ich bin nicht mehr das wirkliche Ding und kann nur noch klagend von ihm berichten:

"Ich nehme jetzt den Himmel ab, aber wenn das Feuer nicht brennt, dann wird das alles nichts, es kokelt nur ... an sich ist es schönes, brennbares Holz, man kann das gar nicht mehr, solch kleines Feuer machen, mit all den Zentralheizungen zu Hause, ich glaub die Luft ist hier zu schlecht, liegt gar nicht an meiner Technik, ist kein Sauerstoff, braucht Sauerstoff, ohne Sauerstoff brennen diese Keile nicht," verlor er brabbelnd nun doch den bisher ganz nett gespannten Faden seines Vorgehens, und öffnete die Ventile seines Bootes, aus denen zischend die Luft entwich:

"Ein bißchen hilft dieses Glimmen natürlich, Ihr seht ja schon, daß sich hier was ereignet mit dem Schlauchboot unseres Bewußtseins: Es sieht zwar aus wie ein ganz normales Luftablassen, und das ist es ja auch, aber in Wirklichkeit ist es, wie Ihr längst wißt, etwas ganz anderes. Denn während es seine Gestalt verliert," fuhr Carl fort und wickelte sich in das Bettlaken, um sich darin auf den Boden zu hocken, von wo aus er genau beobachtete, wie nun die Luft ganz langsam aus dem Boot entwich: "beobachten wir nämlich den Übertritt dieses Schlauchboots des Bewußtseins ins Schlauchboot der Erinnerung - ganz allmählich nähert sich seine Form derjenigen der grünen Decke hier an, und es wird zu einer Karte unseres Bewußtseins, ja, seht ihr, das Schlauchboot der Erinnerung gleicht allmählich in der Tat einer Karte, es ist schon beinahe wieder zweidimensional, dem Wunsch nach zumindest; die Bilder und Falten sind aber noch ein dreidimensional räumlicher Rest auf dieser zerknitterten Ebene," und jetzt richtete er sich, zwischen dem Haufen der von ihm gemalten Bilder, im Knien noch einmal auf und streckte sich, in das mit leuchtend zarten Blumenmustern versehene Bettlaken gehüllt, längst selbst ein seltsames Gebilde geworden - hatte seine Tante nicht immer gesagt, daß alle Bilder mit Blumen schön wären? - eine Halbstatue, ein mit einem Kopf versehener Torso, der aus einem Durcheinander, einem Chaos heraus noch einmal die Stimme erhob: "Auf einer Landkarte irgendwo zwischen einem Platz, der 'ALLES' heißt und einem Platz namens 'NICHTS', es wird zu sowas wie einem Schlauchboot unserer Erinnerung. Wir, ich wiederhole es, beobachten also in diesem Moment, und in diesem Luftablassen die Metamorphose des Schlauchboots unseres Bewußtseins zum Schlauchboot unserer Erinnerung und dieses Schlauchboot unserer Erinnerung, es reist zwischen einem Ort, der 'ALLES' heißt zu einem Ort namens 'NICHTS', hin und her, umspült von den silbernen Wellen des Atlantic - Und das tut es unter der Flagge der Eifersucht, und die Piraten aller Länder werden auf ihren Tankern mit ihren Infrarotfeldstechern nach ihm Ausschau halten, auf dem früher mal grenzenlosen Atlantik, nach dem Schlauchboot des Bewußtseins, aber alles was sie finden, was sie finden werden, ist das Schlauchboot der Erinnerung, und nicht mal das, ALLES, was sie entdecken werden, ist die FLAGGE DER EIFERSUCHT, die ganz oben an einem Fahnenmast über dem Schlauchboot unserer Erinnerung flattert, nein eigentlich sogar über dem Fahnenmast, die Flagge der Eifersucht sehen sie, und sonst NICHTS."

"Sonst nichts."

"Danke schön, das ist alles. Guten Abend."

(Ab)


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