K.Wyborny

VEREINIGT

(Roman aus Deutschland)

Zweiter Teil

DER WEG STIRBT


Filmausschnitte:

In der CD-Version diese Textes gibt es 3 kurze Filmauschnitte im Microsoft AVI -Format. Sollte Ihr Browser die Filme unzureichend vorführen, betrachten Sie diese bitte mit Ihrem Mediaplayer. Halten Sie diesen kleinformatig (die effektive Auflösung beträgt nur 176 x 132 Pixel im Cinepak Kompressionsformat) geöffnet und navigieren Sie in ihm herum während Sie den sich auf die einzelnen Einstellungen der betreffenden Filme beziehenden Text lesen. Die Dateien befinden sich im Video-Ordner, die betreffenden Dateinamen stehen neben den Links.


1. BERICHT FÜR EINE AKADEMIE (ABSCHIED VON DER MUTTER)

 

"Der Weg stirbt", sagte Philipp. Es war heiß in Berlin, vielleicht kam ihm der kleine Vortragssaal, in welchem er seinen auf einem Videomonitor ablaufenden Film kommentierte, nur deshalb zu eng vor - zehn, fünfzehn Leute, ein wenig gedrängt hinter in klassischer U-Form zusammengestellten Schulbänken, hörten heute zu. Er hatte sich vorgenommen, so viel über diesen Film zu sagen, wie er vermochte: um zu zeigen, was alles in Bildern enthalten war, um eine wie vieldeutige Materie es sich bei ihnen handelt, und daß man deshalb nicht rhetorisches Schindluder nach Art jenes kürzlich von ihm gesehenen Katzenfilms damit treiben dürfe; sondern daß man sie stattdessen sorgfältig zu betrachten und zu behandeln habe: wie Kinder gewissermaßen; weil man im Grunde nicht besser mit Bildern umzugehen verstand wie Kinder mit einem Objekt ihres Interesses, Regenwürmern zum Beispiel: so unschuldig brutal und verantwortungslos wie Riefen-Stahl und Eisen-Stein!

"Sehen Sie", sprach er daher : "es beginnt immer mit dem Abschied von einer Mutter. Hier sind sie also, die Hauptpersonen des Films, gerade noch hatten sie hilflos versucht, ein Liebespaar zu sein - jetzt trennen sie sich; und schon sitzt sie da, die weibliche Hauptdarstellerin, auf einer Sandbank und am Rand eines warmen Korallenmeers, nunmehr allein: 'Wird schon sehen, was sie davon hat, ihren Sohn so davongehen zu lassen!' denkt bockig der junge Mann, für den sie, wo er sich von ihr trennen will, auf einmal Mutter geworden ist - denn nun geht es, wie der Kommentar gleich verrät: 'Hinaus in die fremde ferne Welt.' Und so sitzt sie da bis zur Abblende, diese nichtsahnend zur Mutter Gewordene - Robert, ab jetzt einziger Held des Films, wird sie nie wiedersehen. In der Unbekümmertheit seiner Jugend hat er nämlich einen Weg entdeckt, dem er folgen, auf dem er sich finden will, dieser Held, der noch nicht weiß, daß die folgende Sequenz 'Der Weg stirbt!' heißen wird. Als Zuschauer ahnen wir dies schon, denn wo er gehen will, tut sich ein Weg gar nicht auf, stattdessen stapft man in hüfthohem Wasser - da verliert der Film, denn der Ton blendet nun aus, seine selbstbewußt realistische Oberfläche und wird ganz still: In einer Nahaufnahme zerspült eine Welle die Werkzeuge, zart und in sachtem Schwung, mit Hilfe derer die beiden so mutig ihr Überleben haben sichern wollen - sie erinnern, schon weil die Stille, irreal wie sie plötzlich hier ist, von Traum oder Erinnerung spricht, an das längst vergessene Spielzeug unserer Kindheit. Und nachdem sich Robert in Form einer Abblende auch davon verabschiedet hat, durchwatet er dies Meer aus mütterlicher Wärme, das seine Bewegungen umschmeichelnd hemmt, und an dessen Ende ein begreifbares Ziel nicht zu erkennen ist. Doch nun beendet Musik die Irrealität dieser Stille, und mit ihr erscheinen die Bilder, die Einem nach der Trennung von zu Haus begegnen; da sehen wir sie endlich, die uns Versprochene: die ferne fremde Welt . . ."

Filmausschnitt: Abschied von der Mutter (nur CD-Version / Dateiname: Un10.avi)

(Hafeneinfahrt Liverpool als Standbild)

"Eigensinnig beginnt sie an der Hafeneinfahrt von Liverpool, die Sie hier sehen können, und nur exzentrische Literaturwissenschaftler werden interessant finden, daß" - Philipp hielt das Video an, um die Einstellung als Standbild auf dem Monitor zu belassen - "Redburn diesen Ort einmal passiert haben muß, der Schiffsjungenheld aus Melvilles gleichnamigen Jugendroman; und sechzehn Jahre nach dem Erscheinen "Redburns" auch sein am Schreiben von "Pierre" und dem "Confidence-Man" müde gewordener, an den Nerven beschädigter Autor, an Bord des Schraubendampfers 'Egyptian' auf dem Weg über Gibraltar nach Konstantinopel, von wo es ihn via Ägypten nach Jerusalem zog - manche meinen, Grund seiner Müdigkeit wäre seine ihn verbitternde Erfolglosigkeit. 'Exzentrischer Literaturwissenschaftler!' sagte ich", fuhr Philipp fort, "denn wie soll ein normaler Zuschauer an dieser Stelle wissen, wie der Film endet. Fünf Jahre später wird der gleiche Robert nämlich, eine schwarze, die Anarchie feiernde Flagge schwenkend, in ein Kannibalendorf hineinlaufen, um sich dort totzustellen - das Ganze spielt auf eine Szene aus Melvilles "Typee" an (zu deutsch: "Taipi"). Dort stellt ein verblüffter Eingeborenenhäuptling ihn mit den Worten 'Typee - mortakee?' zur Rede, was in der Sprache der dortigen Einwohner, der Typee, höflich Auskunft von Robert verlangt, ob er die Menschen hier für gut oder böse zu halten beabsichtigt. Und als Robert 'Typee - mortakee!' zur Antwort gibt, murmelnd und ganz wie der Held aus Melvilles Roman, was 'Typee - gut!' heißen will, wird er - ebenfalls ganz wie in dem Roman, Melvilles erstem und erfolgreichsten - von den Eingeborenen aufgenommen und nicht ins wichtigste Ingredienz der Suppe verwandelt, deren Zubereitung man in den sich anschließenden Einstellungen verfolgen darf. Nun, all das ist Belletristik, schon weil man als Zuschauer kein Typee versteht - eine Sprache, die, soviel ich weiß, inzwischen ausgestorben ist, und nur noch in den Brocken dieses - Melville fuhr in seiner Jugend zur See und desertierte dabei auf den Marquesas - auf autobiographisches Erleben zurückgehenden Romans existiert: soviel vom Verhältnis von Fiktion zu Wirklichkeit und wer in ihr schließlich überleben und, wenn man so will, sogar siegen wird. - Melville jedenfalls wollte nach seiner hier in Liverpool ansetzenden Reise, die für ihn zu einer in die Ernüchterung wurde ('Das Meer, dem keine Aphrodite mehr entsprang', notierte er mit Bezug aufs Mittelmeer), nicht mehr als Schriftsteller leben: zurückgekehrt nach New York begnügte er sich mit einer Beschäftigung als Zollinspektor, ein schweigsamer, bärtiger Mann, der nach Feierabend Gedichte schrieb, in welchen er sich mit religiösen Fragestellungen auseinandersetzt. Nun - all dies ist solchem Bild einer Hafenein- oder ausfahrt bei üblichem Sehen kaum zu entnehmen; ebensowenig wie ein normaler Zuschauer annehmen kann - aber ich glaube, Sie sind keine normalen Zuschauer, sonst wären Sie nicht hier, deswegen traue ich mich, es heute auszusprechen -: daß an diesem Film schon der erste Titel ernstgenommen werden will, gleich nach der ersten Einstellung, welche übrigens, wie ich bei dieser Gelegenheit ebenfalls verraten darf, den Planeten Erde in der Schwärze des Alls darstellen soll, und zwar in Form der maximalen menschlichen Anmaßung, der eines Rechtecks. Auf dem folgenden Titel sind dabei die Worte 'Ein Typee Film' zu lesen, was andeuten soll, daß es sich um einen Film vom Typ 'Typee' handeln wird, einen Abenteuerfilm also, der die Welt umspannt und eigenartige Menschen vorstellt, und zwar aus der Perspektive eines jungen Mannes, also ohne allzu tief greifendes Verständnis. Nein, kein Zuschauer nimmt den ersten Titel eines Films besonders ernst, und das tut er zurecht, meistens wär man damit auch schlecht beraten - andererseits wimmelt das Leben von nicht erkannten Beziehungen, und so könnte man es sogar ein Zeichen von Realismus nennen, wenn sie wie in dem Film hier en masse auftauchen, ohne bemerkt zu werden. Soviel zur Normalität: Sie werden erkennen, eins meiner Lieblingsthemen, vor allem die sogenannte Normalität des Umgangs mit Bildern - doch erst einmal bewegen wir uns weiter auf dem anscheinend so sicheren Grund der Kindheit:"

"Dort, hinter der Hafeneinfahrt aber", - Philipp ließ das Video wieder anlaufen - "geht sie in etwas anderes über: Sie sehen, es ist auch anders geschnitten, schneller als ein 'normaler' Film, vor allem Filme mit Handlung, so schnell, daß kaum noch erkennbar ist, was genau sich da eigentlich abbildet. Bei dieser schnellen Montageweise, die zu gewissermaßen nur noch 'flackernden' Bildern führt, so nenne ich es jedenfalls, bekommt man nur noch die Atmosphäre des Abgebildeten mit, in diesem rhythmischen Pulsieren rasch aufeinanderfolgender Bilder, hier Anlagen der englischen Schwerindustrie, das verwirrend wäre, würde nicht die langsame Klaviermusik, welche die Bilder begleitet, es stabilisieren - bei jedem neuen Klavierton, sehen Sie: erscheint ein neues Bild. Hier also beginnt für uns etwas anderes: die Welt der Industrielandschaften, die, wenn man so will, die Wüste vertritt, in die man als kämpfender junger Mensch hinausstrebt aus der Behütetheit. So absonderlich es hier auch zugehen mag - Teil dieser Absonderlichkeit ist nicht zuletzt das momentane 'Geflacker' - bietet uns gerade die Ödnis solcher Orte mitunter die Möglichkeit, uns selbst zu finden, häufig zum ersten Mal, und zwar gerade weil Einen mütterliche Wärme hier nicht jederzeit wieder umfangen kann."

Philipp sprach zögernd, mit langen Pausen, worin die auf dem Monitor laufenden Bilder seine erläuternden Sätze langsam einholten, dann und wann hielt er, zur genaueren Betrachtung, eins der Bilder für eine Weile an. Er war müde. Gestern hatte er hier, an der Akademie der Schönen Künste, einen anderen Vortrag gehalten, über den gleichen Film, seinen letzten, einen öffentlicheren allerdings, ein 'Festvortrag', wie er ihn im Geheimen nannte, nicht so privat wie die jetzige Veranstaltung. Da und als danach noch sein Marokkofilm lief, war er eine öffentliche Sache gewesen, für die knapp hundert Anwesenden, vor denen er ausgewählte Teile von sich mit selbstgewähltem Ziel entblößte, heute fand er sich in einer Werkstattsituation wieder, mit diesen paar Leuten, darunter die Dame, die ihn hier betreute - sie hatten sich um einen in Seminarmanier zusammengestellten Tisch versammelt und kannten den Film, hatten den gestrigen Vortrag wohl ebenfalls gehört, bei zwei jungen Männern, mit denen er, wie er sich jetzt erinnerte, gestern kurz sprach, wußte er es jedenfalls; keine normalen Zuschauer, sie erwarteten etwas anderes. Eigentlich wollte er nur über das 'Flackern' sprechen, die rasch geschnittenen Bildfolgen, die so schnell vorbeigingen, daß man ihnen mit dem selbsterzeugten Wortstrom, der Bilder üblicherweise begleitete, nicht zu folgen vermochte - aber er fühlte sich, wie er anfing, auf einmal gräßlich erschöpft, zu schwach sogar, hatte er plötzlich gedacht, den Film bis zur betreffenden Stelle vorzuspulen, obwohl das nur ein bißchen Knöpfedrücken bedeutete; und so hatte er - das kam ihm weit weniger mühsam vor - einfach von Beginn der zweiten Kassette an zu kommentieren begonnen. Nun war er jedoch, wo er hinwollte: auf dem Monitor zuckten die Bilder einer kurzen Flackersequenz, die sich nach einem konventionell erzählten kurzen Intermezzo in eine lange verwandeln würden, das Kernstück seines Films, in dessen zehn Minuten an die tausend von ihm aufgenommene Einstellungen verschiedenster englischer Industrielandschaften erschienen, eine atmosphärische Anthologie, die schon um ihrer selbst willen nach Philipps Ansicht einzigartig und sehenswert war, das Bild einer bösen, undurchsichtig gewalttätigen Welt, der er sich in den letzten Jahren, oft zusammen mit Christiane - 'Keine Fabrik in England ist vor dir sicher!' sagte sie einmal - ausgesetzt hatte, um sie in seinem Flackermodus darzustellen. Nicht grade einladend diese Orte: Wolverhamton, Dudley, Sheffield, Oldbury, Birmingham, Bolsover, Rotherham, Newport, Leeds, Billston, Greenfield, Chesterfield, Swansea, Port Talbot, Connah's Quay und wie sie alle hießen . . . , die trotzdem mit großer Kraft in Einen hineindrangen. Doch nun erschien Robert wieder auf dem Monitor, der Held seines Films, und es begann das kurze, an gewöhnliches Kino zumindest erinnernde Intermezzo, das Philipp jetzt nach allen Regeln der ihm zugänglichen Kunst auseinanderzunehmen sich entschlossen hatte. Er war jetzt hellwach.

"Das Blau des Himmels", vernahm er seine Stimme, "verbindet dieses Flackern (das man vielleicht - mir fällt jetzt nichts besseres ein - am ehesten als 'gottlos' bezeichnen könnte) mit der nächsten Sequenz, welche in einem Roberts Gestalt folgenden Kameraschwenk hinab auf die Erde ihren Anfang findet. Weil kontinuierliche Schwenks vom Himmel herab etwas kitschig sind (und mit dem Weg natürlich auch der anständige Schwenk stirbt), wird, um so das Kitschige zu reduzieren, mitten darin auf eine Variante des gleichen Schwenks geschnitten, in einem, nimmt man ihn überhaupt wahr, leicht irritierenden sogenannten 'Jumpcut' - das bereitet den Text vor, der nun erklingt und dem Filmabschnitt hier als Überschrift dient: 'Der Weg stirbt, sagte jemand'. Dieser Satz hängt, da es schließlich vom Himmel herabkam, schwer über dem Bild, da man bislang aber weder Person noch Autorität jenes 'Jemand' recht einschätzen kann, mag es sich genauso um blanken Unsinn handeln - Robert, unser Held, scheint sich jedenfalls davon nicht einschüchtern zu lassen: Wie Sie sehen, überspringt er jetzt sogar einen Graben. Dann könnte doch etwas bei ihm angelangt sein, eine kaum vernehmbare Botschaft, denn nun bleibt er stehen, am Wrack eines Segelbootes, einem Symbol beinahe von gestorbenem Weg - es ist jedenfalls kaum Überrest von Jasons 'Argo' oder des Kolumbus 'Santa Maria', von Schiffen also, die große Wege gingen, von denen aus Mythen begründet und Imperien errichtet wurden - solche Art Weg ist wohl tatsächlich und endgültig gestorben; nicht nur in diesem Film: da steht hinter unserem 'Jemand' auf einmal die unbezweifelbare Autorität der Geschichte. Und so sehen wir ihn in ihrem Schatten und auf gestorbenem Schiff: Robert - in der Blüte seiner Jungenhaftigkeit; Robert, der Was-in-der-Welt!, wie der Kommentar gleich verraten wird. Die Autorität der Geschichte scheint sogar die Kamera zu beeindrucken, denn, wie Sie sehen, macht sie ganz unvermittelt einen sogenannten Achssprung, und zwar auf die andere Wrackseite, was sich bei normal-dynamischem Geschichte-Erzählen ja verbieten würde - wie um anzudeuten, daß sie mit solch einem Helden, der eigentlich gar nicht da sein dürfte, und einem derart albernen Weg nichts mehr zu tun haben möchte . Aber auch von diesem leicht verbotenen Standpunkt aus bleibt Robert sichtbar, und nun vernehmen wir, daß er sich nicht nur weiterhin auf einem Weg befindet, sondern auf einem solchen zudem dabei ist, sich das Wort 'Ich' zu erobern - und das, obwohl alle Wege, und mit ihnen der Weg auch dorthin, längst gestorben sein müßten. Doch weil Robert nun einmal Teil des Films geworden ist und ein Film einen Helden - er mag noch so lächerlich sein - braucht, muß die Kamera - zähneknirschend und widerwillig, wenn so eine Kamera Menschliches an sich hätte - auf die richtige Seite der Bewegungsachse zurückhüpfen - sehen Sie: in diesem Moment! - und Robert auf seinem nun wenigstens film-möglichen Weg gehorsam begleiten. Im nachfolgenden Schwenk zerreißt die Welt: zwischen der bislang von uns gesehenen vulkanisch wüsten Steinlandschaft und einem erstaunt am linken Bildrand erscheinenden tropischen Blätterbüschel; und damit beginnt die im Film bald so genannte 'Grüne Welt', in die Robert auf der Suche nach Gnade eintauchen wird . Ja, Robert ist nun tatsächlich dabei, sich das Wort 'Ich' zu erobern, am Ende des Films wird er es geschafft haben - und da ein Held jemand ist, der das Wort 'Ich' ohne erröten zu müssen aussprechen darf, ist Robert, weil das Sich-Sehnen nach Gnade in unseren Augen noch immer nichts Beschämendes hat, schon jetzt zu zumindest einem brauchbaren Filmhelden geworden, dem nun jede Kamera folgen muß, will sie sich ernst nehmen. Zunächst aber gilt es, die Dimensionen des Begehbaren abzustecken: die Kamera folgt also unserem Zum-Held-Werdenden und wendet ihre Aufmerksamkeit dann in einer sachten Umkehrung des Eingangsschwenks, im Gegensatz dazu nun im abstrakteren Schwarzweiß, wieder dem Himmel zu, wo sie überlang verharrt: dort oben befindet sich die obere Grenze der offenen Welt, die wir bewohnen. Indessen macht sich Robert schon an der unteren Grenze zu schaffen, wo er, an einer Felswand hockend, von der Feuchtigkeit der Erde zu schmecken sucht: zwischen Himmel und Erde also - das weiß natürlich jeder, aber ich möchte, indem ich es ausspreche, darauf aufmerksam machen, daß auch Gemeinplätze durch Bilder ausgedrückt werden können - muß die Eroberung des Wortes 'Ich' bewerkstelligt werden, irgendwie. Der Geschmack von Erde scheint allerdings nicht gerade Begeisterung in ihm auszulösen, ebensowenig wie Leben in Form kleiner Käfer - sein erster Versuch, in der Welt aus sich heraus erträglichen Platz zu finden, aus eigenem Recht, ist 'kläglich', wie man so nett sagt, 'gescheitert'. Und so taucht das Wort 'Ich' in der nächsten Einstellung in Form eines Negativs auf: als Robert im Negativ - ein uns neuer, absurderweise kräftiger aussehender Robert, der nicht mehr Objekt, sondern Subjekt zu sein scheint und wohl auch sein will: denn nun setzt er sich seinem neuen Kraftgefühl entsprechend in Bewegung, anfangs in wieder einem Schwenk, doch dann entschlossen - aber eben nur im Negativ - in bewegungsparalleler Kamerafahrt, der Figur, mit welcher man, wie jeder Filmstudent weiß, im Film Bewegung zu maximaler Kraft verhilft. Doch ach, auch sie ist nur scheinbrillant, im Negativ - die Wirklichkeit brilliert dagegen in Form wildwuchernder Vegetation, der gleichgültig bleibt, welche Form von Schimäre an ihr vorüberschreitet, leuchtend im Hintergrund. Und wie vorhin in den Schwenk wird jetzt in die Fahrt geschnitten, abermals in Form eines leicht irritierenden jumpcuts - gleich danach bleibt Robert, als hätte ihn mehr das Begreifen als die Ausführung seiner Anstrengung entsetzlich erschöpft, auch schon wieder stehen; und am Ende dieses - ach so kurzen - Scheinweges schlägt das Bild in einem weiteren, diesmal das Ende konventionellen Erzählens vorbereitenden Achssprung wieder ins Positiv um; und da sehen wir ihn: den Mann vor dem Meer, der überlegt, ob er ins Innere, ins Höhere soll, von dieser Insel oder sich selbst. In der folgenden aufs neue negativ erscheinenden Totale, die von weit weg aufgenommen ist und von der Seite, wie aus der Sicht eines unbestechlich neutralen Betrachters, erraten wir, daß er sich jetzt in einer Art Trancezustand befindet, einem Moment ohne eigene Zeit, worin Außen und Innen, Positiv, Negativ, Überlegung, Vorstellung und Erinnerung nicht mehr zu unterscheiden sind; und richtig, auch von vorn und näher dran erscheint unser Held jetzt im Negativ, wie endgültig weglos - ein bloßer Betrachter. Und dann kommt in einem zehnminütigen Flackerstück - dessen schiere Länge an dieser Stelle im Film, nach also mehr als einer Stunde, von tiefem Wunsch nach dem Ende gewöhnlichen Erzählens spricht und dem noch seltsameren Bedürfnis, dies zu feiern - die Welt zum Vorschein, in die er sich aus freiem Willen hineinbewegt: die Ödnis, die sich in der Steinlandschaft schon angedeutet hat. Es handelt sich um die gleiche Wüste, die er verspielt als Jugendlicher hatte begehen wollen - jetzt jedoch ist sie nicht mehr Teil des so heiter beginnenden Spiels, das endlich von zu Hause fortführen soll - sie ist Teil der wirklichen Wirklichkeit. Die Wüste wächst, muntert Nietzsche uns in ihr auf: Weh dem der Wüste in sich hat!"

Abgespannt betrachtete Philipp auf dem Videomonitor die nun beginnende flackernde Ödnis, die, wie beim Drehen geplant, einen kaum faßbaren Gegensatz zur exotischen Grünheit des darauffolgenden Filmteils bilden sollte. Beim Betrachten dieser von Grund auf kraftvollen Industrielandschaften überkam ihn leichter Schwindel, er begriff nicht wieso; seine Stimme war beim Reden auf ihn erstaunende Weise heiser geworden, und nun verschwammen die Bilder vor seinen Augen, verschwanden irgendwo in ihm - ja auch in ihm war etwas gestorben: auch er war am Ende eines Weges angelangt. Der ihn gerade mal bis nach hier geführt hatte, in dieses Zimmer, dachte er in seinem selbsterzeugten Geflacker - warum war Cornelia nicht erschienen? Wenigstens zum 'Festvortrag' gestern, dann hätte sie von ihm mal was Fertiges sehen können, in seiner gemachten Poliertheit klar glänzend, nicht nur diese entsetzliche Wirrnis, mit der er sie bislang immer so unappetitlich bedrängte; nicht mal eine Reise nach Berlin war er ihr wert, trotz des provozierenden "Na komm - fick doch mal mit mir!", das sie beim letzten Telefonat so lässig abließ. Bestimmt wieder nur so eine Pose aus irgendeinem Theaterstück - Hartmann von Aue! Sein Angebot war zu verwegen gewesen; wohl sogar: unmöglich; so aufdringlich im Grunde, auch intellektuell, schon wegen seiner Unfertigkeit, daß man sich schämen mußte. Auch vor sich selbst. Irgendwas in seinen Augen schmerzte stärker, zugleich bemerkte er, daß er irgendwie nicht richtig scharf sah, benötigte er eine Brille? Bisher hatte er doch immer scharf sehen können. Am liebsten hätte er das Manuskript von ihr zurückverlangt. Lieber aber hätte er selbst jetzt noch eine ernsthafte Reaktion wahrgenommen, die Andeutung eines Weges zumindest in eine der seinen entsprechende Unverschämtheit, da kam leider nichts. Am Telefon bewegten sie sich auf einer andersartig polierten Oberfläche, worin sich, außer in diesem einen Moment, wo irgendwas in Verbindung mit, ha, ihrer Mutter sie zu dieser provozierenden Obszönität hinriß, nie etwas auftun wollte - so ist das eben, wenn man sich fremd ist: man bleibt sich fremd. Mehr als schade, daß seine auf sie gerichtete Anstrengung nur ihm etwas entlockt hatte, wohl die Natur des Männlichen, dachte er besänftigt - traurig, bedrückend, wahr. Etwas, was zu nichts führt. Ein loses Ende. Wieder so ein loses Ende. Ach, all die losen Enden, aus denen so ein Leben besteht - wie war er überhaupt an diesen albernen Begriff geraten? Er kam aus dem Nautischen: in der Seemannssprache, er erinnerte das jetzt, hießen 'lose Enden' Taue, die irgendwie an oder auf so einem Schiff herumhängen und -liegen und mit nichts verbunden sind. Manchmal, bei irgendeiner auftauchenden Notwendigkeit, benötigte man sie dann doch und sie wurden mit etwas verknotet - deswegen gibt es sie auf so einem Schiff. Nein, nein, 'verknotet' klang zu deutlich für das von ihm am Leben Gemeinte, viel zu stark - 'Verknäueln'? Zu chaotisch, richtig chaotisch liefen die Verknüpfungen unter Menschen auch nicht ab, zumindest im Nachherein entdeckt man darin immer eine Art Ordnung. 'Verknüpfen' paßte schon eher für das, was Menschen mit ihren losen Enden anstellten: erst berührte man sich, wie er ja auch Cornelia berührt hatte, in dieser Ruine, und dann wollte er sich verknüpfen - entstanden war dabei aber eher ein verworrenes Knäuel. Wie das Geflacker, das er nun schon einige Zeit blicklos verfolgte, auch mit diesem hatte er sich verknäuelt oder verknüpft, seit Jahren schon, bis hin zu genau diesem Moment. Mein Gott, mir wird von meinem eigenen Flackern schwindelig, dachte er, denn in seinem Kopf schien sich ein merkwürdiger Hohlraum zu bilden, ja, es fühlte sich tatsächlich wie ein Hohlraum an, ein sich dort ausweitendes Vakuum, das irgendwas in ihm verzehrte. Dabei machten ihm komische Farbverschiebungen zu schaffen, verstärkt am Rand seines Blickfelds, als wäre irgendwas in ihm, offenbar wohl in seinem Hirn, nicht in der Lage, jetzt nicht, die verschiedenen vom Auge wahrgenommenen Farbinformationen einander zu überlagern, jedenfalls nicht auf die Art, in der man die Welt gewöhnlich wahrnahm - da am Rand nahm jedes Objekt - es schien sich, in einem zu dieser Mitte schwebenden Schwimmen, nun sogar langsam zum Zentrum seines Blickfeldes auszuweiten - getrennt rot und grün gezackte Konturen an, es schmerzte im Auge, zickzackförmig in Linien, die unscharf waberten, und ohne daß dies gelang, ineinander zu rutschen suchten, als blicke man durch eine sich bewegende aromatische Flüssigkeit, durch Kampfer oder Benzol, und ohne jede Chance, wieder zu einem befreienden Ineinander der Linien zu finden, schrecklich - und wieder weitete sich dieser Hohlraum in seinem Kopf, was war das nur, was da immer stärker wurde und leicht schmerzend zugleich immer hohler, es verwandelte die Bilder, die er da ansah, verwandelte die Welt in ein zuckend tränendes Geschmiere, was geschah da mit ihm, war er gerade dabei, zu sterben: war das - das Sterben? Plötzlich sah er sein ganzes Leben wie auf einer Waage vor sich, alles was er erlebt und gesehen hatte belastete die eine Schale und in der anderen lagen seine Filme. Dieses zickzackförmig tränende Auseinanderfallen von Rot und Grün, war das der Beginn eines Sterbens? Die Waage schien seltsam aus dem Gleichgewicht, einmal war das Leben schwerer, dann wieder waren es die Filme, aber es schien, als würden die Filme immer leichter werden und sogar verschwinden, wenn er jetzt sterben, wenn er jetzt auf die Erde sinken würde. Hatte das Ganze den Aufwand gar nicht gelohnt? Nein, ich darf beim Reden nicht so auf meine Bilder starren, dachte er, dann sterbe ich auch nicht - aber ich rede ja gar nicht mehr; und dann fing er wieder damit an, weil es gut zu tun schien, sofort schien die Waage, auf furchtbare Weise widerstrebend, in eine gewisse Balance zu geraten, wenigstens war es besser als Stillsein: "Hier das Gelb des Ginsters, man sieht es nur drei, vier Bilder lang, in all dem Grau dringt es so sehr in Einen ein, daß man es dennoch ganz deutlich wahrnimmt und fast eine Minute erinnert." Als er wegen der Hilflosigkeit dieses Satzes vor Scham die Augen schloß, ließ der farbige Schwindel nach, ließ das Sterben nach, und in dem auf einmal nachlassenden Schmerz wurde ihm klar, daß sein Film weder mit dem Tod noch mit der Gewichtigkeit seines Lebens verknüpft war, sondern daß er eigentlich nichts als eine Versammlung von losen Enden präsentierte, die er, versuchsweise eigentlich nur, zusammengefügt hatte. Sie entstanden, weil er eine Reihe von Motiven, die mit der Logik der Handlung nur mittelbar, nur atmosphärisch verbunden waren, überdeutlich herausgestellt hatte - nun hingen sie irgendwie exzentrisch im Film (oder vielleicht auch nur in seinem Kopf) herum, aus ihm heraus sogar, und sorgten, wenn er sie an anderer Stelle ergriff, für eine Art Bindung. Auf solche Weise verknäulte sich sein Film, leider auf Kosten der Spannung, und es entstand etwas sonderbar ineinander Verwickeltes, das mitunter sogar, jetzt meinte er es jedenfalls, dem wirklichen Leben, seiner Geometrie jedenfalls, nicht dem was man in ihm fühlt, zu ähneln schien. Natürlich war Film (Ja, die Schmerzen hatten jetzt nachgelassen, aber normal fühlte er sich immer noch nicht) um Vieles einfältiger als Leben. Er selbst hielt einen Kneipenabend ja schon für befriedigend, sobald er ein, zwei solch loser Enden ausgelegt hatte - das reichte ihm, um Leben Leben zu nennen. Zuweilen gab es aber das Bedürfnis, manchmal wurde es übermächtig, bestimmte dieser losen Enden auch aufzugreifen, und zwar absichtlich; das mochten die meisten Menschen, wenn sie erkannten, daß man so etwas mit ihnen tat, indessen nicht, andere fanden wiederum grade das prickelnd. Er spürte Unruhe unter seinen Zuhörern, Langeweile vermutlich; als er daraufhin die Augen auftat, nahm er die Bilder zu seiner Erleichterung wieder schärfer wahr (richtig scharf allerdings noch nicht, immer noch gab es da ein sonderbar fließendes Gezacke) und begann - war das ursprünglich nicht ohnehin seine Absicht? - nun das gnadenlos weiterlaufende Flackern zu kommentieren: "Wenn gleich der helle Klavierton genau zum Erscheinen der V-förmigen schweren Gestalt des dunklen Fabrikdaches - jetzt, hier - erklingt, entsteht beim Betrachten eine drängende Aufmerksamkeit, die ich mir nicht erklären kann ..." Wie er auf solche Weise sprach, bekam der Film, obschon die zickzackfömigen Farbverschiebungen sich von neuem verstärkten - jetzt konnte er sie aber, obwohl sie weiterhin tränten und schmerzten, besser ertragen - größere Lebendigkeit, welche sich wiederum auf ihn selbst übertrug, und bald versuchte er ganze Gruppen dieser schnell auftauchenden und gleich wieder verschwindenden Bilder in Worte zu fassen: "Hier bei diesem Gekräusel der Rohre - achten Sie mal darauf, wie sich aus ihm eine Gestalt bildet: ganz allmählich; die sich dann in die immer stärker dominierenden Vertikalen der Kühltürme verwandelt, mit denen sich brutaler Ordnungswahn aus so etwas wie nervösem Chaos erhebt", Philipps Hände betasteten bei seinem Erklären den Monitor, als wollte er dort die zeitliche Gestalt der Bildfolgen fassen, sie imitierend nachformen, mit tränenden Augen, ein wenig auch in der Hoffnung, auf diese Weise die für ihn farblich immer mehr auseinanderfallenden Konturen zusammenzuschieben zu können; das ging natürlich nicht - daher hielt er das Video immer mal wieder an und zerstörte seinen zeitlichen Fluß, was natürlich nicht gut war; aber so vermochte er immerhin die räumlichen Strukturen seiner Bilder beschreiben, wie sie in den einzelnen Einstellungen aufeinander folgten und sich dabei transformierten - furchtbar im Grunde, doch wie sonst sollte er das Flackern in Worte fassen. "Und hier", wollte er in diesem hilflosen Tasten endlich etwas eindeutiger Vermittelbares von sich geben, etwas, was weniger schmerzte: "sehen Sie die beiden Brücken über diesen Industriekanal in Birmingham? Die ersten eisernen Brücken, die auf der Welt gebaut wurden, noch aus Gußeisen und in diesem sonderbar schwungvollen Bogen konstruiert, der sich selbst stützt, weil Gußeisen nun einmal nur druck- und nicht zugfest ist, sie sind natürlich noch sehr schmal, fast graziös. Im Kino kann man auf der vorderen sogar die Jahreszahl ihrer Errichtung lesen - wenn man so will, das Datum des Beginns der industriellen Revolution, von welcher dieser Filmteil nur noch einen überspäten Zustand beschreibt, fast schon den Leichenzustand. Aber feine Details wie diese Zahl lassen sich auf Video natürlich nicht erkennen." Nach diesem Exkurs in die Welt vermittelbarer Faktizität, der seinen Augen, da er währenddessen nicht genau zu blicken brauchte, gut tat - auch die Waage des Lebens war endlich wieder in ihrem, prekär wie es war, üblichen Gleichgewicht - spulte er das Band zurück, um die gerade in Bruchstücken beschriebene Gestalt nun ganz und in Bewegung zu zeigen; das ging einigermaßen - derart arbeitete er sich langsam durch die im Kino manchmal sich endlos streckenden zehn Minuten hindurch. Dabei wurde ihm wieder schlecht - so daß er, nun, deprimiert auch wegen seiner Erschöpfung, die Bilder eine Zeit unkommentiert laufen ließ.


Mit diesem, seinem bislang und womöglich für immer letzten Film hatte er endlich Teil der großen, alles beredenden Kultur werden wollen, kein Wunder, daß sich in ihm nun, wo er sich erneut da wiederfand, wo er schon seit langem gewesen war, trotz all seiner nach außen sich richtenden Anstrengungen, etwas zusammenzog: wieder war es nichts geworden! Vielleicht auch nur: zum ersten Mal, weil er es zum ersten Mal allen Ernstes versucht hatte. Aber wieder war er in so einem kleinen Seminarraum, wie darin gefangen, als gäbe es für ihn keinen Fortschritt, und erklärte mühsam, was es mit seinem Film auf sich hatte - darin wurde er immer brillanter, im Verwandeln seiner Bilder in Worte; natürlich zog man dadurch den ewigen Spott auf sich, das Wollen wäre größer als die Fähigkeiten - na und! Wenn schon jeder sagte, dieser Film wäre bloß eine fixe Idee, dann wollte er sie auch ausdrücken, und da vor ihm waren sie, die armen Schweine, die sich da anhörten, was sie nie sehen würden, wenn er es ihnen nicht ausdrücklich mitteilte - schon kurios. Was würden sie daraus machen? Ihn für einen Sonderling halten, eine Art Freak? Er fühlte sich dabei mit sich im Reinen: es war sein Film, und das in beinahe jedem Sinne, und nicht nur brauchte er den Vergleich mit anderen Filmen, die sich zur Kultur zählten, nicht zu scheuen - nein, er war sicher, daß er seine Kultur umfassender repräsentierte als fast all diese anderen. Davon war er selbst in der Niederlage, die so handgreiflich hinter ihm lag - ach! nicht nur hinter ihm lag - noch überzeugt. Und selbst wenn nicht Kultur wäre, was er da mit seinen Filmen veranstaltete, so war er immerhin ein Kuriosum, das Bilder in Worte verwandeln wollte und als solches schon Teil der Kultur. Doch nun erschienen die letzten, ruhiger werdenden Einstellungen des Flackerns: gleich würde Robert gleich dem Helden einer Zigaretten- oder Rumreklame wiedererscheinen, an einem kitschig einsamen Palmenstrand im südlichen Pazifik. Bis dahin, immerhin, hatte ihn, Philipp, die eigene Filmarbeit gebracht.




2. IN DER GRÜNEN WELT: DIE GNADE

 

"Ja", begann er mit neuer Energie, "nach der weitgefaßten, nach Tod schmeckenden Erkundung der Welt des Leidens kommt es jetzt zum Wiedereintritt in die Grüne Welt, von der wir bereits gekostet haben. Er hat die Form eines entschlossenen Marsches in die Einsamkeit, auch auf ihm wechseln, um seine Irrealität nicht vergessen zu lassen, Positiv, Negativ, Schwarzweiß- und Farbmaterial einander ab. Es handelt sich eben nicht um so etwas wie den langen Marsch Maos, an dessen Ende die Eroberung eines realen Terrains steht, das es anschließend zu verwalten gilt, sondern um einen Weg ins Innen.

Filmausschnitt: "Robert allein" (nur CD-Version / Dateiname: Un12.avi)


In diesem Sinne ist die Natur in ihrer hier sichtbar üppig sprießenden Pflanzlichkeit, der Dschungel, durch den Robert sich jetzt hindurchkämpft, nicht nur reale Natur, sondern zugleich Abbild des Dschungels bei uns im Innen, zu dem ein gespanntes Verhältnis zur Natur gehört. Der Marsch endet an einem steilen Hang, den unser Filmheld hinaufzuklettern sucht, was sich nach einem ironisch letzten Herabrutschen im Negativ wiederholt- dann erscheint Roberts vorläufiges Ziel, oben auf einem Hügel, einem Berg vielleicht sogar, denn nun öffnet sich in einem mächtigen stillen Schnitt die Weite des Horizonts, von dem man auf seinem Marsch durchs Unterholz so lange nichts gesehen hat. Ganz hinten die See, das Meer, darin fern eine beträchtliche Insel. Die Kamera fährt einen Tick nach unten, um Robert am Ende seines Anstiegs zu erfassen, dem höchsten Punkt der ihm zugänglichen Welt. Sobald er im Bild ist, wendet er uns den Rücken zu, um sich dieses prachtvolle Panorama selbst einmal anzuschauen, das Privileg sein müßte, es hier aber nicht ist, und das Wesentliche der Situation ein wenig schäbig treffend, bemerkt der Text: 'Und Robert ist allein.' Dazu fiept ein einzelner Vogel, verzweifelt irgendwie - hört ihr? - woraufhin Robert sich zur Kamera dreht und, nachdem uns sein Gesichtsausdruck einen winzigen Moment an seiner Einsamkeit hat teilhaben lassen, aus dem Bild verschwindet. Ja, Robert ist tatsächlich allein - in den nächsten Sequenzen können wir ihn in diesem Zustand besichtigen, in aller Ruhe. Zunächst ganz tapfer und still und unerschrocken von vorn, vor einer Baum-Busch-Gruppe, die seinen Kopf, kommentiert vom Satz: 'Das Blau des Himmels rollt in seinen Adern', vor dem unbesiegbaren Blau des Himmels wie der Federschmuck eines Indianerhäuptlings umrahmt - da ahnt man etwas von einer seltsamen Blutsbrüderschaft der Menschen mit ihrer Umgebung, aus der sich eine Existenzform mit festerer Basis ergeben könnte, als es das zuweilen doch bloß stupide anmutende System der Reproduktion der Gene ahnen läßt. Nach diesem Exkurs in halbwirre Spekulation widmet sich der Film wieder der Wirklichkeit: 'Er ernährt sich von Pflanzen und Vogeleiern' heißt es recht praktisch, und genau das sehen wir: Robert beißt in ein wunderschönes, klar gestaltetes, saftig grünes Blatt, auf dem er - unterbrochen von einer Einstellung, in welcher er Schwarzweiß in einen Baum steigt - lange herumkaut, bis er es schließlich ausspuckt: es hat ihm - Echo seines Ekels vor dem Geschmack der feuchten Erde vorhin - 'nicht geschmecket' oder 'geschmacket', wie es im Lutherdeutsch hieß. Mehr Freude bereitet ihm ersichtlich das Erklettern des Baumes, das" - Philipp hielt den Film hier an - "gleich nach dem Ausspucken von neuem gezeigt wird. Diese dem A-B-A-B-Muster folgende Schnittfigur heißt Parallelmontage, wird aber hier deutlich nicht im üblichen realistischen Modus benutzt - nicht in dem Sinne also, daß man als Zuschauer vermutet, Robert hätte erst ins Blatt gebissen, ein wenig später den Baum bestiegen, anschließend das Blatt auf dem Boden ausgespuckt, um danach noch einmal den Baum zu erklettern, was insgesamt ein paar Minuten dauern würde. Hier arbeitet Parallelmontage - was, wie Sie sehen, im Film mit ganz wenigen Schnitten ebenfalls möglich ist - eigentlich schon metaphorisch, in dem Sinne etwa, daß es sich bei Blätterkauen und Baumbesteigung um Metaphern gleichzeitig stattfindender abstrakter Vorgänge handelt, die eine Weile anhalten können - so daß das eine Blatt für viele steht, die er probiert, der eine Baum für viele, die er erklettert hat - summa summarum mindestens eine Woche, vom Gefühl her ein beachtlicher Unterschied zu den paar Minuten der 'realistischen' Montage. Aber wie kann der Zuschauer das unterscheiden? Damit die metaphorisch angelegte Montage verständlich wird, muß der konventionell realistische Erzählmodus rechtzeitig verlassen werden, auch daher die häufigen Wechsel von Positiv und Negativ, was Einen leider sofort in Probleme stürzt, die mit Spannung zu tun haben - komplizierte Sache. Auch eine Art Weg übrigens, dieses Klettern ins Nirgendwo, wie es hier im Standbild sichtbar ist: ein kurzer bedauerlicherweise nur, ebenfalls ein eher metaphorischer und daher ins abstraktere Schwarzweiß gesetzt - Ich glaube, er steht nicht zuletzt für den Weg in die Welt der Mythologie, die den Film als eine Art Nebenstrang konturiert. Die Personen des Films scheinen ja - das haben Sie beim Zuschauen gewiß bemerkt - nicht ganz real zu sein, jedenfalls nicht im realistischen Sinn, von Zola etwa: ihre Psychologien sind dafür nicht genügend differenziert, sie sind zu grob geschnitzt - wie Götter denke ich manchmal - ihre Entwicklungen sind sprunghaft. Ihr Handeln folgt eher der Logik des Witzes als der Behäbigkeit psychologischer, selbst körperlicher Entwicklung: wenn Frank, der negative Held, zu Anfang die Kopfschmerzen Carlas - so heißt die von Robert am Strand zur Mutter gemachte und darum verlassene Dame - mit Hammer und Meißel heilt , tritt er mit der Selbstsicherheit, mit dem Impuls des Donnergottes auf, der die Welt beherrscht und Europa verführen möchte. Deshalb ja auch später, wo sich Carla als hintergangenes, von diesem Möchte-gern-Gott brutal getäuschtes Opfer wähnt, zu ihrem Bild die Worte 'Armes kleines Europa!' , die für mich, ganz nebenbei, die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts, die Zeit also, worin der Film zu spielen vorgibt, wie nichts anderes zu kennzeichnen scheinen. Ganz ungöttlich dagegen die Gestalt des eigentlichen Helden - Robert ist das geborene Opfer! Ein Däne! Die Schlichtheit seiner Schicksalsergebenheit hat fast etwas Christliches, in scharfem Gegensatz zur griechischen Mythologie, aus deren Figurenarsenal Carla und Frank ja noch gerade so stammen könnten. Dieser Robert ist das genaue Gegenteil des Odysseus: er ist Spielball in dieser Welt. Sie werden bemerkt haben, daß der Film inzwischen die brutale Heftigkeit des Anfangs verloren hat, er orientiert sich jetzt an einem schlichteren Mythologiebegriff - ich hoffe, Sie finden nicht vermessen, daß es der von Levi-Strauss 'Mythologica' sein möchte. Robert hat auf seinem Marsch den Raum verlassen, der mit dem Bevölkern einer fast leeren Welt zu tun hat, Grundthema ja der griechischen Mythen, darin unter dem Strich immer genug Nachkommen gezeugt werden, um mit ihnen neue Städte zu füllen - er befindet sich jetzt im Bereich von Natur und Schöpfung. Hier bieten die griechischen Mythen, und das ist interessant, weniger als jene der 'Mythologica', dem, gerade in seiner grotesk unschuldigen Verstiegenheit, bewundernswerten Versuch, die Mythen Südamerikas durch logische Operationen ineinander zu transformieren (ähnlich vermessen, vielleicht, wie das von heute aus gesehen absurde Unterfangen des Thomas von Aquin, zwischen Aristoteles, Kirchenvätern und Bibel ewigen Frieden zu stiften). Thema jener südamerikanischen Mythen ist, grob verkürzt, Naturkontrolle; verbunden mit einer sehr elementaren Kontrolle des menschlichen Innen, welche den Griechen schon oder noch selbstverständlich war - daher wohl die erstaunliche Überlegenheit südamerikanischer Indianer auf diesem Terrain. Wenn Robert auf dem Bild hier in den Baum klettert, ist er 'Der Vogelnestausheber', er repräsentiert den Grundmythos der Levi-Straussschen Anstrengung: ein im Kleinen arbeitender, passiverer Held als Odysseus, der nach dem Fall Trojas auf der Heimfahrt, trotz bereits reicher Beute, in einem blinden Reflex gleich weiterplündern muß, sobald sich eine Gelegenheit findet:

"Gleich von Ilion trieb mich der Wind zur Stadt der Kikonen,

Ismaros hin. Da verheerte ich die Stadt und würgte die Männer.

Aber die jungen Weiber und Schätze teilten wir alle

unter uns gleich, daß Keiner leer von der Beute mir ausging."

wie es in der Odyssee recht offen heißt (Ach, er würde die altertümliche Vossesche Übersetzung, die er als Kind gelernt hatte, nie im Leben vergessen). So in etwa wäre vielleicht der Rahmen beschreibbar, in den Robert sich hineinbewegt, auf seinem, historisch oder anthropologisch gesehen, gewissermaßen nach rückwärts und aus dem Ruhm herausführenden Marsch durch die von Ihnen gerade mitdurchwanderten Industrielandschaften: Robert, der Wieder-zum-Vogelnestausheber-Gewordene." Philipp war froh, den Bezug dieser kurzen Filmpassage - eigentlich ja nur einer einzigen, kaum fünf Sekunden dauernden Einstellung, die er nun minutenlang angehalten hatte - schon etwas extrem -, zu Levi-Strauss und, ja, auch Homer endlich einmal ausgesprochen zu haben, bisher hatte sich, was Wunder, nie Gelegenheit dazu ergeben; aber es lag ihm am Herzen, vielleicht nur, weil fürchterlich lange gedauert hatte, Jahre, bis er das von ihm erst Gedrehte - bei den Spielszenen machte er die Kamera ja ebenfalls selbst - dann Zusammengeschnittene und die dahinterstehenden raschen, eher impulsiven Entscheidungen in dieser ihm nun einigermaßen 'richtig' vorkommenden Art verstehen lernte. "Und richtig", ließ er den Film wieder anlaufen: "beschäftigt sich der Kommentar nun mit einem ersten Objekt der so üppig ihn umgebenden Natur: 'Oh, was für ein Segen ist doch die Frucht des tropischen Brotfruchtbaums!' vernehmen wir - und erkennen einen jener seit Cooks und Blighs Südseefahrten in aller Welt berühmten Bäume, er plustert sich auf, als ob er selbst eine Frucht wäre. Zur Verdeutlichung von Spezies und der Idee der hinter ihr liegenden Gestalt folgen zwei weitere Brotfruchtbäume, dann erscheinen endlich die versprochenen Früchte - sie können sogar sprechen: 'We are food!' rufen sie mit weiblicher Stimme, und uns wird klar, daß wir uns im Paradies befinden, da, wo Einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Und so schläft Robert am Fuß eines Brotbaums, über ihm zwei der verführerischen Früchte, wie Frauenbrüste sehen sie aus - in krassem Gegensatz zum vertrocknet scheibenflachen Schiffszwiebackspaar , das Carla, damit sie es den beiden mit ihr auf einem Boot das große Meer befahrenden Männern als Verpflegung präsentieren kann, wegen der Maden noch schnell mit dem Hammer traktiert : Nein, die Früchte hier sind grün und saftig, plastisch, dreidimensional! - sie warten geradezu drauf, daß sich jemand von ihnen nährt. Und direkt unter ihnen ist nun tatsächlich jemand, der in Frage käme: Robert, das geborene Opfer! Und - patsch! fällt eine der Früchte bereits auf den Boden, direkt neben ihn, ihre Schale ist härter, als das Aussehen verrät. 'Was? Das soll die versprochene himmlische Nahrung sein?' denkt Robert im Halbschlaf, erstaunt vor allem und verwundert darüber, daß sie nicht zu ihm herabgeschwebt kamen, die schönen Früchte, sacht und langsam, wie es gebratene Tauben doch zu tun pflegen. Zögernd öffnet er die Augen und kann grad noch aus dem Bild huschen, um der nächsten Frucht auszuweichen, die vielleicht hätte tödlich werden können - nein, das Land von Milch und Honig, dieses Schlaraffenland, ist eine höchst gefährliche Angelegenheit: in der Einen sogar Früchte zu erschlagen vermögen! Nun ist ja kein Geheimnis mehr, daß der Glaube ans Paradiesische der Natur, so gern wir ihm alle erliegen und woran wir sogar am liebsten die Schicksalsentscheidungen der Menschheit orientieren würden, seit einigem jedenfalls, nicht ganz so natürlich ist, wie wir es gern annehmen; er ist nicht einmal christlich, dort verabschiedete er sich im Sündenfall. Man muß ihn im Gegenteil wohl als relativ moderne und heidnische Erfindung bezeichnen, nach Ansicht vieler eine des berühmten Jean-Jacques Rousseau, an dessen - natürlich nicht nur dessen - verführerisches Gedankengut die nächsten, wieder von einer verführerisch weiblichen Stimme gesprochenen Worte erinnern: 'Brüderliche Liebe!', zu deren Klang eine naive Darstellung der diesem Typ Liebe zugrunde liegenden Idee erscheint, die ja den Sozialismus und davor die Aufklärung als unermüdlich wirkender Antrieb beflügelte: in Szene gesetzt durch vier Brotbaumfrüchte, die, in einem Spannungszustand auseinanderliegend, zunächst ein höchst unperfektes Rechteck bilden, weniger regelmäßig als sogar ein Trapez, um dann, nach einer Abblende, worin das Wort 'brüderliche Liebe' für uns hörbar zu Wirkung gelangt, friedlich vereint am Bildrand zu liegen kommen - als hätte eine aus rosseauscher 'Liebe' bestehende Art von Magnetfeld sie dort hingerissen: aneinander gekuschelt wie junge Katzen."

"Nachdem also die Vorstellung vom Paradiesischen der Pflanzenwelt in die Nähe einer naiven und wenig haltbaren Spekulation gerückt wurde", seine Stimme verlor ihren amüsierten Klang, "wendet sich der Film dem Animalischen zu: 'Und wie schwer kann es sein, einem Tier eine Falle zu stellen!' vernehmen wir und damit hat sich die Frage nach dem Bezug der brüderlichen Liebe Rousseaus zum Tierreich im Grunde schon brutal erledigt."

Filmausschnitt: "In der grünen Welt" (nur CD-Version / Dateiname: Un13.avi)

Philipp spürte, daß er eine Pause benötigte, zwar konnte er wieder einigermaßen scharf sehen, ohne dieses lästige Pulsieren sich verschiebender Farben, aber sein Kopf schmerzte erneut. Diesmal ein anderer Schmerz, gerade als habe sich der entstandene Hohlraum gefüllt, vielleicht hatte er nur deshalb eine Weile dort nichts gespürt. Damit schien der Prozeß indes nicht am Ende zu sein, an der gleichen Stelle schien sich jetzt etwas aufblasen zu wollen - es war hier zu heiß, etwas drückte da im Kopf, auch im Magen wurde ihm übel. Konnte er nicht einfach aufhören? Gleich jetzt, schließlich hatte er doch vorgehabt, nur das Flackern zu kommentieren, und das war schließlich vorbei. Der netten Dame, die ihn betreute, wäre es gewiß recht - aber er hatte den Eindruck, seine Zuhörer verlangten noch nach mehr, vor allem die beiden jungen Männer, deren Aufmerksamkeit ihm aufgefallen war, und so hörte er lieber doch nicht auf. Stattdessen beobachtete er, zum Reden endlich zu schwach, nun stumm und einem von einer Schlange hypnotisierten Mäuschen gleich, wie Robert, sein Traum von einem Helden, mit Gleichmut eine Drahtschlinge bastelte, in der er ein Tier zu fangen beabsichtigte. Das tat dieser freilich auf so groteske, so schlicht amateurhafte Art, daß jedem sofort klar wird, daß sich darin kein Tier je verfangen würde, keine Maus, kein Hase, und erst recht keiner jener in südamerikanischen Mythen so häufig auftauchenden Tapire, was Philipp, der das in Art einer sorgfältigen anthropologischen Studie gedreht und geschnitten hatte, beim Betrachten immer wieder zu amüsieren wußte. Als indes Robert, nach anscheinend traumlos verbrachter Nacht, die Sinnlosigkeit seiner noch immer leeren Fallenkonstruktion ebenfalls zu begreifen beginnt, bei einer Inspektion, und daher selbst ausprobiert, was daran falsch sein könnte, kam der tiefere Grund für Philipps Beklemmung zum Vorschein, der Grund, warum er sich an dieser Stelle immer wie ein Mäuschen vor der Schlange fühlte: da begann die ihm jedesmal wieder entsetzliche, in gnadenlosem Schwarzweiß zu den schweren Worten 'In der Grünen Welt - die Gnade!' ablaufende Sequenz, worin Robert langsam in die selbstgebastelte Schlinge hineinkriecht und sich den Draht immer enger um den Hals zieht. 'Der Moment dieses Augenblicks!' hörte Philipp die eigene Stimme als Kommentar aus dem Monitor dringen und den Charakter der Wahrheit verkünden, ihm mitten ins Herz, an dieser ihm vielleicht darum unheimlichsten Stelle im ganzen Film, die so ganz beiläufig, ganz nebenbei, von der selbstverfügten Beseitigung der eigenen Person, von - Selbstmord handelt, in genau diesem Augenblick. Es war Wahrheit nicht nur des Films sondern mehr noch eine, die hinter genau dieser Periode seines Lebens steckte, das ihn jetzt hier in diesen Raum geführt hatte, vor diesen Monitor, dieses technische Machwerk, vor diese Zuhörer, in diese Falle - gefangen in einer Schlinge, die mehr als ein bloß mechanisches Konstrukt wie die Roberts war, er hatte sich in einer Lebensauffassung verfangen, er oder das Tier, in welchem er sich entdeckte - gefangen in der Schöne der grünen Welt. Und wo war die in seinen Einleitungsworten zu dieser Sequenz so großspurig verkündete Gnade? Er hatte keine Ahnung. Sah er sie in einer Art ewiger Gefangenschaft, ähnlich wie offenbar Camus, selbst Sartre, mit jedenfalls schon dem Hals in der Schlinge? Oder erst im irgendwann erfolgenden Tod? Er wußte es nicht, würde es wohl nie wissen - und dann fielen die Worte, die diesen Moment erträglicher machen sollten, für ihn selbst, aber auch, obwohl das widerlich pathetisch klang, ja, die Welt: 'Ein Gesang der Einfalt'. Ja, einfältig, das war er, weil er sich einem Leben verschrieben hatte, welches beinahe notwendig in einer Katastrophe enden mußte, in dem sich die Schlinge Einem immer fester um den Hals schnürte - und das unter der Flagge der Gnade! Und einfältig ebenfalls, weil er Selbstmord als einfältig begriff, es wenigstens so begreifen wollte, ach einen ganzen Gesang konnte man aus solcher Einfalt machen, und von dem - ach, er konnte ja nicht einmal mehr singen - erzählte er seinen Zuhörern nun, ausgerechnet jetzt, wo ihm immer schwindliger wurde und die Stimme zu versagen begann - da schien Einfalt auf einmal etwas Begehrenswertes, jetzt, wo er sich zusehends weiter entleerte, wie der Druck in seinem Kopf in seltsamerweise fast gleichem Maß stieg, wo er immer mehr von seiner Kompliziertheit abgab, er doch aber schon leer war, oder fast leer, und er - wieso eigentlich - spürte, daß seine Zuschauer immer mehr von ihm hören wollten, vor allem die beiden hübschen jungen Männer dort - oder bildete er sich das nur ein? - er vermochte jedenfalls nicht aufzuhören: wie angestochen fuhr er fort mit seiner sinnlosen Entleererei bis der Film gnädigerweise schließlich sein Ende fand. - "Das ist genug", verkündete er da mit einem Mal übernüchtern, um die ihm, gleich würde man die Vorhänge aufziehen, plötzlich peinliche emotionale Verwicklung in einem bloßen Gegenstand zu verbergen - mehr war Film schließlich nicht: bloß ein paar Lichtwerte festhaltende Silberatome auf einer Emulsion aus Plastik. Ja, peinlich war es, wegen der Radikalität, mit der er seine Gefühle darin verwickelt hatte. Als er sich erhob, um rasch den Raum zu verlassen, er mochte jetzt mit niemandem sprechen, wurde ihm wieder schlecht und schwindlig, sein Kopf schien jetzt realiter platzen zu können, er schwankte, ein bißchen nur, für ihn selbst jedoch entsetzlich deutlich: "Mir ist leicht übel", murmelte er, wie eine Frau auf ihn zukam und "Das war wunderschön" sagen wollte und wohl auch sagte; auch die beiden jungen Männer, bei denen er das schon während des Vortrages oder was immer gewesen war, was hier gerade stattfand, gespürt hatte: daß auch sie nämlich das auf ihre Weise wunderschön fanden, wollten jetzt mit ihm sprechen - er erkannte es an dem Glanz, dem ungewissen Leuchten ihrer Augen, ach wie gut kannte er das von sich selbst. Aber es ging nicht mehr. War er derart aufgedreht, durfte er nicht mehr reden - er wußte das - ansonsten würde etwas Furchtbares passieren, mitten in seinem Kopf. - "Nein, ich darf nicht mehr reden" brabbelte er heraus, zu eigentlich niemandem und war unendlich froh, daß man das nicht als sinnloses Gestammel abtat, sondern ihm im Gegenteil ein Zimmer zum Ausruhen anbot, gleich im Gebäude, dorthin führte man ihn nun mit Bedacht. Wie er beinah da war, schon an der Tür, und sich bei der ihn betreuenden Dame, sie hatte ja bereits seine schrullige Vorführung so geduldig ertragen, für die von ihm verursachte Unannehmlichkeit zu entschuldigen begann, wollte er plötzlich ins Freie - wenn er schon zusammenbrach, sollte es dort geschehen, nicht in so einem idiotischen Zimmer, in dem, was wußte er denn schon wer sich zuletzt aufgehalten hatte. - "Nein!" unterbrach er seine wirre Entschuldigerei: "Ich will ins Freie!" und so zeigten sie ihm nachsichtig den Weg ins Freie.

Es ging durch einen Hinterausgang, dann in einen Park - wie hieß er nochmal - Tiergarten? überlegte Philipp, sobald er endlich allein war: ja wie ein Tier am Ende seines Weges fühlte er sich jetzt - Endlich allein! und Hinlegen, ich muß mich hinlegen, in diesen - - Garten. Nein, jetzt kam er sich nicht mehr wie ein Rennpferd vor. Ende des Rennpferdes, dachte er. Der Weg - nun doch gestorben. Sein Kopf drehte sich ihm, er hatte zuviel von irgendwas abgegeben, von irgendeiner Substanz - wieso zuviel? Konnte man überhaupt zuviel geben? Ging doch gar nicht. Trotzdem Irrsinn, sich so zu entleeren - nun war ihm schlecht, zum Sterben schlecht. Das Bild mit der Schlinge um Roberts Hals stand wieder vor ihm - Selbstgebastelt! dachte er, Ach, jetzt wäre er mit der Existenz eines Biergaules zufrieden, sehr zufrieden sogar, er wollte kein Rennpferd mehr sein - doch selbst zu einer so mediokeren Existenz fehlte ihm inzwischen wohl die Kraft, ja auch als Biergaul braucht man nämlich Kraft. Gerade dazu. Was mag der Grund für diesen merkwürdig noch immer heftiger werdenden Druck in meinem Kopf sein? Wollte da etwas platzen? Eine Ader, ein Blutgefäß? Platzte da etwas? Und die Hitze - bei Hitze war sein Kopf doch sonst nicht so heiß. War vorhin, während er auf den Monitor blickte, bei den zickzackförmig farbigen Halluzinationen, wo er doppelt, manches sogar vierfach gesehen hatte, wo ihm die Augen unverständlicherweise, weil das doch gar nicht ging, nach innen zu tränen schienen, etwas in seinem Kopf passiert? Schnapp! Hatte da nicht etwas Schnapp gemacht, hatte er nicht so etwas gespürt, irgendwas war da gerissen, innen, er spürte es jetzt - Liegen, er mußte jetzt liegen. Wenigstens sitzen - aber die Bänke waren alle besetzt. Ende des Rennpferdes - er hatte sich vergeudet, bei diesem Reden, und an Sulla natürlich, sich an diesem widersinnigen Sulla wahrscheinlich endgültig vergeudet. Liegen - er mußte liegen. Furchtbar, es gleich hier tun zu müssen, direkt auf dem Weg, auf den Bänken saß doch schon überall jemand - endlich fand er eine stille Ecke, an einem Teich. Er achtete noch darauf, daß er nicht in Entenscheiße zu liegen kam und schlief dann auf der Stelle ein. Nein, schlafen konnte man das eigentlich nicht nennen, dieses unruhige Die-Augen-Schließen und stumm Vor-sich-Hin-Wiederholen von Sätzen, die er gerade von sich gegeben hatte; dann gab es zuweilen doch wohltuende Stille in seinem Kopf, unterbrochen freilich immer wieder von Anfällen sprachlicher Heftigkeit - Schlinge um meinen Hals! - sie kamen in Wellen, diese Anfälle, vor denen er sich, wenn sie kamen, fürchtete. Er wollte von Sprache nichts mehr wissen, jetzt nicht, nie mehr - und schlafen, ja bitte schlafen, flehte er ins Nirgendwo, warum konnte er denn nicht schlafen - und dann hatte er es wohl doch getan, denn er wachte auf, mit einem trockenen Geschmack im Mund. Er lag seltsam zusammengekrümmt, so hatte er noch nie gelegen, neben einem Teich auf Rasen. Ja um ihn war Grün, nichts als überall geltendes Grün. Er war wach.

Viel besser ging es ihm zwar nicht, aber er war immerhin ruhiger, der Druck in seinem Kopf hatte nachgelassen. Sie kaum wahrnehmend betrachtete er eine Gruppe im Wasser herumdümpelnder Entenpaare. Süßes Wasser. Seltsamerweise, vielleicht weil er sekundenlang erwogen hatte, es nun wie diese Enten zu durchqueren, erinnerte ihn das wieder an gestorbenen Weg, denn, als er, schnell wieder müde werdend, die Augen aufs Neue schloß, sah er sich als kleinen Jungen und wie er zum ersten Mal versucht hatte, sich ein Bild von Einzigartigkeit zu machen, damals, als er rätselnd die Odyssee durchlas, am Nordrand des Harzes, auf ihm endlos vorkommenden Spaziergängen, in Freyenburg, mit den Eltern, durch ihm bald ewig gleich erscheinenden langweiligen Wald, nicht weit von diesem Harzburg , wohin sie nach dem Krieg geflüchtet waren. - 'Hier sind wir schon so oft gewesen,' hatte es da immer beharrlich in seinem Innern genörgelt, und: 'Diesen Spaziergang haben wir doch auch schon gemacht - langweilig.' Stets ging es erst an einem kleinen See oder Teich vorbei - bestimmt kam er darauf, weil er jetzt an gleichfalls einem Teich hingestreckt war - in Freyenburg ein oval etliche Meter unterhalb des Weges lockendes, jawohl, vor einem steilen Berghang fast lockendes Rund, darauf es zwar keine Enten gab, dafür ragte ein Büschel verrosteter Eisenbahnschienen aus dem Wasser: "Ein abgesoffenes Bergwerk, geht tief runter", erklärte sein Vater bei einem der ersten Male wenig erhellend - und Mutter: "Die armen Bergleute." Jener Ort war äußerst interessant, gar keine Frage, einzigartig zumindest verglichen mit dem Ententeich hier, an welchem er noch immer so gekrümmt lag, einzigartig indes auch das - nein er war nicht tot, seine extrem verdrehte Körperhaltung gab ihm jedoch das absonderliche Gefühl, daß er eben fast gestorben sein mußte. Philipp legte sich lang auf den Bauch und atmete erleichtert aus - er lebte. Er roch das Gras, in dem sich seine Nase befand - Ah, Gras! Es kitzelte. Der Ententeich, den er, den Kopf dahin drehend, mit einem Male ganz deutlich wahrnahm, kam ihm unendlich hübsch vor. - "Ja bleib nur, wo du bist - du bist harmlos und gut", murmelte Philipp zu ihm hinüber, als hätte er, nachdem er nun nicht gestorben war, eine neue Bestimmung entdeckt, eine neue Aufgabe in der Welt, die im wesentlichen darin bestand, Ententeiche zu benoten und zum Verweilen einzuladen. Eine gute, eine befriedigende Aufgabe. Natürlich war jener kleine See mit den herausragenden Eisenbahnschienen bemerkenswerter, ein riesiges Auge, worin Splitter staken, das Wasser dunkelgrün und die es umschließenden, an der wegabgewandten Seite bis hoch in den Hang führenden steilen Erd-, vielleicht waren es auch Felswände, rosarot, ungewöhnliche Farben für die Gegend; vielleicht entstand da in ihm das Gefühl, daß es auf der Welt tatsächlich Interessantes und Einzigartiges geben konnte, Interessanteres jedenfalls als die in ihrer Wiederholung sich monoton anfühlenden anderen Abschnitte dieser Spaziergänge. Nein, gestorben bin ich nicht, dachte Philipp und fand plötzlich wichtig, sich aufzusetzen - es war noch immer heiß, doch das gewöhnliche Grün, die vielen normalen Menschen um ihn herum, einer so normal wie der andere, die von der Sonne schmecken wollten, vermittelten ihm nun das Gefühl, daß das Leben noch einmal beginnen könnte. Erleichtert drehte er sich auf den Rücken. Aber über ihm war nur Himmel, klar und wolkenlos, darin verlor er von neuem den Halt, vor dem gleich hinter dem zartem Blau drohenden, ha, Vakuum, das ihn eben doch zu verschlucken gedroht hatte. Immer noch schmerzte der Hohlraum in seinem Kopf. Nein, von dort oben war keine Gnade zu erwarten, für ihn nicht, auf dem Bauch lag man besser. Kein Tier schläft auf dem Rücken, das ist - unnatürlich. Wieder steckte sein Kopf in herrlich kitzelndem Gras, es roch wie . . . er wußte es nicht. Was er jemals von diesem Geruch gedacht haben mochte, war überheblicher Unsinn. Ach, was interessierte der Himmel. Aus den Augenwinkeln erblickte er den Ententeich, auf einmal war er froh, ihn vorhin, obwohl ihm das schon etwas seltsam vorkam, zum Bleiben aufgefordert zu haben, ja, süßes Wasser - nun war er wenigstens da, ein zuverlässiger, braver Gefährte. Liebenswürdig und harmlos. Wieder schlief er fast ein, es gelang nicht richtig, und so wandte er seine Gedanken noch einmal dem "Weg" zu - alles war besser als Vakuum -, der von dem kleinen See da am Harz in den Wald führte, ihm war, als hinge sein weiteres Leben davon ab, daß er sich das ganz genau wieder vergegenwärtigte . . .

Irgendwann fragte er sich nämlich, ob es gleich neben dem gemeinsam mit seinen Eltern begangenen Weg vielleicht Orte geben könnte, an denen noch niemand gewesen war. Eine Weile fand er Vergnügen daran, während dieser Spaziergänge zu Orten zu laufen, bei denen er derartiges für möglich hielt, dort blieb er stehen und sagte leise: 'Hier ist noch niemand vor mir gewesen.' Dabei kam er sich - einzigartig vor. Manchmal sogar großartig, wohl nicht ganz so, als sei ihm die Entdeckung eines neuen Sees mit aus ihm herausragenden Eisenbahnschienen gelungen, doch immerhin. Aber konnte er seiner Einzigartigkeit je gewiß sein? Selbst wenn in den letzten Monaten niemand hier gewesen sein sollte, überlegte er oft angestrengt; und auch vor ein paar Jahren nicht irgendein versprengter Soldat - gelegentlich fand man im Wald, gerade an entlegenen Stellen, Munitionsreste -, dann konnte immer noch irgendein alter Germane einst hier gestanden haben, vor gut tausend Jahren, aus irgendeinem Grund; vielleicht ja - und da wurde der kleine Philipp verwegen und mochte eine erste Ahnung von dem spüren, was von uns so hilflos spekulativ als 'Nationalcharakter' verstanden wird -: weil dieser alte Germane auch so einen Ort suchte, wie er selbst, an dem noch nie jemand vor ihm sich aufgehalten hat, so Einer würde bestimmt die gleichen Stellen wählen. Nein - man konnte bei so etwas nie, nie sicher sein, gelangte Philipp zu einem erstaunlich einfachen und einwandfreien Schluß und hatte da wohl als Achtjähriger bereits verstanden, daß es auf der Welt nur sehr wenige Orte gab, schon gar nicht hier am Harz, die noch von keinem Menschen begangen waren - in dieser Zeit wurde der Mount Everest erstbestiegen.

Dann kam ihm eine Idee, auf die Philipp noch heute stolz war: Sobald er nämlich an so einem Ort, an dem vielleicht schon jemand gestanden hatte, einen Schritt machte, änderten sich die Verhältnisse radikal, besonders die, welche die Einzigartigkeit betrafen; und zwar schlagartig, zuverlässig und ohne Aufwand - selbst wenn er annahm, dieser Schritt sei ebenfalls schon von jemandem gemacht worden, konnte er dann ja einen weiteren Schritt tun; und dann noch einen; und noch einen: daraus wurde ein kurzer Weg, von dem mit jedem zusätzlichen Schritt, besonders den ein wenig eigensinnigen, unwahrscheinlicher wurde, daß ihn schon jemand anders gegangen war. Und schließlich - die Mathematik dahinter, die solches auf Grund der Anzahl der Menschen und der ihnen auf diesem Planeten verfügbaren Oberfläche schon nach entschieden weniger als der von ihm vermuteten Zahl garantierte, stand ihm selbstverständlich nicht zur Verfügung - wurde daraus etwas, das nur ihm angehörte, das wäre dann: sein Weg - dann wäre auch er eine Art Odysseus!

Interessanterweise wollte er die von ihm in der Folgezeit entworfenen einzigartigen, nur ihm zugehörigen, nur ihm gehörenden Wege immer an schwer zugänglichen Stellen beginnen, das gab nämlich ein Gefühl von wirklichem Anfang. Auch das war etwas sehr Kostbares. Mit Cornelia zum Beispiel hatte es nie einen klaren Anfang gegeben, vielleicht war das ja eine der Ursachen des Nicht-in-Gang-Kommens ihrer Beziehung. Seltsam auch, daß er gerade an solch schwer zugänglichen Orten oft an jenen ominösen Germanen dachte, der schon vor ihm hier gestanden haben mochte. Ja, irgendeiner dieser bereits von Tacitus in beachtlicher Ausführlichkeit samt ihren Stärken und Schwächen geschilderten Germanen, zu denen Philipp schließlich selber gehörte - 'und dann ist er von hier irgendwohin gegangen, der alte Germane', ins Lager oder in die Wagenburg oder wo immer sich seine Gefährten, unser aller Vorfahren, da aufgehalten hatten. So dachte Philipp damals. Er aber würde anders gehen, selbst wenn seine Ziele die gleichen sein mochten - Ziele gab es weniger als Wege, auch diese Erkenntnis überraschte ihn. Die Wege, die er sich dann vorstellte und von denen er sicher war, daß kein anderer sie, vor allem auf Grund seiner Eigensinnigkeit, begangen haben konnte, war er dann nie gegangen, komisch - warum eigentlich nicht? Warum tat er es nicht? Was in ihm ließ ihn mit der für einen Achtjährigen doch recht komplizierten Materie eines bloßen Gedankenexperiments Vorlieb nehmen? Das er immer neu ganz kompliziert vor sich ausdrücken mußte - ja, er mußte es sich immer wieder neu klarmachen, denn ihm gelang nie, seinen Gedanken zu vereinfachen und zu der an sich ja nicht besonders schwer zu formulierenden Erkenntnis vorzustoßen, die sein Grübeln wohl schnell beendet hätte: daß auch in einer Welt, darin jeder Ort begangen ist, immer noch genug Wege verblieben, die, waren sie bloß eigenwillig oder lang genug, Originalität geradezu garantierten. Nein, solche Art leicht faßlichen Schlusses, den man mit sich hätte nehmen können, gleich einem Gepäckstück, und auf alles mögliche andere anwenden, gelang ihm nicht - sobald die Spaziergänge, und zwar genau diese, aufgehört hatten, war die Erkenntnis dahinter vergessen. Ja, sie verschwand einfach, irgendwo in ihm, verschüttet, könnte man sagen, wie das Bergwerk in dessen Nähe er in ihre Nähe gelangt war, und mußte, als er ihrer wirklich einmal bedurfte, mühsam erneut errungen werden, unter zum Teil furchtbar überflüssigen Opfern - würde auch Christiane, würde seine Ehe dazugehören? Nein, bitte nicht Christiane! dachte er. Ja, wenn ich es nicht vergessen hätte, wäre mein Leben vielleicht anders verlaufen, sagte sich Philipp billig, dann wäre ich jetzt sicher nicht hier, dann hätte ich so vieles nicht nötig gehabt. Ach, was solls, dann wär anderes passiert - vielleicht wäre er dann schon tot. Oder gerade eben gestorben, weil er nichts gehabt hätte, mit dem er das in seinem Kopf, angesichts dieses blaßblauen Himmels, inmitten dieses kraftvollen Grüns, aufreißende Vakuum bekämpfen konnte. Im Leben gab es, gut, daß das im Grunde jeder weiß, keine kausal verfolgbaren Alternativen. Als Kind war für ihn Einzigartigkeit etwas Seltenes gewesen, wie jener kleine See mit den herausragenden Schienen, in der Regel wohl auch etwas Begehrenswertes - mittlerweile empfand er anders. Oft begegnete er ihr mit Gleichgültigkeit, und bisweilen war er sogar der Ansicht, daß die Menschen, denen man begegnete, schon beinahe langweilig in ihrer Einzigartigkeit waren. In dem See damals konnte man zum Beispiel nicht einmal baden, wegen der steilen roten Wände, das war doch nichts. Und Einzigartigkeit trennte. Manchmal freute er sich richtig - wie ein Kind mitunter -, wenn trotz all dem Auseinanderlaufen noch gemeinsame Züge unter den Menschen zu entdecken waren. Daß zum Beispiel die meisten Menschen Blumen schön fanden; oder gern fickten, langweilig fand er das jedenfalls nicht - und jetzt, was war er jetzt? Der erste Mensch, der hier so komisch zusammengekrümmt neben diesem Teich auf dem Rasen gelegen und das beklemmende Gefühl hatte, am Ende seines einzigartigen Weges angekommen zu sein?

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Auf den verschlungenen Wegen des Tiergartens verlief er sich beim Versuch, zur Akademie zurückzufinden - einzigartig auch das, dachte er mit ihn dem Leben abermals ein wenig näher bringendem Sarkasmus: ein sich auch noch verlaufendes Rennpferd am Ende seines Weges. Erst der Anblick der Siegessäule gab Philipp wieder mehr Orientierung - Sieg! Sieg! machte es in ihm höhnisch. Ihm war, als wolle ihn die goldbronzen glänzende Göttin verspotten, von dort oben und sogar aus der Ferne, weil er hier zwar nicht gestorben, aber ganz klar am Ende war. Man hatte sie auf die Säule gestellt, damit die Glorie des preußischen Siegs über Frankreich nicht in Vergessenheit geriet, zur Zeit also etwa, in welcher der grübelnd sein Exemplar der 'Fleurs du Mal' Baudelaires zerblätternde Cézanne sich den Siegesberg als Metapher des vielleicht doch noch möglichen eigenen Erfolges erkor. Zu einer solchen Anstrengung würde er, Philipp, wohl kaum mehr die Kraft finden, jetzt ohnehin nicht; und wenn er seinen im Überleben halbmatten Körper halbwegs zu lesen verstand: nie mehr. Aber hatte sich nicht auch der in dieser Säule so strahlend gefeierte Sieg schließlich erledigt? Fast zwangsläufig hatte er in die Katastrophe geführt, aus Überheblichkeit, aus dumpfer Arroganz und einem an den Germanen schon Tacitus erstaunenden Folgsamkeitswillen, der sonderbar leicht in Fanatismus führte, aus welchem dann ruck, zuck, ein zu sicherem Untergang führendes Szenario zusammengebraut wurde, dem man dann unbedingt folgen wollte; für Philipp war das inzwischen bereits an der in der Plutarchschen Beschreibung erfaßten Manier der Teutonen erkennbar, sich blind in ihr Verderben zu kämpfen. Ein Wunder eigentlich, daß diese Säule noch stand , und ihm nun dazu verhalf, sich wieder zu orientieren. Paradoxe Welt - vielleicht bot solche Paradoxie ja irgendjemanden eine Art Trost, ihm bot sie ihn jedenfalls nicht.

Dennoch fühlte sich Philipp, als er den Weg zurück in die Akademie fand, schon ein wenig erholt. Der Druck in seinem Kopf war fast verschwunden und er begann undeutliches Interesse an den herumstehenden Damen zu entwickeln, vor allem den beiden, es bot sich schließlich an, die ihn hier im Auftrag des Veranstalters locker betreuten. Sie hatten natürlich keine Ahnung, daß er gerade - so kam es ihm ja vor - nicht nur beinah gestorben, nicht nur sinnlos in einem fremden Garten beinah verendet war, sondern daß er obendrein von einer hochsoliden, an ausschließlich der Vertikalen orientierten Vertreterin des Preußentums verspottet wurde und erigierter Berliner Weiblichkeit gegenüber momentan, auch wenn sie im Grunde nur flach gelegt werden wollte, ein wenig empfindlich reagierte. Sigrid plapperte arglos heraus, daß sie gut fände, wie er mit Flüssigkeiten umginge: "Ich finde gut, wie du mit Flüssigkeiten umgehst!" - sonderbarer Gedanke. Sie wollte das seinem Marokkofilm entnommen haben, gestern, sie besäße nämlich die Gabe, das mit den Flüssigkeiten zu sehen, so wie andere aus Händen was ableiten konnten - daher schmunzele sie, wenn sie mit jemandem spreche, oft vor sich hin, bloß weil sie sich vorstelle, wie der- oder diejenige, das Geschlecht spiele gar keine Rolle, mit Flüssigkeit umginge. Platsch, platsch, warum denn nicht? dachte Philipp, obwohl ihn ihr ins Mystische sich drehendes Gerede eher ängstigte - die Welt ist paradox, Gott sei Dank! Was genau an dem Marokkofilm mochte sie gemeint haben - er spielte doch in der Wüste! Das einzig lecker Feuchte, was er an Erinnerung aus Marokko mitgebracht hatte, waren die lychees, die man gleich hinter Ceuta am Straßenrand anbot. Oder war das nur so dahingesagt, ihr Trick, den sie bei jedem versuchte? - "Hör mal, ich finde gut, wie du mit Flüssigkeit umgehst!" - An einer Stelle seines Film ging es allerdings tatsächlich um Flüssigkeit, da stürzt jemand in Richtung eines Flusses, in eins dieser berühmten Wadis, um dann mit nacktem Oberkörper darin zu stehen, in tief rot leuchtendem Wasser - ja, das war Flüssigkeit! Konnte jemand, der das im Film sah, 'gut finden', wie er, Philipp, mit Flüssigkeit umging? Das war doch verrückt. Schließlich handelte es sich um gewöhnliches Wasser, nur künstliches Licht, beim Kopierprozeß durch Filter rot eingefärbt, verlieh ihm diese Intensität, diese blutartige Konsistenz - die Wirkung war, zugegeben, allerdings so frappant, daß sich auch ihm an dieser Stelle die, ja, ja, die guten alten Nackenhaare sträubten - in seinem Kopf bildete sich dann unweigerlich das Äquivalent eines simplen Satzes: 'man watet in einem Meer von Blut', so in etwa lautete er wohl. Ein Satz, der in seiner Schwerkalibrigkeit so banal klang, daß er in geschriebener oder gesprochener Form völlig wirkungslos geblieben wäre. Sehr sonderbar. Daß der Film ansonsten in Wüste spielt, erhöhte vermutlich diesen Effekt - ja, das mußte diese Sigrid gemeint haben. Philipp fühlte sich weiter erbärmlich schwach; und als jemand, der eben noch, ha, nicht nur Teiche zu benoten versuchte, sondern sie auch noch zum Bleiben aufforderte und überdies froh war, solches getan zu haben, gewiß nicht in der Lage, sich jetzt im Licht eines derart schwerkalibrigen Satzes in einer wie immer gefärbten erotischen Begegnung zu behaupten.

Mehr kam ihm die eher ins Mütterliche lehnende Ausstrahlung der anderen seiner Betreuerinnen entgegen, von welcher er sich besser vorzustellen vermochte, daß er sich in seiner gegenwärtigen, nun ja - Verwirrung in sie vergraben könnte. Derartige Verwirrung war nach einer Anstrengung wie seiner ja nicht ungewöhnlich. Sie schien einer Verwicklung gleichfalls nicht abgeneigt - schon amüsant, gerade angesichts seiner inneren Verfassung: zwei Damen streiten sich um einen Leichnam. Die Konkurrentin der für Flüssigkeiten so empfänglichen Sigrid brachte sich, gerade als Philipp ihrer warmherzigen Liebenswürdigkeit schon nicht mehr widerstehen mochte, jedoch schnell aus dem Spiel, indem sie von einem liebenswürdigen Kubaner erzählte, Leiter des Filminstituts in Havanna, nicht der Partei verpflichtet, ganz unabhängig, natürlich, ein ganz liebenswürdiger Mensch, und so weiter - mit derlei Liebenswürdigkeit mochte Philipp jetzt lieber nicht wetteifern. Er fühlte sich schwach, mußte was essen, vielleicht half ja das. An der kleinen Bar vor dem Kino- und Vortragssaal bestellte er eine Frikadelle und entdeckte eine weitere Dame, in oder an deren lychee er ganz gern geschlabbert oder herumgeknabbert hätte, er staunte über die, trotz oder wegen seiner Erschöpfung, primitive Geradlinigkeit seiner Reflexe. Jetzt war die Zeit, sich belohnen zu lassen - das meinte offenkundig noch immer etwas in ihm, obschon er hier klar am Rand eines Zusammenbruchs stand; wenigstens waren die Kopfschmerzen verschwunden. Sie kam, wie es schien, aus dem schönen Polen und verteilte, ganz dem Klischee von temperamentvoller Polin entsprechend, glutäugige Blicke, leider kaum zu ihm herüber, obwohl sie auch ihn nicht ausließ - zu lebendig, für mich jedenfalls, ordnete er sie, selbst lebendiger werdend, nun ein, während er die Frikadelle verzehrte und sich zunehmend fühlte, als wäre die ganze Akademie hier voller attraktiver weiblicher Psychoanalytiker, welche sich um ihn als Patienten stritten. Von solch ausgestelltem Leben wie dem dieser Polin hatte er indes genug. Zudem würde er kaum an sie ankommen, jetzt nicht, so Eine hatte in Berlin anderes vor, als sich kurzfristig mit einer künstlerischen Existenz zu verstricken, die sich, wie er, am Ende befand. Daß das Leben beginnt, wenn der Tod aufhört, war zwar natürlich genug, doch um Beute zu machen, muß man eine Figur abgeben können. Nicht einmal dazu war er nunmehr in der Lage, nicht zuverlässig zumindest, er konnte ja, auch die Frikadelle half da nicht, kaum noch stehen. Kleinlaut verabschiedete er sich von diesem ihm allmählich unerträglich werdenden Ort möglicher Beute, der sich zunehmend in einen von klar werdender Niederlage verwandelte, und fuhr in die Knesebeckstraße, wo sich das Zimmer befand, worin er hier übernachtete. Endlich lag er in einem Bett, endlich allein. Nachdem er das Zimmer verdunkelt hatte, kamen ihm beim Versuch, ein wenig zu schlafen, Bruchstücke des bei seinem Vortrag Abgesonderten in den Sinn, aus diesem Schwall tiefschürfender Worte, bildlicher Vorstellungen, von raffiniert gewundenen Motivketten aus Kernpunkten, Schlagworten, Argumenten - ja, 'abgesondert' hatte er das, so kam es ihm vor; besonders die Stelle mit dem in den Baum kletternden Robert, deren Erläuterung fast fünf Minuten in Anspruch nahm, das war doch nicht normal. Dabei war alles, was er da sagte, einigermaßen richtig. Auch die gläubigen Gesichter der beiden jungen Männer standen ihm eine Zeitlang vor Augen - ja, nur für sie oder, genauer vielleicht, die in ihnen angelegte Zukunft, hatte er sich so: 'entleert'. Was faszinierte ihn an diesem Wort? Vortragen war eine hochgefährliche Angelegenheit, so sehr es Einem auch ein Gefühl für die eigene Schönheit geben kann, für die eigene Stimme, gestern zum Beispiel, bei seinem "Festvortrag", wo er einem festen Text folgte; wenn man aber, wie er heute, improvisiert, wird man leicht zu einer sich auftuenden Plaudertasche, ganz als bräche, besonders bei geeignetem Gegenüber, an Einem eine Wunde auf, die sich nun, gerade nach langer Verhärtung und eigensinnigem Bohren in Schweigen, auszubluten hatte. Und dann, wenn man leer war - danach? Er wußte nicht, ob er schon schlief, während er sich das lustlos fragte, doch auch was sich danach in seinem Kopf abspielte und mehr die temperamentvolle Polin betraf, beziehungsweise einige an ihr recht gut sichtbare Aus- und bald auch Einbuchtungen, war schon wenig später und für alle Ewigkeit vergessen.


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