K. Wyborny

AUS DER KNABENZEIT

I.

HEILIG, HEILIG . . . Vom Heiligen . . .
(Von Mutter und Kind)


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Na, jedenfalls begann ich in Harburg Fußball zu spielen, in der Dritten Jugend - wo es darum ging, durch den Beweis von Talent in die Zweite aufzusteigen, die zweitbeste der Jugendmannschaften unseres Vereins. Die Erste lag jenseits meiner fußballerischen Fähigkeit, wie in der Kunst fehlte es mir auch hier an Genialität. Sogar im Fußball sucht man die unbefleckte Schönheit, in Form zum Beispiel des langen, jedes Gedrängel, jedes Versagen vermeidenden raumöffnenden Passes, der ein großes Ah bei den Zuschauern auslöst. Große Kunst denken wir dann, weil das Konfuse sich auflöst, ein erhabener Moment, weil jemand nicht von Fehlern profitiert, sondern der Raum und die Aufstellung selbst eine Art Unbeflecktheit ermöglichen. Davon war ich Meilen entfernt. Dann sollten wir Fußballer, zur Verbesserung unserer Kondition an einem Waldlauf um ausgerechnet den mir von Barmbek her vertrauten Bramfelder See teilnehmen, und Barmbek/Bramfeld stachelt mich wohl zu Hochform an: nicht nur siegte ich im Lauf meiner Altersklasse (was mich zum Leichtathleten machte), im nahegelegenen Stadtpark gewann ich gut ein Jahr später einen weiteren Waldlauf, ich besitze darüber sogar eine Urkunde.

Ich hab sie gerade gefunden, wobei sich allerdings herausstellte, daß es nur ein dritter Platz war, über "circa 3.000 Meter" in 10:05,5, laut dieser Urkunde vom, ja, ja: 11.11.1962, wie unzweideutig drauf ablesbar ist. Mitte der Achtziger hörte ich mit dem Rauchen auf und versuchte, um dem entstehenden Unbehagen zu begegnen, noch einmal systematisch zu trainieren, am Ende kam über solche Distanz als Bestmarke 11:38 heraus, was melancholisch stimmt, denn alles in einem spricht davon, unmißverständlich und nicht nur im Hirn, nein, in jeder Muskelfaser (oder was an Reiz in diesen Fasern unser Hirn erreicht), daß man jenem Siebzehnjährigen, der man einst war, haushoch überlegen geworden ist. Wie leicht sich das Empfinden da täuscht und die Erinnerung verbiegt; immerhin interessant, daß ich diese Urkunde anders als die meisten anderen meiner Sporturkunden aufbewahrt habe. Unter ihnen noch ein 1:57,7 Sieg im 800m-Lauf, in Geestemünde, dann ein zweiter Platz über 1000m in der gleichfalls im Hamburger Stadtpark gelegenen Jahnkampfbahn, in 2:33,5, meine Bestzeit auf dieser Strecke, vielleicht überhaupt die beste meiner leichtathletischen Leistungen; und schließlich ein ebenfalls zweiter Platz in Wolfsburg, 200 m in 23,2, der meine Sprintqualitäten klärt. Die Krönung bildet die Startnummer einer deutschen Jugendmeisterschaft, auch über 800 m, wo ich leider keine Urkunde erhielt, obwohl ich, das Rennen fand in Krefeld statt, einhundert Meter vor dem Ziel Zweiter war, dann ‘verhungerte’ ich, wie heißt, wenn die Muskeln sauer werden und die Beine jene bleierne Schwerfälligkeit annehmen, von der Nicht-Leistungssportler nicht die Spur einer Ahnung haben, und so reichte es lediglich zum fünften Platz. Kommt es, in einem so banalen, bloß jugendsportlichen Zusammenhang, auf Wahrheit überhaupt an? Ja und Nein - vielleicht weil die Wahrheit nicht nur kurioser ist als jedwede ausgedachte Wirklichkeit, sondern obendrein unterhaltsamer, auch als das lustige Szenario von unserem Fisch, obwohl man nicht so leicht darüber lachen kann, sich, vergeben Sie mir den Kalauer, nicht so leicht darin zu Tode lachen kann wie im heutigen Fernsehen. Ein Sieg lag auf dieser deutschen Meisterschaft nie im Bereich des Möglichen, des Siegers Bestzeit lag vier Sekunden unter der meinen, auf der 800m-Strecke eine Ewigkeit. Insofern war ich der geborene (oder besser: der gewordene) Zweite oder Dritte: Wohl bewegte ich mich im Bereich möglicher Führerschaft, es mangelte mir jedoch an einem gewissen Rest, demjenigen nämlich, welcher wirkliche Ausgezeichnetheit ausmacht. Nicht daß den damaligen Siegern ihre Exzellenz genützt hätte, aus ihnen ist ebenso wenig geworden wie aus mir, soviel kriegt man mit von der Welt. Irgendwo fanden auch sie ihren Meister, keinem von uns gelang der Sprung in die olympische Klasse, und was ist schon die Teilnahme an so einer Olympiade - immerhin verdanke ich dem Sport das Gefühl, auch in über das Lokale hinausweisenden Zusammenhängen Zweiter oder Dritter nicht nur werden, sondern auch sein zu können (natürlich habe ich auf den üblichen Schulsportfesten weiter jedermann in Grund und Boden gerannt, mühelos, wie bei den Pfadfindern). Eine solche Position lehrt einen die Sieger betrachten, man versteht sie schon fast. Ebenso aber entwickelt man Gefühl für die Verlierenden, man versteht ihr Verlieren, man gehört ja dazu, ein gar nicht mal schlechter Platz für einen Schriftsteller, so zwischen oben und unten, habe ich manchmal selbstgefällig gedacht.

Und dies mit der Urkunde kommt mir nun sehr interessant vor, dieses mir neuerdings einen ersten Platz in diesem Stadtpark-Rennen erschleichen wollen. Soll ich schon erwähnen, welch eigenartige Genugtuung, oder wie immer das richtige Wort lauten mag, ich empfand, als ich neulich meinen alten Freund Markopoulos in genau diesem Stadtpark, in dem ich fast ein Rennen gewonnen hätte, mit einer Freundin spazieren gehen sah? Wo auch meine Mutter einst mit mir spazieren ging, auch er hat es nicht weiter gebracht, obwohl er Fassbinder früh schon ein Schwein genannt hat. Wieder bemerke ich meine Ungenauigkeit: selbstverständlich wär ich nur zu gern, ihr die Hand haltend wie es jetzt Markopoulos (dessen Kopf ich doch als ganz junger Mann auf den Knien hatte, die allereigenartigste Berührung mit einem Heiligen, der freilich noch immer nicht gefallen ist) mit seiner Freundin tat, mit meiner Mutter hier spazierengegangen, aber ich wollte die Mutter nicht teilen und war leider nie mit ihr hier allein. Und ist nicht äußerst merkwürdig, daß ich den ein wenig alt gewordenen Markopoulos ausgerechnet hier im Stadtpark treffe, obwohl ich ihm zum ersten Mal 1970 in München begegnete, wo ein Umzug nach Hamburg für ihn gewiß ganz außer Frage stand? Natürlich hat ihn weder magische Kraft hierhergebracht, noch sein Wille, eher schon der Gedanke der Freiheit und daß er ihm auf eigene, unverwechselbare Art folgte, fast zwanghaft schon, aber am Ende war es dann wohl doch bloß ein weiterer dieser elenden Zufälle, deren Gehäuftheit immer so leicht Fragezeichen in uns aufleuchten läßt. Und jetzt beginne ich auch zu verstehen, warum ich mir hier im Waldlauf den ersten Platz zugeschanzt habe, es liegt an dem Bild, das ich, als ich in Barmbek wohnte (ich muß jetzt genauer sein: zwar ging ich in Barmbek zur Schule, unser Haus lag aber im ländlicheren Bramfeld, was sich zu Barmbek ähnlich verhält wie Barmbek zur Hamburger Innenstadt), von mir hatte. Dort war ich nämlich absoluter Herr über die von mir veranstalteten Spiele, Sieger und Verlierer in einer Person. Keine Negation konnte die Wahrheit meiner Existenz erschüttern, schon weil ich mit niemand anderem spielte, nur mit mir selbst - bevor ich auf die Art dieser Spiele eingehe, aber noch ein anderer Gedanke. Ich versuche, ihn so auszudrücken: während ich in Barmbek (ich wiederhole meine Ungenauigkeit, ich müßte sagen: während ich in Bramfeld . . .) beim Spielen Sieger und Besiegter zugleich war und so ein natürliches Mitgefühl mit dem Unterliegenden entwickelte, mit dem Drama und der Monotonie im Gleichmut seines Unterliegens, begegnete mir in Harburg (genauer: in jenem südlichen Vorort Harburgs - also wieder dem Vorort eines Vororts) mit dem evangelischen Gefühl etwas, das wohl in die gleiche Kerbe schlug, aber dennoch ganz Neues: ich wurde der geborene Zweite und Dritte. Mag sein, daß es mit jener Pfadfinder-Rudelführerschaft in Verbindung stand, die ich so vehement ablehnte. Als hätte ich unerträglich gefunden, Vorbeter bei einer Sache zu sein, an die ich nur halb zu glauben vermochte (der von mir verehrte Straub war, wie ich meine, in seiner Jugend Meßdiener gewesen - bestand er also aus Vorbetermaterial mit all dessen Schwächen: überzogenem Sendungsbewußtsein etc, ganz wie der das allerdings schon wieder ironisierende Schlingensief?). Sie mißtrauen dem beschönigenden Klang meiner Worte und sagen, der hatte es einfach nicht drauf, Erster zu sein? Ganz unrichtig ist das nicht. Lassen Sie sich trotzdem erklären, warum ich meine, der natürliche, der geborene Zweite oder Dritte zu sein. Ich stelle mir das folgendermaßen vor: nehmen wir an, es gäbe irgendwo eine Gruppe von, sagen wir, zwanzig durchschnittlichen Künstlern - ich möchte behaupten, daß man mich nach einiger Zeit unweigerlich in einer Position finden würde, in der man mich als zu den ersten drei, vier, gehörig begriffe. Schön für mich, sagen Sie, aber bei solchem Mittelmaß würde das sogar Ihnen gelingen. Mag gut sein. Stellen Sie sich nun aber vor, es gebe eine gewisse Anzahl solcher Gruppen, und jede würde nun ihre vier, fünf Besten irgendwo hinschicken, Delegationen, woraus man wiederum Zwanziger-Ensembles bildete: auch darin würde ich mich, das behaupte ich jedenfalls, bald wieder unter den ersten drei, vier befinden. Man würde, wenn ich etwas sagte, auf mich hören, sich interessiert anschauen, was ich mache. Und jetzt kommt der Punkt: wiederholte man diesen Delegationsprozeß, ein paarmal sogar, um jeweils "bessere" Gruppen zu bilden, würde sich meine Position in den neu entstehenden Zusammenhängen nicht ändern, stets würde ich zu den besten drei, vier gehören - wobei ich viele derjenigen, die mich vorher mühelos in den Schatten gestellt hatten, ebenso mühelos hinter mir ließe. Nie freilich, auf keinem Niveau, wäre ich der Beste. Ich weiß nicht, wie so etwas passiert - ich meine nicht den Aufstieg, der ist nicht besonders geheimnisvoll: Man steigt eben auf, bis man an seine Grenzen kommt, bis einem spätestens in der Klasse von sagen wir mal Pollock, de Koonig, Kline, Johns und Rothko die objektiv eigene Kleinheit gezeigt wird, die eigene ungeniale Beliebigkeit, die objektive Nichtigkeit. Das geht allen so, selbstverständlich findet man irgendwo Grenzen. Andererseits gibt es Gruppen, worin ich nicht einmal im Traum Dritter oder Vierter werden könnte, bei Jongleuren, Politikern, in abstrakter Mathematik - in solche Gruppen begibt man sich indes nur aus Nützlichkeitserwägungen, weil man es aus irgendeinem Grund nämlich muß, oder zum Abschalten, was weiß ich. Ernsthaft ließe ich mich höchst ungern in Gruppen hineinmanövrieren, worin ich nicht Lust hätte, die vorderen Plätze zu ergattern, ich bin kein Kuscheltier, ich besitze Ehrgeiz, ganz gewiß, ich habe meinen Vater inkorporiert, wie die Psychoanalyse sagen dürfte; aber eben nur partiell inkorporiert, es bleibt eine entscheidende Schwäche: ich werde nie Erster. Darin bin ich nicht einzig, das geht vielen so, höchstwahrscheinlich auch Ihnen, außer im Familienzusammenhang. Sogar den meisten, fast alle von uns befinden sich in einer merkwürdigen Unbalance, in der Fleiß, Talent, Anstrengung, Anerkennungsbedürfnis und was sonst noch alles hineinspielt, ausgebremst werden, bevor man ganz nach oben kommt, bevor - die Vorbeterrolle erreicht wird. Vielleicht begreift man, daß man sonst, nicht nur bei etwas so Grundüberflüssigem wie Kunst, gottähnlich sein muß, wenn man sich nicht als Scharlatan fühlen will. Daß also das Sich-gottähnlich-Fühlen nicht ausreicht, wenn man sich aktiv ins Weltgeschehen einmischt - ist man kein Gott, darf man es nicht tun und muß sich mit dem Einfach-nur-da-Sein begnügen. Ich weiß nicht, wieso ich jetzt an Eichendorf denken muß, ich springe zurück nach Barmbek, den besten Läufer unserer Klasse, damals auf dem schwarzen Schuttsportplatz des La Paloma Sportvereins, wo es in den Sportstunden nicht einmal einen mit Bahnen versehenen Rundkurs für uns Läufer gab, für, ja, ja, uns Lungenatmer, beim Laufen war er die Nummer Eins. Doch einmal entstand dann ein Getuschel, als er nämlich nicht mehr zur Schule kam - er hatte sich aufgehängt, ganz oben auf einem Dachboden, Selbstmord, wie auch bei Primo Levi, von dem ich, Sie erinnern sich, meinen Helden, den Fisch entliehen habe. Der ihm bei der Zwangsarbeit im KZ zugeschwommen sein mag, wo er, Primo Levi, die Menschen massenweise im Elend verkommen gesehen hat, behandelt wie Ungeziefer, schlimmer als Fische, doch manche, die Allerzähesten, die mit ihrem Körper das Äußerste anzustellen bereit waren, hatten es überlebt - als er in den Fünfziger Jahren von der DNS hörte und, von Beruf Chemiker, die dadurch bewirkten genetischen Verwicklungen erfaßte, sind wohl auch bei ihm zwei Muster zusammengeschnappt, ganz wie bei mir der Siedlungsschlauch und die flackernden Filme des Paul Sharits: Schnapp! Sein Selbstmord hat, so war damals zu lesen, einen seinem Schaffen gewidmeten Kongreß in große Verwirrung gestürzt, in Auflösung sogar, weil viele seiner Bewunderer in ihm das still Heldische seines Überlebens verehrten, das stoisch Gleichmütige, den tief langenden Humor seiner Darstellungen, die so ganz ohne Pathos daherkamen - sein Selbstmord kam einer späten Kapitulation gleich, die sein Werk entwertete, als hätten die Nazis am Ende doch noch gesiegt. Nun, ich wage nicht, mich in die Diskussion über den Sinn und Unsinn von Wahnsinn oder Selbstmord einzumischen, aber mir scheint Unfug zu sein, darin immer unbedingt Konsequenz sehen zu wollen, oft handelt es sich um entsetzliche Zufälle, unverständlich, und von außen oder aus etwas so Komplexem wie einem Werk heraus nicht erklärbar. Nachträglich läßt sich alles mögliche in die Welt hineindeuten, grade wenn man nur kurz hinschaut. Selbst bei etwas so Trivialem wie meinen Sporturkunden gibt die Faktenwelt aber nicht nur Sieger und Besiegte her, oft spielt auch eine Rolle, ob man Zweiter oder nur Fünfter gewesen ist. Solche Genauigkeit läßt sich auf dem Terrain erwogenen und schließlich begangenen Selbstmords nur selten finden. Ich weiß noch, wie unser Klassenlehrer (eine ganz dumme Sau) im Falle des armen Eichendorf uns irgendwas zu erklären versuchte, es war hilflos, er wußte nichts, auch in seiner Situation möchte keiner gern stecken. Natürlich hat mich das abgeschreckt, mich ernstlich mit Dichtung zu befassen: denn als wir ‘Aus dem Leben eines Taugenichts’ lasen, stand mir stets der kleine Eichendorf vor Augen, als Taugenichts, in all seiner Zähigkeit, und in einem immer mal aufpoppendem Bild, als "Ideal", wie Platon es hätte bezeichnen müssen, trotz seiner negativen Wirkung. Bald darauf verließen wir Barmbek, wo ich noch Sieger und Verlierer zugleich sein durfte, denn mein Vater hatte sich - Bausparvertrag hieß, womit das funktionierte, selbst wenn man kaum über Geld verfügte - sein erstes Haus gebaut. Ich erinnere mich auch noch an eine überspannte Phantasie um diesen Eichendorf, dem ich als Läufer so nah gekommen war, wie wenigen sonst: ich stellte mir vor, niemand hätte ihn da auf dem Dachboden gefunden, so daß er dort verweste und vom Fleisch fiel, bis er schließlich, zur Mumie geworden, verstaubte; und den Geruch genau dieses Staubes meinte ich am harten, bräunlichen Papier der vorfontaneschen deutschen Literatur in den Antiquariaten erschnüffeln zu können - wohl kaufte ich sie, ihr Geruch jedoch stieß mich ab.

 

Sie halten das für arrogantes Gewäsch, für eine im Grunde unverzeihliche Anmaßung, den Selbstmord Primo Levis mit diesen Sporturkunden zu verbinden und seinen Selbstmord in bloßes Spielmaterial zu verwandeln? Mag sein, daß daran irgendwas krank ist, ich weiß im Moment nicht genau, was es ist, aber eines bin ich dabei ganz gewiß nicht: ich bin nicht arrogant. Keine Sekunde habe ich das Gefühl, mich über das von mir hier Gesagte überheben zu können, nicht einmal, auch wenn es so klingen mag, über das Geplapper der flotten Anja. Was ich suche, ist allein Orientierung. Ich bin nämlich gar kein Vorortskind, wie ich vorhin meinte, meine Geschichte ist viel trivialer; natürlich bin ich auch kein Stadtkind, das ist ja klar, bei all meinen Äußerungen kommt ein Vorbehalt gegenüber dem Städtischen zum Ausdruck. Ich habe zwar fast mein ganzes Leben in Städten gelebt, dort aber keine Heimat gefunden, dieses Unerreichbar Heimatlos, vor dem einen keine Wohnungsbaugesellschaft zu schützen vermochte, und wenn ihr Name einen noch so schönen Klang hat , spricht jetzt für mich Bände. - Arrogant? Ich bin nicht arrogant. Ich will ihnen mal sagen, was ich bin: Ich bin ein Wald- und Wiesenjunge, der in frühester Kindheit einen Schock gekriegt hat, als er der Maschinenwelt und der Stadt begegnete, riesige Sachen für ihn, auf die er nicht vorbereitet war, davon hat sich dieser Junge nie wieder erholt. Nichts als ein x-beliebiger Wald- und Wiesenjunge mit einer kleinen Klatsche, wie sie viele Wald- und Wiesenjungen haben, die in die Stadt kommen, die Welt wimmelt davon, sie hat von ihnen gewimmelt, seit es Schrift gibt, seit es nämlich Städte gibt, und viele von ihnen schreiben. Wissen Sie, wovon sie schreiben? Von Wald- und Wiesenjungen, die es in die Stadt vertrieben hat, weg von Butterblumen, Sternmieren, und ja, Wiesen-Kerbel, die sich da nicht zurechtfinden, nicht im Verkehr, nicht in den geruchlosen Häusern, nicht in den geheimnisvollen Mechanismen der sie bewohnenden Frauen, nicht in den gesellschaftlichen Strukturen, nicht in den familiären Strukturen, Wald- und Wiesenliteratur, drei Viertel der Weltliteratur besteht daraus, vielleicht sogar fünf Viertel, wenn es ginge, der wirklich seriösen, wie die Geschichte von jenem nach Rom aufbrechenden Taugenichts; oft freilich in Verkleidung des aufs Land fliehenden Städters, als negativer Abklatsch - vielleicht nicht seit Homer, aber doch gewiß seit dem armen Catull, seit dieser, aus dem Veronesischen kommend, seine römische Lesbia nur als eine Art selbstpervertierter Nutte sich vorstellen konnte wie ich mir die städtische Anja: tempora non mutantur, nos et non mutamur in illis. Eine Literatur über Wald- und Wiesenprobleme - da, in diesem, dem vielleicht sogar einzigen, Falle ändern sich seither weder die Zeiten noch unsere Sitten. Seit Gaius Valerius Catullus gibt es nämlich das Wald- und Wiesen-Individuum, und mir scheint, jener Catull hat in seinem Dichten, so absurd dieser Gedanke auch klingt, das autonome Individuum sogar erfunden. Das anders als noch der listenreiche Odysseus nicht länger mehr schablonierte Individuum. Das gelegentlich sogar nicht einmal mehr schablonierende Individuum. Selbst der große Goethe war nichts als so ein Wald- und Wiesenschriftsteller, freilich einer von der negativen Sorte, einer, der aus der Stadt kam, und den dann die Wälder und Wiesen erschütterten, mit ihren Veilchen und Vergißmeinnicht, und dem sogar die darin lebenden Weiber zum Geheimnis wurden - Mädchen, worin er eine Unschuld entdecken wollte, die er selber in Frankfurt und Leipzig verloren hatte. Weimar ist für so einen kein schlechter Ort. Ja nennen Sie diese Szene unter dem Dachboden ruhig Selbstmord eines Taugenichts - ich habe Rom inzwischen wenigstens erreicht, sogar versucht, darüber etwas Gescheites zu schreiben. Und noch eins, wenn wir schon dabei sind. Und jetzt ganz ohne jede schablonierende Sentimentalität: zurück zu dem schnapp, dem alles entscheidenden schnapp in einem sogenannten Künstlerleben, und deshalb fühle ich mich auch nicht schlecht, wenn ich über Primo Levi spreche, auch wenn mein Fall viel trivialer ist als der seinige, der Fall eines x-beliebigen Wald- und Wiesenjungen: zum Zeitpunkt, an dem es bei mir schnapp gemacht hatte, in jenem Film des Paul Sharits, da hatte ich nichts mehr, da war ich alle; die ganze Buchweisheit, die ich mir aufgeschnappt hatte, nützte nichts; die mit sechzehn mir so gewaltig vorkommende Bibliothek, die ich mir zusammen gekauft hatte, völlig überflüssig, solche Aneignung von Literatur funktioniert nicht, sie ließ sich nicht ins Innere übersetzen. Ich besaß die Bücher im Grunde gar nicht, ich hatte sie bloß zusammengekauft, als Jäger und Sammler, sie gehörten nicht richtig zu mir; was ich mir davon aneignete, ließ sich höchstens für Im- und Export benutzen, als Partygewäsch. Nichts davon, so sehr es mich auch berührte, führte mich weiter, auf eine Weise weiter, daß man davon auch überzeugt ist, auch ein sogar ziemlich weitreichendes Physikstudium änderte daran nichts - allein bei diesem Siedlungsschlauch am Bahndamms machte es schnapp. Bei nichts sonst auf der Welt. Nein, das stimmt nicht ganz, in jenem Barmbek gab es noch so einen erleuchtender Moment: ein Schulfreund, ein Stadtjunge, erzählte mir was von Fernsehen, ich hatte nie davon gehört. Aber sobald ich den Ausdruck Fernsehen vernahm, stellte ich mir sofort vor, worum es sich dabei handeln könnte; ich stellte mir vor, daß man darin Musik spielen würde, Schlager, und auf den Bildern könnte man sehen, was die Sänger singen würden - als mein Freund sagte, man würde den Sängern beim Singen zusehen können, und das wäre das Wesen des Fernsehens, fand ich das ziemlich enttäuschend, jämmerlich verglichen mit meiner Vision. Steht übrigens alles schon in diesem komischen Text zur sogenannten Fata Morgana, der überhaupt von allem Möglichen eine ziemliche Essenz enthält, die ich offenbar kaum noch erreichen kann. Ich weiß noch, welchen Schlager ich mir da vorstellte: er war im Besitz meines Onkels Harri, wie mein Großvater ein Binnenschiffer, der ihn eine Weile täglich spielte, Seemann, wo ist deine Heimat, keine Ahnung wer ihn mit so schnulzig tiefliegender Stimme sang - und genau die Heimat von diesem Seh-Mann wollte ich im Fern-Sehen sehn, während er dazu sang, wo denn sonst? Die Idee des Videoclips, wenn man so will. Das schnapp eines Elfjährigen, in genau der Zeit, wo ich auf diesem gespenstischen Dachboden spielte, auf welchem ich mich dann nicht aufgehängt habe, wie jener Eichendorf. Komisch, daß ich das jetzt so genau datieren und auseinanderbröseln kann - paradoxerweise verdanke ich auch das den Umzügen, die mich so verstört haben. Und später, als ich Brecht begegnete oder vielmehr seinen frühen Gedichten, da wollte ich dasselbe, für meine mir so liebe Ingeborg schon, mit solchen Gedichten machen - den Text erklingen und die Bilder rhythmisch daran sich reiben lassen, wie ich es vielleicht noch immer ganz gern auf ihrem bereits in England weilenden, mir entrissenen Körper gemacht hätte, und da machte es noch mal schnapp (schnulz, schnulz - schnapp, schnapp!), und genau das mache ich jetzt: lange Folgen von solchen aus Bildern bestehenden Gedichten, aus Bildern bestehende homerische Gesänge, wenn man es kitschig ausdrücken will, nichts anderes, und das schnapp mit dem Paul Sharits hat es möglich gemacht, und - und das ist der Punkt: etwas anderes, womit ich mit mir identisch hätte sein können, hatte ich nicht - hatte ich nie, kannte ich nicht, konnte ich mir nicht erwerben. Und das war bei dem Fassbinder nicht anders, keine Ahnung wie das Muster bei ihm aussah, es läßt sich zwar denken, es hatte gewiß mit dem Adenauermief zu tun und, kann gut sein, ebenfalls einem Gedicht von Brecht, ein guter Kandidat wäre jenes "denn die Verhältnisse, die sind nicht so", bei dessen Singen man sich so großartig fühlt, in einem drehenden abgrundtief heiteren Gefühl, das einen direkt ins Böse ziehen will, es gefällt einem, man kokettiert damit; und manche ziehts dann hinab ins Böse, weil man sich bei diesem Gezogen werden so großartig fühlt: ja da muß man sich doch einfach flachlegen - und dann hat er einen Film gesehen und da hat es auch bei ihm schnapp gemacht, und das hat er in seine Filme verwandelt - und wenn ich vorhin etwas gegen Fassbinder sagte, kommt es aus einer beinahe manichäischen Abneigung heraus, nicht weil ich ihm sein schnapp nicht gönnte, oder seinen Erfolg, Herzog zum Beispiel gönne ich jeden Erfolg --- es hängt paradoxerweise beides an Brecht, es ist frühester Brecht gegen den nur ein paar Jahre späteren, der Wald- und Wiesenbrecht gegen den Indoktrinierten und Indoktrinierenden, in der gleichen Person fast eine manichäische Alternative: Gut gegen Böse, eine fast fundamentale Antipathie. Und das ist durch keinen Respekt vor den Toten wegzuwischen, und vermessen und beleidigend ist das auch nicht, ich wollte jemand würde so scharf über mich schreiben, ich bete darum, um eine Position im Kraftfeld zwischen Gut und Böse, nicht diese Sülze von einem Trucker in den USA, oder Er bemüht sich, Verfahren des Amateurfilms in seriöse Formen zu übersetzen, oder Er strengte sich an bis er starb, scheiß drauf, nichts als schnapp hat es gemacht und man hat nichts anderes, Fassbinder hatte auch nichts anderes als sein eines entscheidendes schnapp, vielleicht zwei, man sieht es seinen Filmen an, denen unserer ganzen Generation übrigens, irgendeine stupide Besessenheit ist darin, ein zwar immer etwas anders gelagertes aber dann jeweils immer gleiches schnapp, bei jedem von uns, monoton idiotisch und dumm, Herzog, Wenders, Schroeter, Praunheim, alles Gleichaltrige, nimm wen du willst: wenn er einiges mit der Form vorgehabt hat, immer die gleiche Monotonie - ein paarmal hat Fassbinder versucht, sich davon zu lösen, es ist ihm nicht gelungen, schnapp, schnapp, schnapp, snuff, da hat er sich immer mehr an diesen Mief der Adenauerzeit festgehalten, weil der zu seinem schnapp dazugehörte, wie an einem von diesem Mief aufgeblasenen Rettungsring, aber wenn man etwas genauer hinguckte beim Erwachsenwerden, war es da gar nicht so schlimm mit dem Mief, wie man sich das immer eingebildet hatte, es war gar kein Mief, nur ein ganz banaler Wiederaufbau-Geruch, und deshalb war auch keine Luft in diesem Rettungsring, oder der Rettungsring war noch von vor dem Krieg oder sogar noch von vor dem vorigen und verrottet, die Dialektik, der dialektische Materialismus, wie die verkorkste Schwimmweste auf dem Dampfer meines Großvaters, durch die ich beinahe das Schwimmen nicht gelernt habe, ha, schnapp, schnapp, schnapp, und dann snuff snuff snuff, und dann war es aus, so war das mit diesem Fassbinder. Ich habe keine Lust, wie dieser Fassbinder zu verrecken, ich hoffe, daß ich weiter komme, und jetzt hole ich mir einen Riesen-Schnapps und trinke auf diesen Fassbinder, Prost, auf dieses Markopoulos zufolge dumme Schwein - sah er nicht wie ein Fisch aus? Mit seinen vor Schlauheit dumm glotzenden Augen? Doch seine Getriebenheit, wenigstens die kann einem was sagen, und jetzt bin ich sogar ein wenig mit ihm versöhnt, wenigstens hat er was von sich gezeigt. Ich weiß auch nicht, warum ich mich über ihn so aufrege. Vielleicht war dieser Fassbinder ja auch gar kein Wald- und Wiesenjunge, vielleicht kam er von einem anderen Stern.

***

Selbstverständlich muß Kunst nicht gut sein, ich meine im moralischen Sinne. Aber darf sie böse sein? Nicht nur bei meiner momentanen Aufgeregtheit eine verworrene Materie. Fast unmöglich sogar, darüber mit jemandem zu sprechen, ich meine einem Künstlerkollegen; nur von Idiot zu Idiot geht das, von Oberschüler zu Oberschüler konnte man das noch, mit Illa oder Ingeborg, aber wenn man da über das Böse sprach gings mehr ums Ficken, die Erbsünde bloß im Grunde, das ist abgehakt. Selbstverständlich ist das Böse erlaubt, sonst stinkt das Unbefleckte zum Himmel, ohne Baudelaire, Genet und Artaud ist Kunst nicht mehr zu haben, komisch: alles Franzosen; bei de Sade ists schon weniger leicht, das läßt sich heutzutage bloß noch in Leder-und-Peitschen-Partygewäsch umkreisen, oder in einem fürs Kreative bedeutungslosen Ruf nach Freiheit der Kunst in journalistischer Manier herauskreischen - es gibt aber auch eine minderwertige Bosheit, die man als einen Feind der Kunst bezeichnen könnte. Ein Selbstgänger ist das bei der minderwertigen Bosheit der Gleichgültigen, der Karrieristen, der Politkommissare, der gewöhnlichen Firmenchefs, deren unternehmensverwaltender 20-Stundentagsheroismus von Stumpfsinn oft nicht mehr zu unterscheiden ist, vieler Kunsthistoriker sogar, für die allesamt das sogenannte Kreative an der Kunst nur eine von hunderten Spielarten menschlicher Schwäche ist, die sie zum Erreichen ihres Karriereziels benutzen können: diese Art Bosheit kann man in ihrer Minderstwertigkeit in diesem Zusammenhang gleich ganz vergessen - da sie das Problem gar nicht berührt, könnte man mit denen sogar darüber ganz vernünftig reden, von Mann zu Mann gewissermaßen. Mord? Ja mag sein, daß Mord die feine Grenze zum relevant Minderwertigen zieht, wie bei Becher und Lucácz, ein wirklich schweres Verbrechen, für das sie nur selbst verantwortlich waren, und das sie im Inneren so sehr deformierte, daß sie nicht mehr zum gutartig Kreativen kommen konnten. Sie werden dann Kultusminister der DDR (überhaupt erstaunlich viel Mörder unter den Kommunisten, Privatmörder wie Mielke oder dieser Becher, der seine Geliebte ermordet hat wie kürzlich jener französische Winkelphilosoph seine langjährige Frau) - die sind dann keine Wald- und Wiesenjungs mehr, die fühlen sich dann als was Besseres; und ich glaube dieser Fassbinder war auch so einer, Brecht auch, sie sind wohl nicht so weit gegangen wie dieser Becher, aber sie fühlten sich wohl als Mörder und mit ihrem ‘doch die Verhältnisse, die sind nicht so!’ hat man das irgendwie in den Griff gekriegt, gelegentlich mit einem sich bestätigenden selbst im Nüchternen besoffenen Lachen, ha ha ha! Von da an waren sie was Besseres als diese Wald- und Wiesenjungs, zu denen sie nicht mehr gehörten. Ja, damals mit den beiden Mädchen in der Baracke, da hätte auch ich so einer werden können, da hatte ich einen Punkt zu fassen, dann wäre ich jetzt womöglich auch ein Großer, hätte mir den Vater ganz einverleibt, dann hätte ich jetzt Ehrgeiz, würde ich mir ein eigenes Theater bauen wollen, würde ich hunderte in meine minderwertig böse Geschäftigkeit hineinziehen wollen, würde ich einen Feldzug gegen die Wald- und Wiesenjungs anzetteln, würde sie nach Sibirien schicken, in die Wälder und Wiesen, wo sie hingehören, da sollten sie endlich mal sehen, wie es sich so lebt in Wäldern und Wiesen, in solchen Verhältnissen sollten sie mal ihre Gedichte machen, ha ha ha! Der Fassbinder war natürlich die noch liebenswürdige Variante davon, ein liebenswürdiger Bauernbursche, er ist nicht ganz so weit gegangen, aber ein bißchen was von so einem Mörder war an ihm, vielleicht hat mir das an ihm gestunken. Komisch: es gab nur einen einzigen amerikanischen Dichter unter den Beatniks und ihren direkten Nachfolgern, den ich nicht mochte, den ich von innen her und ganz instinktiv nicht mochte, jeden Satz von ihm lehnte ich ab, jeder Satz schien mir künstlich, nicht richtig empfunden, irgendwie verbogen, nicht einmal aufrichtig in seiner Verlogenheit, nichts schien zu stimmen, und dann erfuhr ich irgendwann, daß er ebenfalls seine Frau umgebracht hatte, sehr seltsam, das Ganze. Und auch seltsam, daß man mit niemandem über diese Grenze vom Guten zum Bösen sprechen kann, man gilt dann als verrückt, als jemand mit einem religiösen Tick, als wäre diese Grenze etwas zwar Vorhandenes, in einem aber Unverrückbares, etwas zu einem Unverrückbaren Gewachsenes, über das man sich nicht mehr einigen kann, über das zu reden sich nicht mal mehr lohnt, weil man zu keinem Kompromiß gelangen kann. Deswegen brechen manchmal Kriege aus.

Und noch eins: gelegentlich passiert es, daß man auch ohne so einen mörderisch unbedingten Siegeswillen in einer Gruppe zur Nummer eins aufsteigt, teils aus eigener Anstrengung, in der man die anderen aus dem Auge verloren hat, teils weil jemand die Stadt verläßt, und du dich plötzlich in der Chefsituation wiederfindest - die Situation, wo man sich eigentlich ein Theater bauen müßte, wenn man das Zeugs in sich hat. Ich möchte mein Argument jetzt nicht glorifizieren, aber beobachte an mir, daß sich mein Interesse dann stets in ein anderes Gebiet verschob, wo ich den Aufstieg zur Nummer 2 wieder neu in Angriff zu nehmen vermochte. So denke ich jedenfalls jetzt, aber wie gesagt, es ist eine verworrene Materie, mag sein, daß andere das in ganz anderer Form erfahren und kennen.

Das Ganze stinkt auch ein bißchen nach Rechtfertigerei des geborenen Verlierers. Aber warum denn nicht: Haben Sie sich überhaupt schon einmal klargemacht, wieviel Pleiten hier herumlaufen, wie viele Versager, das Land wimmelt doch nur so davon. Und warum? Ganz einfach: damit sie aufsteigen können. Weil die Menschheit nämlich noch nicht am Ende ist, weil das meiste noch vor ihr liegt, wir haben es nur noch nicht begriffen. Wir haben noch einiges zu erwarten!

Ach, selbst das klingt nach Rechtfertigung, deshalb komme ich lieber wieder auf die Zeit zu sprechen, als ich noch Sieger und Verlieren in einer Person war. Ein sehr interessanter Zustand übrigens, wenn man etwas ist und gleichzeitig sein Gegenteil sein könnte, wie in unserem Beispiel gut und böse. Auch eine mittelalterliche Errungenschaft, glaube ich, die Interessantheit dieses Zustandes bemerkt zu haben, es steht am Beginn der sogenannten modalen Logik. Wenn etwas schön sein kann und gleichfalls nicht schön, dann - so meinte man damals folgern zu dürfen - könne das Schöne auch zum Nichtschönen werden und umgekehrt. An diese, bin ich recht informiert, einem gewissen Peter Aureoli geschuldete Folgerung, einem Zeitgenossen des mit der unbefleckten Empfängnis verbundenen John Duns mit dem Beinamen Scotus, hatte man bis dahin nicht gedacht, man hielt Gottes Schöpfung für etwas schweigsam in sich Ruhendes. Zu diesem Zeitpunkt visierte man auch in Kunst plötzlich das Schöne an, und hoffte, es aus etwas ganz unschönen, aus feucht verschmierten Farbpigmenten nämlich, aus bloßem Pulver erreichen zu können, oder, drastischer formuliert: die Schönheit aus Scheiße.

Was waren das also für Spiele, in denen ich Sieger und Besiegter war? Vorher muß ich aber noch erwähnen, daß ich mir momentan gar nicht wie ein Zweiter vorkomme, sondern wie ein total Besiegter, was daran liegt, daß etwas Neues eingetreten ist: ich habe vermutlich das Ende meiner Leistungsfähigkeit erreicht, ich kämpfe zwar noch darum, weiter nach vorne zu stoßen, aber die Hinweise, daß es nicht gelingen wird, häufen sich - ich bin also schon dabei, wieder zu Scheiße zu werden. Nun, das ist weniger schlimm als es klingt, in Gottes Schöpfungsplan ist es das allertäglichste Ereignis, das biblische Aus Erde werdet ihr geschaffen und zu Erde werdet ihr werden spricht von nichts anderem, aber es fühlt sich nicht gut an. Denken Sie nicht, daß ich hier frei assoziiere und ohne System von einem Gedanken zum nächsten hüpfe. Es hat schon System: hier geht es um Führerschaft, und das ist eine sehr delikate Angelegenheit. Man könnte zum Beispiel der Ansicht sein, des Peter Aureoli Einsicht in die Möglichkeit des Umschlagens von Qualitäten, vom Unschönen etwa zum Schönen, hätte die dramatische Entwicklung der Malerei am Anfang des vierzehnten Jahrhunderts begünstigt oder sogar ausgelöst, in Verbund etwa mit dem Konzept der unbefleckten Empfängnis - solch zeitliche Abfolge hat etwas Bestechendes: erst der Gedanke, ihm folgt die Tat, der Traum fast aller Philosophen. Im Falle der Kunst scheint dies freilich nicht immer zu stimmen, Duccio und Cimabue waren nämlich ein paar Jahrzehnte vor Duns Scotus und Peter Aureoli dahin- und überdies zu einer Meisterschaft gelangt, für welche die Philosophie noch einiges mehr, nicht nur an Zeit, benötigte. Die Kunst, natürlich nicht jede, geht überhaupt der Philosophie meist ein paar Dekaden voran; in diesem besonderen Falle fühlte man wohl, daß die Verwandlung ins Schöne möglich war, bevor man es richtig denken konnte, wie in den aufgewühlten Sternenhimmeln van Goghs bereits die durch Materie gekrümmten Gravitationsfelder Einsteins deutlich sichtbar waren oder bei den Impressionisten die bald fälligen Quantentheorien, denen auch noch die Meisterschaft fehlt. Das galt jedenfalls bis kürzlich. Ich weiß nicht, ob es auch heute noch gilt, der allgemeine Eindruck ist, glaube ich: eher nicht.

Erwähnte ich schon, daß das, wovon ich schreiben werde, so traurig sein wird, daß ich es kaum aufschreiben mag? Und alles, was ich in meinem Leben unternahm, war: einen Bogen um jenes Traurige zu machen - nur deshalb habe ich mich mit Sachen abgegeben, die heiterer sind, Überlegungen wie die von gerade eben zum Beispiel. Ja, daran erkennt man heutzutage ein heiteres Gemüt. Und nein, ich assoziiere nicht, aber ich erkenne, wie leicht mir auf einmal fällt, im Leben hin und her zu hüpfen und stelle dabei an mir plötzlich eine Meisterschaft fest, vielleicht ist sie nur eingebildet, die Finger auf wesentliche Stellen zu legen, daß ich wirklich von mir erstaunt bin: ab und zu mich an einer Boje von Aufgeschnapptem orientierend, von hell roter Farbe sonderbarerweise für mich, die auch im Dunklen leuchtet, woran man Halt sucht, woran man Halt findet - ich bin noch immer kein guter Schwimmer, das bißchen Spaß, was ich beim Baden mit der Schwimmweste fand, beim Planschen um eine schwimmende Kirche, hat es mir verdorben. Aber doch schwimme ich jetzt, schwimme elegant von einem zum andern, vom Beliebigen zum unversehens Unbeliebigen, daß mir ganz wohl wird dabei, vielleicht bin ich ja doch noch gar nicht dabei, zu Scheiße zu werden: zum Beispiel habe ich bisher nie dieses Nicht-Nummer-1-sein-Wollen fassen oder verwurzeln können. Ich bin verblüfft über die Leichtigkeit, mit der es jetzt gelingt und fürchte fast, mit der gleichen Leichtigkeit könnte ich nun sogar den Bereich, den das Wort Vater im Leben eines Mannes umfaßt, berühren. Bislang hielt ich das schlicht für unmöglich, und so denke ich plötzlich, daß ich - unterdessen ich subjektiv in letzter Zeit eine Serie bitterster Niederlagen habe einstecken müssen - während dieser Niederlagen unversehens zu einem der klügsten Männer der Bundesrepublik gewachsen bin: ich weiß, das klingt größenwahnsinnig, aber, wie gesagt: nicht der Klügste, nur der Zweit- oder Drittklügste - da macht natürlich die Beschreibung meiner Jugend auch für mich auf einmal Sinn. Es geht natürlich sehr wohl um Autorität. Aber bevor ich darauf eingehe, muß ich noch sagen, wie froh ich bin, daß ich damals kein Tagebuch führte, daß kaum Fotos von mir existieren, weil es in jenem Alter nicht auf die Fakten ankommt, sondern auf dasjenige, was wir von ihnen damals hielten; und das unterscheidet sich nicht nur von dem, was wir heute davon halten, sondern auch von dem, was, wie auf Photos vielleicht absehbar, wirklich geschah. Dabei sind keineswegs nur die Meinungen interessant, die wir im Moment des Auftauchens solcher Fakten haben, in viel größerem Maße sind es spätere Meinungen, wenn wir etwas auf Grund von halbverstanden vergangenen Ereignissen beurteilen, und die sonderbare Balance dazwischen kann ein kindliches Tagebuch nicht fassen. Mit 17 habe ich einen Bildungsbericht geschrieben - das mußte man damals, bevor man die Schule verließ -, daran ist interessant, daß er fast nichts von dem, was ich jetzt aufschreibe, enthält: nichts von evangelischer Jugend, nichts von den Pfadfindern, nichts von Illa und Ingeborg. Dafür entdeckte ich im gleichen Ordner, worin ich ihn fand, -zig Seiten Exzerpte aus Marguerite Duras Drehbuch zu Hiroshima mon Amour. Mir sträuben sich die Nackenhaare, wenn ich daran denke, daß ich mich kurz vor oder nachdem ich diese Notizen machte, auf einem Sportfest im Heidesand im Wettkampf mit acht- bis zehnjährigen Jungs maß, um meine Anwartschaft auf eine Rudelführerschaft zu bekräftigen. Solche Gleichzeitigkeit kann doch nicht sein - wenn man das bemerkt, wird gradezu absurd, sich für einen der klügsten Menschen der Bundesrepublik zu halten. Andererseits erzählt mir meine Erfahrung, daß Klugheit und das Erreichen einer gewissen Weltgewandtheit einen nicht davor schützen, die merkwürdigsten Sachen zu tun, nicht nur auf sexuellem Terrain, da hört man es bloß immer wieder, neulich zum Beispiel die irrsinnige Geschichte vom Herausgeber der Schriftrollen vom Toten Meer, den man dann in ein Irrenhaus sperrte . . . - aber ich will Sie nicht mit belanglosem Klatsch langweilen. Nehmen wir zum Beispiel doch mal an, ich gehörte jetzt zu den hundert klügsten Männern der Bundesrepublik - man sieht, meine Ansprüche steigen und sinken, verwandeln sich vom einen zum anderen, ohne daß darin irgendein Sinn zu entdecken ist - so wird man das kaum erkennen, wenn ich hinter gewissen Frauen her bin. Im Gegenteil, ich verhalte mich dann oft gröber und dümmer als der dümmste Trottel - soviel, das war natürlich ein noch viel dümmlicheres Argument (aber grade das belegt es vielleicht um so besser), zum Thema Gleichzeitigkeit. Bei Sexualität hört ja ohnehin jede Plausibilität auf. Auch dieses Pfadfinderspiel hatte schließlich mit Sexualität zu tun - schon wenn ich an die Namen der Gruppen denke: wie hießen sie nicht alle: Schweinlein, Füchslein, Biberschwänze, und die Rudelführer nannte man Sauführer, Fuchsführer, Biberschwanzführer oder so ähnlich, nicht nur im Deutschen, wie ich neulich erstaunt feststellte, und dieser Bursche Knaak, der mich zu seinem Nachfolger aufbaute, hatte sogar eine homosexuelle Neigung.

Und gleichzeitig (oder sogar noch früher) sehe ich mich in der Harburger Leihbücherei, wo ich mir den ‘Fremden’ von Camus auslieh; später hab ich mir das Buch selbst gekauft, meinen Trost im Mutterhaß: "heute ist meine Mutter gestorben" - hieß es nicht so? Ein großer Beginn - und dazwischen: die Pfadfinder; mein Gott. Und der Moment des Gebets vor der Bücherwand, die auch dieses Buch enthielt, kurz nach dem verweigerten öffentlichen Gebet: whow! Sie verstehen nicht, wovon ich rede? Ich glaube der Riesenschnapps auf diesen Fassbinder hat angefangen, mich besoffen zu machen, ich glaub ich nehme noch einen. Auf den großen Helden der Fische, den es ins Elend getrieben hat, damit er dort ein Held werden konnte! So ein Aufbruch ins Äußerste geschieht wie beim Fassbinder nur in Gruppen, sie finden sich zusammen, um irgendwohin zu gehen. Nur wer eigentlich hoch hinauswollte, kann fallen, aber man fällt auch in Gruppen, wobei sich einzelne zuammenfinden, denn schließlich muß man Nachkommen haben, um im Elend sein Glück zu machen. Sie finden solche Sichtweise pedantisch? Gewiß. Aber es ist Schock in uns, in allen von uns, fest eingeschrieben in die Gene: wohin habe ich mich verirrt? Was ist mit mir geschehen? Bin ich am Verrecken? Ein Schock so stark, daß er die Gene verändert hat! Und nicht nur einmal, wie im Fall des von uns angesprochenen einen Fisches, nein, Millionen Mal, Gott würfelt nicht! Diese Akte führten nämlich nicht zu einer gehobenen Wahrscheinlichkeit, die Art zu erhalten, sie widersprachen allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie - und das ist vielleicht das Verblüffendste am Leben, wenn man so will am Universum sogar: während wir denken, es nähme allmählich einen Zustand maximaler Wahrscheinlichkeit an, bewegt sich das Leben ganz im Gegenteil aufs Unwahrscheinliche hin! Es tunnelt geradezu aus dem Wahrscheinlichkeitstrog heraus, worin wir die Welt so sicher verankert wähnen; ein Tunneleffekt, der den infinitesimalen der Quantentheorie um Zehnerpotenzen in den Schatten stellt - in den Schatten des Lebens selbst. Der Mensch kam nicht mit einem wahrscheinlichen Wurf in voller Güte zum Vorschein. Die Schöpfung mag im Paradies begonnen haben, aber entfaltet hat sie sich im Elend, vom Moment an, wo Adam mit seiner Gefährtin in die Wüste geschickt wurde, um da zu überleben, vor Angst und Tapferkeit schlotternd - wir alle sind Nachkommen von Asozialen, eine ganze Kette von Asozialen, von Verrückten und Unwahrscheinlichen, von fast Untergehenden, von Untergehenden, von Heraustunnelnden, die nur zu einem in ihrem Untergehen noch die Kraft hatten, bevor sie verendeten in diesem Elend: sich zu vermehren, zumindest einen Nachkommen zu haben: mich, und nicht nur mich - auch Sie; und nicht nur Sie, die ganzen Menschen sind aus dem Heldentum dieser verzweifelt im Elend Umgekommenen hervorgegangen, und nach der Erfindung des Feuers durch einen anderen verzweifelt Untergegangen, sogar die Menschheit. Versager und unprofessionelle Amateure von Anfang an, wir stehen am Ende einer ganzen Kette von unglaublichen Helden, von Untertunnelern jeder Wahrscheinlichkeit, die ins Elend geraten waren, und genau dahin wollen die Besten von uns erst auch mal wieder hin.

Sie haben das Gefühl, ich würde mich von philosophischen Fragestellungen erdrücken lassen, als stünde über mir, über der zarten Pflanze meines Schaffens ein entsetzlich massiver Elfenbeinturm? Als laste über dem zärtlichen Pflänzchen meiner sogenannten Kreativität und seinen kümmerlichen Resultaten das Gewicht eines fast schon wie Beton sich anfühlenden Elfenbeinturms? Mag sein, mag sein, vielleicht weiche ich ja deshalb jetzt sogar in diesen Primitivst-Biologismus aus, wo es weder zarte Pflänzchen noch Elfenbein gibt. Mag ja sein, daß sich dieser heldischen Elendskette auch einmal ein im gängigen Sinne Erfolgreicher beimischte, Auffrischung des Bluts nennt man das. Sie glauben mir nicht? Sie nennen das eine dümmliche Inversion von genetischen Rassismus? Survival of the Unfittest? Nein sie waren die Fittesten, aber man konnte es nicht erkennen. Niemand war fähig, das auch nur im Ansatz zu erkennen. Sie sind fast verhungert, jahrhundertelang fast verhungert, die Voreltern Michelangelos, von Beethoven, Napoleon und Lionardi. Die Gutgelaunten, die Reichen, die im Moment Erfolgreichen, sie alle haben in der Kette wirklichen Erfolgs nichts zu suchen; nur wenn sie ins Elend gerieten, wenn sie als Frauen vergewaltigt wurden, oder wenn sie sich ins Abwegige begaben, wenn sie einen Seitensprung riskierten, nur wenn sie momentane Versager waren, denn nur da trifft man Versager; diesen Gesunkenen verdanken wir freilich unsere Heiterkeit, ihnen verdanken wir das Lachen, das Parfüm der Liebenswürdigkeit; diesen Versagern von Lachern, diesen Versagern von Liebenswürdigen, aber keiner, der nicht ins Elend geriet, steuerte bei; denn die Evolution verlief hastig, und bisher hat den Menschen noch nichts überholt, weder in seiner Genialität noch in seiner Gemeingefährlichkeit, nie gab es Zeit zu verschnaufen, nicht einmal zehn Generationen - von einem goldenen Zeitalter, worin man vielleicht verschnaufte, von Piero de la Francesca, kann nie die Rede sein. Nur in der Fortpflanzung befreit man sich von diesem Sich-wie-ein-Versager-Fühlen, denn wir sind ja eine ganze Kette von Versagern, alle unzufrieden und nur im Gehirn der Nachkommen Helden, und nicht einmal das - nur beim Ficken fühlt man sich von Grund auf anders, ein wenig vielleicht noch beim Nahrungsbeschaffen, bei erfolgreichem Sammeln und Jagen, bei der erfolgreichen Kinderaufzucht, bei der erfolgreichen Landeroberung, aber das sind nur mildere Formen, das alles gilt nur der Täglichkeit des Überlebens; der einzig wirkliche Triumph, der den Helden der Evolution beschert war, ihre einzige wirkliche Freude empfinden sie im Moment der Fortpflanzung, nur da können die meisten von uns wirklich Entlastung in ihrem Versagersein finden, freilich nur unterdessen. Selbst Geld und riesige Eroberungen reichen da nicht ran, jeder Firmengründer weiß, daß sein Haus wie das der langweilenden Buddenbrooks enden wird, das würde einen schon bei der Eroberung melancholisch stimmen, wenn man in seinem aufbauerischen Heroismus nicht so stumpfsinnig gradlinig wäre.

***

Ich gerate auf Abwege. Eigentlich wollte ich nur noch den Pfarrer erwähnen, der plötzlich die Gruppe der evangelischen Jugend übernahm, weil unser bisheriger Führer sich in die Stadt absetzte. Der neue Pfarrer war ein junger, dicklicher, sichtlich gutgelaunter Mann, der unter - Mönchen! gelebt hatte, wie ging das als protestantischer Pfarrer? Waren es Franziskaner? Wie jener Duns Scotus einer war, von dem ich jetzt etwas mehr weiß, ich habe mich nämlich inzwischen ein wenig genauer informiert, in meinen Notizen, man vergißt ja fast alles und schwebt bei derlei selbst bei einiger Bildung schrecklich im Vagen. Bislang war von ihm nur in Verbindung mit unbefleckter Empfängnis die Rede, vor allem in ihrem Bezug auf den Aufschwung der europäischen Kunst, von jener seltsamen Korrelation, wobei ein Nebensatz streifte, daß der gleiche Duns Scotus, welcher die Möglichkeit der unbefleckten Empfängnis postulierte, auch die Freiheit für uns Menschlein aus dem Nichts der Schöpfung hervorgezogen habe, etwas kaum weniger wichtiges als die Erfindung des Feuers. Das mag man bezweifeln. Ich glaub ich bin schon besoffen von jenem Erfinder des Feuers. Das Argument lautet stark verkürzt (in Wirklichkeit füllt so etwas bei den Scholastikern ganze Bände, bei welchen man am Ende nicht mehr weiß, was am Anfang gestanden hat): er behauptete, die unbefleckte Empfängnis sei möglich, weil Gott der Herr, Schöpfer des Himmels und der Erde, diese Schöpfung aus freiem Willen geschaffen habe; niemand habe ihn dazu gezwungen, niemand habe ihm Bedingungen setzen können, er habe es in vollkommener Freiheit getan. Und auf gleiche Weise, aus freiem Willen, in unbegrenzter Freiheit, vielleicht sogar übermütig, habe er auch seine zweite Schöpfung zustande gebracht: seinen Sohn, der er selbst war, und zwar in einer unbefleckte Empfängnis, weil es ihm so gefiel. So weit, prost, nichts als die Windungen eines Klerikergehirns, wie sie schließlich im kirchlichen Dogma mündeten, die Madonna wäre im Moment ihres Empfangens vollkommen unversehrt von der Sünde Adams, und zwar durch die Gnade, die der allmächtige Gott über ihr ausgestreut hatte, durch das Verdienst Jesus Christi, des Menschenretters - dann aber zog jener Duns Scotus (ein gewisser John aus der Stadt Duns in Schottland, den es zwar nicht ganz explizit von den ins Nichts führenden, einen erkältenden Stränden des Nordens ins Südlichere, ins Wärmere, zog; dafür aber immerhin von einer sich nicht weit von jenem Duns gelegenen Örtchens namens Coldstream äußernden Kühle über das gelehrte Oxford und die Universität zu Paris ins heitere Köln, wo er 1308 als eine Art Theologieprofessor, dem man unterdessen in Paris freilich wegen Ketzerei den Prozeß machen wollte, zweiundvierzigjährig - prost! - wieder zu Erde wurde, ein Meister des sogenannten quodlibet; wobei ihn nicht nur Studenten nach allem und jeden fragen durften, sondern auch zum Teil höchst mißgünstige Kollegen, und er, so gut er vermochte, ihnen gelehrt klingende Antwort gab) einen erstaunlichen Schluß - und jetzt verlange ich von Ihnen, trotz meiner Besoffenheit, Ihre ungeteilte, angespannte, Ihre an die Grenzen Ihrer Denkfähigkeit langende, volle Aufmerksamkeit:

Da Gott aber auch Adam in völliger Freiheit erschuf, und damit die Menschen - aus freiem Willen und von niemand dazu gedrängt, aus Erde und nach seinem Ebenbild - beherrschten die Menschen fortan nicht nur gemäß seinem Befehl die Erde, sondern verfügten sie ebenso über Gottes Fähigkeiten; insbesondere über den freien Willen und die Fähigkeit, damit etwas zu erschaffen.

Und das war der Punkt, an dem die Entstehung der europäischen Kunst - Duccio, Giovanni Pisano, Cimabue - mit den Denkanstrengungen des Duns Scotus korrelierte. Und jeglicher, der den freien Willen (philosophisch ausgedrückt, die sogenannte Kontingenz) leugnete, solle solange gegeißelt und gebrannt werden, bis er zugibt, daß es nicht dasselbe ist, gebrannt oder nicht gebrannt zu sein, gegeißelt oder nicht gegeißelt zu werden; bis er - aus freiem Willen und in voller innerer Freiheit - endlich darum bäte: jetzt nicht mehr gefoltert zu werden! Weil er nämlich eingesehen habe, daß die Welt nicht nur ein uniformes Jammertal ist, sondern daß man sich in ihr in gewissen Situationen sehr wohl frei entscheiden könne - und dann solle man, aus eigenem freien Willen wiederum, mit der Folter aufhören, und ihn in die Freiheit entlassen; mal sehn, was er damit anstellt . . . So, jetzt können Sie ruhig wieder abschalten, oder in einen anderen Gang schalten, oder wie immer Sie ihr entspanntes Lesen nennen mögen, nach diesen zwanzig Sekunden des auf die Folter-Spannens. Ich nehme an, es kam nichts dabei heraus - wie wohl bei jeder Folterei. Irgendwo klingt das auch in meinen Ohren plötzlich hohl, vielleicht wegen der großspurigen Ankündigung - das tut man nicht, das darf man nicht, Entschuldigung. Kennen Sie alles schon? Na, na, das will ich bezweifeln. Dieses schlagende Argument wird immerhin inzwischen selbst von denen berücksichtigt, welche die Freiheit unterdrücken, indem man solche, die dagegen aufbegehren, so lange in den Wäldern und Wiesen des Gulag foltert, bis sie zugeben wollen, daß es keine Freiheit gibt und sie keine Gedichte mehr schreiben, wo dann sogar die Silbernsten von uns die Stimme verlieren, und auf einem Grab irgendwo in Sibirien nur noch zu vernehmen ist: Was ich sage, sage nicht ich.

Jener kühl-schottische Ort Duns hat übrigens noch eine zweite Berühmtheit hervorgebracht, eine gerade zu meiner Zeit mit Ingeborg und jener volumenfüllenden Carla um ein Immenses viel größere - den Rennfahrer Jim Clark, der sich damals an die Eroberung der Weltmeisterschaft machte, was ihm 1963 auch gelang, freilich bloß um 1968 am Hockenheimring den Unfalltod zu sterben, gar nicht mal weit von dem heiteren mich zu einen weiterem Schnapps auffordernden Köln (Schluß erst mal mit diesem Schnapps, es ist ja zu idiotisch, sich bloß wegen diesem Fassbinder zu betrinken, ich kenne tausend bessere Gründe, Schluß jetzt mit diesem Fassbinder, genug, genug . . .) - diesen neueren Sohn der Stadt Duns hat die vom Namen Coldstream versprühte Kühle, statt in die Theologie und den Willen zu Gott, wohl aus freiem Willen zu dem verlockend täuschenden Trost heißer Motoren getrieben. Diese leider nur banale Parallele, in welcher sich die Schlagfertigkeit im quodlibet des einen in die Reaktionsgeschwindigkeit des anderen beim Rundendrehen verwandelt, läßt sich freilich auch als symptomatisch für unsere Zeit begreifen, in der nicht nur Fußball- und Tenisspieler als genial gelten, sondern bald wohl auch die Rennfahrer, und vermehrt noch ihre Automobile.

Sie wenden ein, daß meine Filme von vielen gleichfalls als Tortur empfunden werden und man als Zuschauer oft sagen will: Genug, genug, das ist genug! Und daß ich dann immer noch weiter ginge, bis mir das angepackte filmische Unternehmen zu Ende zu gehen scheint? Nehme ich dem Zuschauer da nicht seine Freiheit? Bis was eigentlich in diesem Unternehmen zu Ende zu gehen scheint? Ein schwieriges Problem, die genaue Länge von etwas, nicht nur bei der Folter. Diese Filme sind aus irgendeinem Instinkt tatsächlich so angelegt, daß sie zu lang erscheinen, ich arbeite sehr sorgfältig an diesem etwas zu langen, eine Spur von Tortur auch für jene, die sie lieben wollen; so daß sich der Zuschauer darin überlegen muß, warum er sich das überhaupt ansieht; daß er ins Grübeln kommt, was dieses Lieben-Wollen eigentlich heißt, daß er also seine spezielle, hochtrabend ausgedrückt, existentielle Verzweiflung erfährt, und sich, indem er sie mit mir gemeinsam überwindet, ein wenig ändert, zum Besseren, zum weniger Minderwertigem in Bezug auf das Böse, wie ich komischerweise denke. Auch ich selbst ändere mich mit meinen Filmen bei jeder neuen Projektion zum Besseren. Ich bin schon so gut geworden, daß ich gar nicht mehr weiß wo ich bin. Mag sein, daß sich die meisten dem heutzutage nicht mehr gerne aussetzen. Mag sein, daß sie damit sogar recht haben. Wenn mir persönlich 20 Sekunden für das Erkennen gereicht hätten, bei diesem schnapp, von dem ich da fasele, wenden Sie ein, warum mache ich Filme denn überhaupt länger? Dann brauchten sie doch nur diese 20 Sekunden zu dauern. Ach, leider sind 20 Sekunden Zeit nicht mit einem Kilo Kartoffeln vergleichbar, das ist noch viel fundamentaler als mit der Unmöglichkeit des Vergleichs von Äpfeln und Birnen, gespenstisch geradezu, wenn man darüber nachdenkt. Bis vor kurzem war Zeit nicht einmal transportierbar. Jetzt, und es kann sein, daß dies als eine der wesentlichen Errungenschaften unseres Jahrhunderts gelten wird, ist es möglich geworden - auf Film und in geringerem Maße auf Tonträgern. Aber erst eine gewisse Länge gab mir in jenem für mich wichtigen Film des Paul Sharits die Gelegenheit zu diesen von mir als so entscheidend erlebten 20 Sekunden, vielleicht waren es auch nur fünf (oder drei; oder Nullkommazwei - wie will das so ein Wissenschaftler eigentlich je messen?); und daß jener Film, er hieß Nothing, auch danach noch andauerte, gab meiner eingeschnappten Erkenntnis das entscheidende mehr an Gewicht. 20 Sekunden Zeit sind dummerweise nicht so einfach zu haben, wie man sich das als Buchhalter so vorstellt, am ehesten geht das mit solcher Knappheit wohl in einem Gedicht. Daß die zwanzig Sekunden Hochgefühl in einem längeren sich zwar gut anfühlenden, im Grunde aber sinnlosen Kontinuum Ähnlichkeit mit der Dauer von Hochgefühl und zeitlichem Sich-Erstrecken beim Sexualakt hat, dafür kann ich nichts, auch der sogenannte Orgasmus ist nicht ohne eine gewisse ihn vom Zweck her sinnlos umgebende Dauer zu haben, selbst bei Anja war das noch der Fall. Manche wiederum entdecken in Vor- oder Nachspiel den einzigen Lebenssinn. Ich meine das mit dem Sharits ohnehin nur als Metapher, in Wirklichkeit kann ich den Ort dieses Schnappens gar nicht erinnern, oder ich will es nicht, und wenn ich es könnte, würde ich es Ihnen vielleicht nicht erläutern, weil es in seiner Abseitigkeit wieder so elend kompliziert wäre, das es niemanden interessieren kann - die meisten haben bei ihrem Denken nur noch Geduld für diese 20 Sekunden, da soll es dann auch bei ihnen Schnapp machen, wenns geht 400 mal am Tag: erstaunlich, was die Leutlein vom Leben erwarten . . . Doch jetzt weiß ich es sogar wieder: es geschah in den Büroräumen des Filmclubs der Hamburger Universität, einem fast kahlen Keller unter dem sogenannten Philosophenturm, wo ein gewisser P.Adams Sitney vor vielleicht zehn Leuten um neun Uhr morgens 8mm-Filme vorführte, ein echter Prophet, eigentlich wollte ich gar nicht hin, so unattraktiv klang das, moderne Stummfilme, entlegener gings kaum, sogenannte ‘Songs’ von einem gewissen Stan Brakhage - diese Namen sagen Ihnen nichts? Das ist doch nicht meine Schuld. Diese ‘Songs’ dauerten sechs Stunden, da unter diesem dreizehnstöckigen Philosophenturm war es, auf gelegentlich am Fußbodenbeton scharrenden Holzstühlen, wo es Schnapp machte - wundern Sie sich noch, daß ich so gern in so vielschichtig philosophischem Ton über Filme rede? Und daß ich mir wirklich interessante Filme außerhalb des Untergrunds nur schwer vorstellen konnte? Ja, in Wirklichkeit verdanke ich diesem Stan Brakhage alles, dabei habe ich ihn, als wir uns später einmal in London begegneten, nicht recht gemocht, eine mißtrauische Künstlerexistenz wie wir alle; dabei verdanke ich alles diesem Brakhage, aber ich hab ihm dafür Tritte versetzt, ich übertreibe, aber das ist auch so eine Wahrheit, die man niemandem sagen kann, die niemand hören will . . . ja den Brakhage hab ich gehaßt, während ich Sharits liebte, ja Sharits liebte ich auch als Mann . . . Und meine eigenen Filme dann - nun, sie sind nicht schlecht. Manche sind sogar gut, ich meine jetzt im Sinne von innerer Qualität, sehr gut sogar manchmal; an manchen Stellen so gut, wie Filme nur sein können - ich mag sie, in ihrer verstockten Stummheit, sie sind mir lieb, ich hänge an ihnen, ich bin mit ihnen verwachsen, wie liebevolle Eltern mit ihren Kindern, könnte man sagen, aber ich will nicht mehr . . . ich will nicht noch mehr von diesen Kindern machen, es ist qualvoll, es ist mühsam, es kommt nichts dabei heraus . . . Und ich will noch woanders hin. Wohin? Wenn ichs nur wüßte; nein, ich will sie nicht wegschmeißen, ich will, daß für sie gesorgt wird, sie sind gut, manches davon gehört zum Besten, was es überhaupt auf Film gibt; ich hänge daran, ich kenne sie, ich habe sie viel Male gesehen . . . anders als bei einem fertigen Buch, das man als Autor nicht immer wieder lesen kann, ist das bei Filmen leicht, ich habe die besseren von ihnen hunderte von Malen gesehen, bei allen möglichen Projektionen, privat, öffentlichen, mit deprimierend wenigen Zuschauern und vielen, ich kenne auf den Kopien jeden Kratzer; ich weiß, wie sie früher ausgesehen haben, als sie frisch aus dem Kopierwerk kamen, kenne die Hoffnungen, die ich mit ihnen verbunden habe, weiß wie die Leute früher darauf reagierten, wie ich früher darüber redete; ich habe eine Unmenge von Nuancen in der Bedeutung ihrer Bilder wahrgenommen, wobei ich von den meisten nicht einmal weiß, ob sie in ihnen überhaupt enthalten sind, das war vielleicht das Wunderbarste an diesem ins Leben gehenden Prozeß, und doch sind sie Scheiße, wie alle Filme Scheiße sind, Scheiße, denn sie repräsentieren einen entsetzlichen Verlust . . . einen Verlust von - Hierheit, ließe sich sagen; ja das könnte man sagen: einen Verlust von Hierheit - ich will keine anderen mehr machen, am liebsten keine mehr machen - aber ich will sie auch nicht wegschmeißen; ich will sie zu was benutzen, sie zu anderem benutzen, vielleicht als eine Art Sprungbrett, denn sie sind mit mir verwachsen; ja als ein Sprungbrett, von dem aus ich irgendwo anders hinspringen kann . . . Wohin? Wenn ich das wüßte . . . jedenfalls raus aus diesem Verlust von Hierheit; in ein anderes Dasein - ach, auch alles zu große Worte, wie das vom ins Nichts führenden Strand im Norden . . . ah, Schottland. Als ich in Köln das Grab des John Duns besuchte - in einer nach den Kriegsbomben klinisch restaurierten Kirche, zwar franziskanisch aber im Grunde schon protestantisch in der Erscheinung - lagen dort Flugzettel herum, aus denen das bei katholischen Gelehrten übliche Kirchengewäsch über ihn zu vernehmen war - die Kirche hat dem Schotten zwar kaum verziehen, daß er die Freiheit zum Vorschein und damit sie zum Verschwinden brachte, aber sie hat ihn auf seltsame Weise akzeptiert, indem sie sich in seine unbefleckte Empfängnis geradezu verliebt und 1854 zum Dogma erklärt hat. Im Gegensatz zu Thomas von Aquin, dem dies für ein Geringeres zukam, wurde er nicht heilig, mancherorts immerhin selig. Auch John Duns war ein zu spät Dazugekommener.

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Von solch heiliger Sülze lassen Sie sich jetzt nicht beirren? Stattdessen wenden Sie weiter ein, daß mein Insistieren auf dem ‘Bitte fick mich!’ bei der Erregung meiner Lust, ebenfalls Ähnlichkeit mit einer solchen Folter habe, bloß daß des Duns Scotus Bitte hör auf! sich in ein Bitte fang an! verwandelt hat? Daß ich also im Grunde die gewöhnliche, die normale Existenz, die dem John Duns so lieb war, daß er sogar ein Wort für sie erfand, haecceitas - die Diesheit, die dafür verantwortlich sei, daß aus der Menschheit sich voneinander unterscheidende, die Welt wahrnehmende und sich an ihrer Vielfalt erfreuende Menschen entstehen können, wie es vielleicht am vorzüglichsten in den unglaublichen Tagebüchern des englischen Dichters Gerard Manley Hopkins ausgedrückt ist - daß ich diese Diesheit als Folter begriffe, als eine entsetzliche Folter in voller Freiheit und mit im Kreis herumsausenden Motoren, der man nur mit einer klaren Bitte um ein Fick mich! entkommen kann? Das mag sein. Mag sein. Vielleicht meine ich das gar nicht so, ich hab es ja nicht so plump ausgesprochen - aber ich bin dennoch nach dieser nicht von mir erwarteten Wendung erschüttert, bis auf den Grund meines Hierseins erschüttert.

Nabelschau? Sie nennen diesen Versuch eine ganz dumme, peinliche Nabelschau? Einmal habe ich einen ZDF-Redakteur über das Projekt eines meiner Kollegen so reden gehört: es wär nur Nabelschau, das sollte man nicht finanzieren, das dürfte man nicht finanzieren. Bei meinen eigenen Projekten konnte er dieses Wort nicht anbringen, ich schien ja für ihn das genaue Gegenteil davon zu machen, Bilder von verlorenen Wörtern, von der verlorenen Nabelschnur, wenn man will, dafür verfügte er gegenüber anderen in Bezug auf meine Arbeit vermutlich über ein ähnlich gehässiges Wort, wahrscheinlich ein noch gehässigeres, das brauchen die meisten dieser Redakteure. Ich bin freilich auch anderen begegnet. Aber obschon wir nur für die Zukunft leben - ich meine für die meisten von uns ist Vergangenheit doch etwas entsetzlich Minderwertiges, vor dem man sich schützen muß, um weiter leben zu können -, lohnt es sich nicht in die Zukunft zu denken, außer ins einigermaßen überschaubar Bevorstehende, bei irgendwelchen Projekten, in die man sich verwickelt, in die man sich verstrickt und worin man mit seiner Schlauheit irgendeine Art Ordnung schafft; aber der Blick ins Entfernte lohnt nicht, reine Träumerei, Wunschdenken, die Zukunft ist, wie nicht nur ein Kalauer sagt, immer anders als man denkt. Aber man kann ja auch nicht dauernd an seine Schlauheit denken, dann wird man verrückt: wie mache ich das beste aus meinem Bausparvertrag, wie vermeide ich die Kadenz in meinem Schlußakkord, wie vermeide ich ein Adjektiv, wie verwandele ich platte Verben in Behauptungen, wie stelle ich Gleichzeitigkeit in einem Nacheinander dar - man kann nicht ausschließlich an Arbeit denken, man kann auch nicht zur Abwechslung immer nur Spazierengehen, und so gerät man irgendwann an die Vergangenheit, gerät man an die Nabelschnur, gerade beim Spazierengehen, sogar beim Arbeiten, und dann ist man von der Last der Vergangenheit so bedrückt, daß sich einem sogar das Rückgrat verbiegt und man immer mehr einschrumpelt bis man vor ihrem Gewicht kaum noch kriechen kann - Onkel Theo! Dann sitzt man vor dem Fernseher, zu ewigem Auge geworden, und murmelt, wenn man einen Schauspieler oder Sportler sieht: Was für ein prachtvoll aussehender Mensch. Was für ein Genie in seiner Pracht! Beim Sich-Entspannen denkt man automatisch an Vergangenheit, es ist wie Schwimmen; ich meine Schwimmen in jener Zeit, wo wir noch richtig schwimmen konnten, wo es keine Mühsal war, wo es nichts mit irgendeiner Bewegungstechnik zu tun hatte, als man ein gewisser Fisch noch war, auf diese Weise gleiten wir in die Vergangenheit . . . Es hat natürlich keinen Sinn ein Argument zu Tode zu reiten.

Es macht keinen Sinn statt an die Nabelschnur an Zukunft zu denken? Und was ist mit Umweltkatastrophen., Klimakollaps, Eiszeit, Atomkrieg? Natürlich macht das Kummer, auch mir, aber die Menschheit schert es im Grunde nicht, im Gegenteil, in manchen Weltregionen würde man sich darüber freuen, sogar über einen beträchtlichen Atomkrieg - nur bei einem die Erde platzen lassenden Riesenmeteoriten wär wohl die Grenze - dann hätten sie endlich wieder ihre Chance, die berühmten Indianer des Regenwalds oder die Buschmänner der Kalahari. Sie müssen nur mal Ihre Augen aufsperren, wenn sie verreisen, beim Filmmachen muß man das manchmal, es gehört dazu, selbst wenn man es nicht als Beruf begreift, es gehört zu meiner speziellen Beliebigkeit, ab und an die Augen aufsperren zu müssen, nur wenn man es nicht tut, ist man in diesem Beruf außergewöhnlich . . . in Cairo habe ich kleine Kinder auf riesig stinkenden Müllhalden leben gesehen, ich meine, sie gingen da nicht hin, weil sie arm waren und sich was nach Hause bringen wollten: sie lebten in diesem Müll. Vollkommen verdreckt, Teil des Mülls, wie Ratten und alle möglichen Käfer Teil davon sind - oft sind es Kopten, glaube ich, frühe Christen, aber da kann ich mich irren - jedes normale Kind würde dort innerhalb einer Woche verrecken, aber manche von denen verrecken nicht. Manchmal sieht man auch Kinder auf klapprigen Eselskarren, die ohne Erwachsenenbegleitung durch die Stadt fahren, ein traurig stimmendes Bild, achtjährige, zehnjährige, mit ihren Karren im Drittwelt-Metropolen-Millionenverkehr, sie kommen wohl von so einem Müllhaufen und fahren mit der Beute des Tages nach Hause, Jäger und Sammler, denen geht es buchhaltungstechnisch eine Spur besser, sie sehen aber nicht weniger verdreckt als die im Müll Lebenden aus, man kann sie von den anderen gar nicht unterscheiden, auch nicht an den Gesichtern; manchmal sehen sie einen an, während man sie scheu anguckt, aus dunklen nicht wissenden Augen. Als Mann wird man da ja anders als die Frauen nicht sofort von einem Helferkomplex überwältigt und nimmt das für einen Moment mit einer fast klinischen Schärfe auf, manchmal im Bruchteil einer Sekunde, bevor man woanders hinschaut, sich woanders hinwendet, zu den Menschen, die in den einst prachtvollen Gräberfeldern längst vergessen märchenhaft reicher Sultane leben, oder dem Staub, der hier so allgegenwärtig ist, daß er einen anschmiert, sich in einen hineinschmiert, und man abends im Hotel beim Duschen in einem Schlammbad zu stehen meint, ich übertreibe . . . aber in diesem Bruchteil einer Sekunde, da begreift man diese Situation komplett, begreift man, daß man für sie eine Erscheinung ist, wie auch sie für einen Erscheinung sind, und daß sie sich um Klimakatastrophe einen Teufel scheren, denn dann käme ihre große Stunde. Ich hab ja schon von den vielen Versagern gesprochen, den vielen zu kurz Gekommenen, vor denen nicht nur in unserer Region die Welt nur so wimmelt, in anderen Teilen der Welt gibt es gar nichts anderes . . . sie alle warten auf ihre große Stunde, alle sind sie in einem Zustand lauernden Wartens, und irgendwann wird für manche von ihnen die Stunde kommen. Die Menschheit ist noch lange nicht am Ende. Nicht daß das für jenes Kind ein Trost sein kann, oder auch mir, es tröstet weder jenes Kind noch mich, weder jenes ganz spezielle Kind, noch meine ganz spezielle Beliebigkeit. Da hilft auch kein liebes Wort, es löst nur weitere Schwäche aus, eine solche Rührung, daß der Mensch immer hilfloser wird und sich in eine Pfütze verwandelt, da hilft dann nur noch Fotze, la pozza lorda, die schmutzige Lache, wie Dante irgendwo sagt, in Form von Frau oder Mutter. Danach kann man sich wieder erheben. Und wer sagt denn, daß man getröstet werden will, dazu noch von einem wild hergelaufenen Fremden, selbst bei einem Kopten ist das nicht selbstverständlich - Wer sagte denn, daß die Menschen getröstet werden wollen? Aber gewiß wollen sie sich erheben . . .

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Ja, kennt man alles, weiß man alles, alles längst bekannt, wie man überhaupt schon alles mal gehört zu haben meint, gerade wenn es um Zukunft geht, in sogar fast genau diesen Worten, irgend jemand hat schon mal dasselbe gedacht, es in fast denselben Worten bestimmt auch schon mal aufgeschrieben, nur in anderer Reihenfolge, alles was man sich dazu überlegen kann; da geht es dann nur noch um Adjektive und rhythmische Zwischenschübe, das ist heutzutage der Haken an der Literatur, deswegen hab ich mich damals mit dreiundzwanzig auch nicht in sie hineingetraut, da war ich feige, wegen dieser nun einmal nötigen Handwerkelei; obwohl ich dafür prädestiniert war, so schien es mir, mit meinen Groschenheften, die zu einem Bücherschrank wurden, in dem ich die Bücher in Metern messen wollte, vor dem ich betete; es schien alles in diese Richtung zu weisen, auch noch als ich mit dreiundzwanzig meinen ersten Roman schrieb, aber da habe ich schon was von diesem Beliebigen begriffen, damals hielt ich mich jedoch noch für was Spezielles, ich hatte nicht im Ansatz begriffen, daß ich auch nur sowas Beliebiges bin, so ein schreiender beliebiger Klumpen Materie, und daß es gar nicht auf Einzigartigkeit in diesem Schreien ankommt; da habe ich lieber erst mal Drehbücher für Filme geschrieben, mit Leuten die plapperten, deren Worte man sowieso nicht so nicht ernst nehmen konnte und wollte, talking pictures - Plapperfilme heißt diese angebliche Kunstform, elende Bettelei, da hab ich dann lieber selber Filme gemacht, ja da machte ich lieber selber Filme, Bilder vom verlorenen Wort; wenn Sie es genau wissen wollen: von den für mich verlorenen Wörtern. Aber die Bilder sind inzwischen selbst beliebig geworden, in weitaus größerem Maß auf einmal als jedes noch so verlogene Wort, in einer damals unvorstellbaren Inflation, wo man sich mit den paar, die man selbst gemacht hat, vollkommen verloren vorkommt, ein Nichts in dieser Bildinflation von Werbung, Nachrichten, Videoclips, mühsam vom täglichen Brot zusammengesparte Tausend Mark ist man da gegen einhundert Milliarden täglich zum Fenster herausgeschmissene, von einer unvorstellbaren Beliebigkeit, so beliebig, daß man überhaupt nichts mehr mit ihnen sagen kann, nichts mehr ausdrücken und nicht einmal sprechen . . .

Ohne Zweifel haben ja die meisten von uns einen bemerkenswerten Vorrat von Erinnerungen und positiven Wissenspartikeln, ich gebe Ihnen ja eine Kostprobe, und nehme an, Sie verfügen über Ähnliches an Erinnerung. Es stellt sich aber heraus, daß bei uns allen die Zahl der Verknüpfungen, die wir damit zustande bringen, erstaunlich gering ist, ich will nicht sagen, daß es nur fünf oder zehn sind, wie Aneinanderreihen, Einandergegenüberstellen, Widerspruchserzeugen und ähnliches - aber selbst die Phantasievolleren werden die Zahl dreißig kaum erreichen. Zu meinem Spezialgebiet ist der Verknüpfungsversuch geworden, der den Begriff des subjektiven Irrtums umgibt. Gestatten Sie mir bitte, daß ich diese im Vergleich zu den Erlebnissen mit Anja oder unseren unwahrscheinlichen Fisch-Vorfahren etwas trockene Materie ein wenig zu erläutern, aber ich nehme an, auch sie werden danach gerade solche Begebenheiten in anderem Licht sehen. Mit Irrtum meine ich gedankliche Verknüpfungen, die wir im Moment, wo wir sie denken, für richtig halten, die sich aber als falsch herausstellen (sagen Sie mir bitte nicht, daß sie deshalb uninteressant wären, oder gar, daß sie deswegen im Grunde gar nicht existierten) - vielleicht ist ‘Fehleinschätzung’ ein glücklicheres Wort. Insbesondere interessiere ich mich dafür in Verbindung mit dem Begriff der längeren Gedankenkette (dabei fällt mir das Glaubensbekenntnis wieder ein, von dem ich vorhin gesprochen, ach Quatsch, nur geredet habe: welche Immensität seiner Gedankenkette zugrunde liegt, lernt man, wenn man sich mit früher Kirchengeschichte beschäftigt), die, bei mir jedenfalls, mit 99%-ger Wahrscheinlichkeit selbst bei höchster Konzentration in ausgemachtem Blödsinn mündet (oft merkt mans leider erst nach zehn Jahren). Mit Irrtum meine ich, sie haben es längst begriffen, nicht den mathematischen Irrtum, der ist meist leicht zu korrigieren, sondern jenen einen erregenderen Bereich, in dem man einfach nicht weiß, ob etwas stimmt oder nicht. Das müssen nicht unbedingt Fragestellungen oder Probleme sein, bei denen überhaupt keiner was weiß, Fragen über die Natur der Zeit etwa oder gewisse Grundgegebenheiten von Kunst, wo man den Mund nicht mehr auftun darf, will man nicht als exzentrischer Trottel gelten. Eine schlecht beobachtete Tatsache, ließe sich praktisch sagen, ist gefährlicher als ein unkorrekter logischer Schluß. Dummerweise beobachten wir die Wirklichkeit eigentlich nie besonders sorgfältig, und meist verrät uns keine Instanz, wie genau unser Beobachten gewesen ist. Nur sehr selten gibt es die Beobachtung eines anderen, heutzutage leistet dies manchmal eine Photographie, eine Postkarte, ein Stück Film, die unsere Ungenauigkeiten korrigieren können. Selbst in der Klinik der Wissenschaft findet die Genauigkeit nicht erst in der Quantentheorie ihre Grenzen. Manchmal, sehr oft sogar, wissen wir etwas nicht genau, beurteilen es aber trotzdem, wobei unsere Affekte dem Wahrheitswert eines solchen Gedankens eine gewisse Festigkeit geben; manchmal geschieht dies durch eine provozierend klingende Komponente, die, obwohl sie widersinnig klingt, uns so sehr erleichtert, daß wir plötzlich an sie glauben. Daß Kunst aus Scheiße entstünde, ist so eine leicht provozierende Behauptung, hinter ihr liegt ein gewisser Wahrheitswert, der durch die Dissonanz plausibel wird. Meistens entspringt die spontane innere Überzeugung freilich einer Konsonanz, der Behauptung eines Sportreporters beispielsweise, Jim Clark wäre zu seinem sinnentleerten Rundendrehen von einer gewissen Form des Buddhismus beeinflußt worden, in frühester Kindheit, welche ewige Wiederkehr im Immergleichen zum höchsten Gut erklärte - in diesem Fall machts der schöne Klang, die ewige Schmiere, das Feuilleton. Fehleinschätzungen also oder auch Irrtümer, die auf diese Weise in der eigenen Substanz verankert sind, sei es durch Dissonanz oder Konsonanz oder was auch immer (auch da gibts wahrscheinlich nur einige Dutzend Möglichkeiten), scheinen mir interessanter zu sein als mathematische, sie machen die eigentliche Substanz unseres Denkens aus. In ihm sind sogar bloße Sprachspielereien häufig von Wichtigkeit, erinnern Sie sich an den sich nach Heimat sehnenden Seemann, der, für mich zum heimatlosen Seh-Mann werdend, den Gang meines Lebens in entscheidendster Weise beeinflußte; oder etwas so Simples wie Alliterationen; sie können einen im Grunde widersinnigen Zusammenklang ergeben, der einen zum Handeln treibt, Musik natürlich auch - die Alliteration par excellence - wieviele Menschen sind nicht schon draufgegangen, weil sie zu sehr an ihre Nationalhymnen und Schlachtengesänge glaubten, im sogenannt Guten wie Bösen. Ich hätte übrigens jetzt die Freiheit, mich zu unterbrechen, es ist, ganz nebenbei, die kostbarste von allem: die Freiheit, etwas abzubrechen, es wäre eine, die uns von hier fortführen könnte, ins Plausiblere, ins Wahrscheinlichere, ins wieder Unterhaltsamere - aber ich will mich jetzt nicht unterbrechen!

Gewöhnlich denken wir vom Begriff der Möglichkeit in einem zeitlichen Zusammenhang, im Sinne von Wenn ich brav bleibe, komme ich dann in den Himmel?, oder der Umkehrung, wobei wir uns dann in allerlei kausale Ketten verwickeln: auf höchstem Niveau heute wohl in der Frage, ob mit dem Urknall schon das Schicksal der Welt beschlossen gewesen sein könnte, Einsteins Hypothese Gott würfelt nicht ist da ein erleuchtender Beitrag - all diese Sachen haben mit Möglichkeit und Zeit zu tun, ich glaube das nennt man, wir kamen schon kurz darauf, modale Logik. Mit dieser hat jenes leicht irrtümliche Denken, von dem ich gesprochen habe, nur wenig zu tun. Ich meine vielmehr eine Möglichkeit im Denken, die nicht mit physikalischer Zeit verbunden ist, oder fast nicht; stattdessen hat sie mit semantischer Konsistenz zu tun. Komischerweise war jener sowohl den freien Willen als auch die unbefleckte Empfängnis aus dem Hut ziehende John Duns aus Schottland auch der erste, der dieses selbst für heutige Verhältnisse recht radikale Konzept ausgesprochen hatte. Manche Linguisten finden gerade dies an ihm begeisternd. Aber vielleicht ist es gar nicht so überraschend, die Logik hinter der Unbeflecktheit der Gottesmutter ist ja schon reine Sprachspielerei, und der damit in Verbindung gebrachte freie Wille nicht minder: reinste, auf unserem Sprachgefühl aufgebaute Konsonanz mit einem paradoxen Einschlag, der einen überwältigt. Aber ich möchte da sehr viel weiter gehen. Es ließe sich argumentieren, daß sich fast jede Aussage auf so eine Konsonanz reduziert, auf einen Wohlklang, bei dem man stutzt und sagt: Das ist richtig. Und daß die Leistungen unserer größten Denker vor allem Flechtwerke solcher Konsonanzen sind, oft ist die Wirklichkeit dahinter ja nur schwer zu entdecken, manchmal in nur einem Beispiel, meistens natürlich einer ganzen Reihe davon und dem Fehlen des Gegenbeispiels, welches das ganze schöne Gebilde zum Einsturz bringen würde. Nichts ist uns weniger klar als die Substanz der Erkenntnis selbst. Hat sich überhaupt schon jemand mit der Wichtigkeit des Plötzlichen daran auseinandergesetzt, mit dem Begriff der Plötzlichkeit bei der Natur der Erkenntnis?

Auch das von mir jetzt Aufgeschriebene hat natürlich bloß diese Qualität; es führt nirgendwo hin, hat im Grunde nicht mal einen Anfang, es bildet ein Geflecht, das nur durch den Klang seiner Gedanken, von Konsonanzen und in erheblichem Maße Dissonanzen zusammengehalten wird, von Querständen und prahlenden Paradoxien; ich arbeite an nichts anderem als an diesem Wohlklang, und an einer dürftigen Verankerung in Wirklichkeit, mit meinen sogenannten Beispielen, aus meinem sogenannten Leben, die dem Gesagten, das ist mein Stil, oft sogar ein wenig widersprechen; um darüber hinauszuführen. Wohin hinausführen? Ins Unwahrscheinliche! In einen, auch mich, zutiefst irritierenden Zusammenhang. Sogar in den Naturwissenschaften, deren voraussagende und ingenieurtechnische Leistungen ich keineswegs schmälern will, ich bin kein Maschinenstürmer, im Gegenteil, beginnen die wirklich weitreichenden Theorien mit nichts als so einem verbalen Wohlklang - Märchenstunde nannten wir als Physikstudenten das arrogant, sie war sowohl den Professoren als auch uns Studenten auf seltsame Weise peinlich; schon im Fall der klassischen Mechanik galt das, gesteigert natürlich in den Quantentheorien, stets waren die theoretischen Grundlagen des in den Vorlesungen Avisierten - die schönen Worte verstanden nicht, darüber hinwegzutäuschen - auf eine im akademischen Zusammenhang fast irrsinnig anmutende Art unverständlich, besonders gegenüber dem Phänomen der sogenannten Zeit ist man als Mensch in einem Ausmaß hilflos, das man nur als jämmerlich bezeichnen kann: die richtige Physik begann erst, wenn der mathematische Apparat auf diesen aus Grundlagen zusammengebastelten Wohlklang angesetzt wurde, wie Hunde auf ein zu erlegendes edles Stück Wild, ließe sich sagen, dessen Natur einem vollkommen gleichgültig ist. Physiker sind Jäger auf der Jagd nach einem die Welt berührenden Wohlklang, den man mathematisch sezieren kann. Das mathematisch nicht Sezierbare halten sie für belanglos, es ist für die meisten im Grunde Geschwafel. Abgesehen selbstredend von Karriere und Familie, besonders bei Ersterer laufen manche dann doch gradlinig zu Hochform auf, da sind sie nicht ungewöhnlicher als die Gewöhnlichsten von uns, gewöhnlicher jedenfalls als mein die Elbe auf seinem Dampfer in ihren zahlreichen Windungen durchfahrender Großvater. Einer meiner Professoren hat Selbstmord begangen, ein Quantenfeldtheoretiker; ach, nicht weil er nicht die Weltformel gefunden hat oder aus ähnlich romantischem Unsinn, oder weil er zu dumm dafür war, nein selbst dafür wär er, weiß ichs, womöglich klug genug gewesen; er tat es, tuschel, tuschel, weil irgendwann in den Sechzigern nicht er den Nobelpreis gewonnen hat, sondern statt dessen ein gewisser Gell-Mann, mit dem zusammen er die Grundzüge der sogenannten Quark-Theorie entwickelt haben soll, so jedenfalls das Getuschel bei uns im Institut anläßlich eines längeren Referates dieses auch im Umgang mit der Öffentlichkeit recht geschickten Gell-Mann. Ich weiß, dies klingt nun wirklich wie ein Märchen, es ist aber entsetzlich wahr.

Es wurde freilich auch darüber getuschelt, daß ihn seine Freundin verlassen hätte - bei näherem Hinsehen also wieder das typische Durcheinander, das sich jeder pauschalisierenden Beurteilung entzieht. Es war Ende der sechziger Jahre in New York, wohin mich ein Stipendium geführt hatte, in jenem faksimilierten Text über die Fata Morgana ist davon, milde verschlüsselt, die Rede - and night collapsed above our heads, heißt es da, bla, bla bla, aber dann: and suddenly I saw them (for the first time in my life), I saw - the stars. What a disappointing experience. Es ließe sich vielleicht verstehen, wenn es sich um einen weltfremden Menschen gehandelt hätte, der sich durch so einen Verlust um die einzige Chance im Leben betrogen wähnt, sich dem Weiblichen, nicht nur dem Sexus, zu nähern, aber er war ein ausgesprochen schöner Mann, groß, schlank, kräftig, jung noch, viel jünger als ich jetzt, mit einem wunderschönen schwarzen Bart, er war schön nicht nur für einen Physiker. Angeblich liebte er Dichtung, poetry, ebenfalls Anlaß für einiges Getuschel, das galt als Schwäche. Ein geheimnisvoller, ein ungewöhnlicher Mann. Und er schrieb schön, ich habe nie jemanden die Formalismen der Feldtheorie auf der Tafel so schön darstellen sehen (schöner als jede Wiese kam mir das vor), ich meine die Art, mit welch zögerndem Schwung er seine kleinen Buchstaben schrieb, von denen die Welt zusammengehalten wurde, ich seh sie noch vor mir, ihre selbstgewisse Zartheit, den sicher gefühlten Zeilenabstand, das ganze Tafel-Layout, ohne im mindesten schmierig-kitschig dabei zu sein, oder übergenial aussehend als wäre er irgendein hergelaufener Künstler, nein, seine Tafeltechnik, auch wie er den Schwamm benutzte, war Ausdruck eines Äußersten an Eleganz. Auf sowas bilden sich viele Physiker was ein. Überhaupt sehr seltsam, der Eros so einer Tafel, auch im Gegensatz zum wirklichen Sexus, vor allem wenn man auf ihr jungen Menschen etwas erklärt, auch das Verhältnis so einer Tafel zu Feldern und Wiesen, man kann, ich habe es selbst gespürt, süchtig danach werden. Sie finden solche ästhetischen Interna nicht interessant? Ich zumindest vermochte nicht zu begreifen, daß ihn eine Frau auf so brutale Weise verlassen konnte , daß er durchknallen mußte - er war für seinen Beruf einen Tick wohl zu sehr von der narzißtischen Sorte, aber auch das sagt sich leicht. Ich hab jedoch danach - vielleicht lag es aber an was ganz anderem, es kam so viel zusammen - von innen her nie wieder in der Physik Fuß fassen können; mag schon sein, daß auch dies zu dem haltlosen Zustand beitrug, worin ich mich im anfangs skizzierten Sommer auf jener Gartenbauausstellung vorfand. Es war, wie es in meinem Text über den Palast der Fata Morgana mit oberschülerhaft hilflosem Understatement heißt, in der Tat ein enttäuschendes Erlebnis gewesen, das mich erst in der Kunst wieder eine Art Heimat hat finden lassen, eine von mir freilich lange als minderwertig empfundene; eine, über die man eigentlich, wie über Gott, längst hinaus war, eine Regression in zumindest teilweise so empfundene Idiotie; die ihn befremdende neue Welt eines Vertriebenen, ließe sich sagen: ich wurde als vierundzwanzigjähriges Knäbchen wieder zum Flüchtlingskind. Das wirkliche Ausmaß dieser Enttäuschung begreife ich wohl bis heute nicht. Ich meine, ich habe wirklich hart dran gearbeitet, zum Idioten zu werden, und ich hoffe, es ist mir, wenigstens teilweise, geglückt.

Aber ich komme ab - wir waren schon bei etwas ganz anderem, etwas viel Wesentlicherem, viel weniger beliebigen, der Jagd der Physiker nämlich nach dem alleredelsten Wild, als was ich nicht die sogenannt schönen Frauen, sondern den mathematisierbaren sprachlichen Wohlklang bezeichnete, den sie auf Teufel komm raus sezieren wollen. Bei den Frauen lassen sie derlei in der Regel lieber sein. Über meine Beschreibung der Szene, darin ich vor jener Brücke zur flotten Anja hinabschwebte - ach, ich komme weiter ab, aber ich kann das in meinem jetzigen noch immer halbbesoffen ins Delirierende drängenden Zustand nicht verhindern, ich werde schon wieder auf Wichtigeres zurückkommen! - können sie sich jederzeit naserümpfend mokieren. Und obschon sie einem gerade zugegeben haben, daß in ihrem ureigensten Fachgebiet zu Resultaten nur gelangt, wer Approximationen zum Teil übelsten Ausmaßes zu Hilfe nimmt, manche davon ihnen selbst kaum verständlich, werden sie an meiner Darstellung dieses Vorgangs vermutlich monieren, daß ich, ha, ha, dabei nicht die Psi-Funktion zu Hilfe genommen hätte, im Verbund mit vielleicht der Schrödingergleichung. Sie müssen sich das einmal vorstellen: jemand, der nicht einmal das Herabschweben einer Feder auf den Boden zu beschreiben vermag, der seinen von ihm heimlich gehaßten Professoren ungeniert nachschwadroniert, sie falle (abgesehen von belletristisch weggeredeten Schmuddel-Effekten) ebenso schnell herab wie eine Bleikugel, so jemand maßt sich ein von keinem Selbstzweifel getrübtes Urteil darüber an, wie ich (nicht bloß gleich einer Feder, nein, bereits wie ein aus Tausenden solch leichter Federn bestehender Engel) zur flotten Anja hinabschwebe, zur, wenn man so will, fleischgewordenen Wirklichkeit. Ein Psychotherapeut würde freilich Ähnliches von sich geben, bei ihm wäre es die Phi-Funktion, die fehlt, zusammen mit einer von ihm eigentlich erwarteten archetypischen Untermauerung; jeder Geistesspezialist, ich weite das aus, beileibe nicht nur Naturwissenschaftler, schafft es irgendwie, sich als Vertreter der absoluten Wahrheit zu fühlen, unabhängig von Zeit, Ort und Person und trotz eigenem, sogar in den eigenen Metiers und nicht nur beim Verfolgen ihrer Karriere, oft hochgradig irrationalem Verhalten, sehr geheimnisvoll, wie diese Selbstüberschätzung möglich ist - aus mir spricht natürlich der Renegat, der gewordene Idiot, wenn Sie wollen - vielleicht, weil sie sich zudem, da sind sie noch selbstüberzeugter, auch noch für die qualifiziertesten Beurteiler des guten Geschmacks halten und meinen bestimmen zu dürfen, in welchen Gefilden sich der Geist auf welche Weise zu benehmen hat, wenn er noch Geist genannt werden will. Kurzum: wer sich anders verhält, als sie es vor sich selbst zugeben, als sie es unter Umständen auch mal öffentlich zugeben würden, der hat keinen Geist. Ihnen würde schlecht, wenn sie neben mir in einem Flugzeug sitzen müßten, Flugangst könnte man das dann nennen. Sie kommt direkt aus der Kreide-Zeit, in der man noch nicht erster Klasse fliegen konnte; aus der Zeit, in der sie als Studenten in Vorlesungen geduldig den mit Kreide geschriebenen Darlegungen ihrer Professoren folgen mußten, deren lebensgefährliche Prüfungen sie schließlich überlebten, weil sie sich am Eros so einer Tafel zu stabilisieren vermochten, am Eros so einer Gemeinschaft, und über den sogenannten Sexus, der von all dem nicht wissen wollte, hinauswuchsen. Das hinterläßt, nicht nur in Bezug auf Selbstgefälligkeit, bleibende, nicht mehr aus bloß Kreide bestehende Spuren. Hätten sie allerdings die Aufgabe, mit ihren Psi- und Phi-Funktionen, samt passender Schrödingergleichung und archetypischer Untermauerung eine solche Szene (von der ja jede Nacht auf Erden Tausende geschehen) einmal selbst zu beschreiben, und sei es für die Wissenschaft, käme dabei etwas so Jämmerliches heraus, daß dagegen sogar mein unbeholfenes Sprachgestolper ein Muster an naturwissenschaftlicher Präzision darstellte, schon in Bezug auf die Sequenz der Details. Am nächsten kämen mir noch die Sprachwissenschaftler, die unweigerlich zur Kenntnis gäben, sie hätten so etwas schon eleganter und knapper woanders gelesen. Damit hätten sie gewiß Recht. Das tiefsitzendere Problem besteht aber leider darin, daß nicht nur der Reiz sondern auch die erkenntnistheoretische Brisanz einer solchen Szene nicht zuletzt in einer gewissen Plumpheit besteht (von allerlei dabei geäußertem fragwürdigen Gestammel ganz zu schweigen), und daß es eine offenbar universell gefühlte Abneigung gibt, derartiges in wissenschaftlicher oder auch nur literarischer Eleganz zu erleben oder auch nur nachzuerleben. Wenns sein muß, höchstens woanders, in den eigenen vier Wänden nämlich, wenn die Tür dreifach von innen verschlossen ist. In solchen Situationen sind sich die Menschen in ihrer Ablehnung des allzu Eleganten erstaunlich gleich. Wenn man sich darüber aus stilistischen Gründen erhebt, ist man noch lange nicht darüber erhaben. Tatsächlich war ich wohl selbst in dieser Szene schon ein wenig zu sehr abgehoben, um zum Eigentlichen einer jeglichen solchen Jagd zu kommen; mit meiner Postkartenbeute aus England wähnte ich mich wohl noch in höheren Sphären, was dann aber ganz richtig in einem Plumps endete, dem nämlich, in welchem die Postkarten bei meinem geilgierigen Vornüberbeugen im Auto nun doch, primitiver sogar noch als eine Feder, fast schon wie eine Bleikugel, auf den Boden fielen - danach war das Abgehobene gerade mal gut dazu, aufs Neue mit der fleischgewordenen Wirklichkeit Anjas anzubändeln. Ich weiß noch genau wie superschlau ich mir vorkam, als wir telefonierten, überhaupt nicht mehr wie ein Idiot, und wir uns anschließend offiziell nur trafen, damit sie mir den Umschlag mit den Postkarten wiedergeben konnte. Da haben wir auch bloß nach so einem sprachlichen Wohlklang gesucht, unter dessen Zeichen wir unsere Jagd nach etwas ganz anderem, wie Sie ja bereits wissen, ganz ungeniert fortsetzen konnten. Doch Schluß damit jetzt! Schluß jetzt damit und nicht nur dem Schnapps!

Wohin aber nun führt die Physiker, nicht mich, ich bin ein hoffnungsloser Fall, ihre hohe Jagd? Daß auch sie in einem unklaren sprachlichen Wohlklang beginnt, haben wir schon gesehen, aber ich finde verblüffend, daß sie, nach hunderten von ineinandergreifenden komplizierten Formeln und Formalismen, nach zahlreichen Berechnungen und nuanciertest beurteilten Approximationen, hinter manch einer steckt ein ganzes Gelehrtenleben, stets wieder in einem solchen endet. Im Urknall zum Beispiel oder der Expansion des sogenannten Universums: in wohlklingenden Wortgebilden, bei denen der paradoxe Einschlag nicht nur das Publikum, sondern auch die Physiker selbst so überwältigt, daß man aus dem Grübeln nicht mehr herauskommt. Natürlich leben wir nicht mehr zu Zeiten der Alchimisten, wo solche im All schwebenden Wortgebilde alle den gleichen spinnerten Rang hatten und man sie am Stammtisch verbessern konnte, selbstverständlich besteht die Physik inzwischen aus mehr als ein paar Geschirrspülmaschinen, die man mit ihrer Hilfe für die Damenwelt hat bauen können, und ein paar dumm herumstehenden Atomkraftwerken, die den Strom dazu liefern; heute wird gemessen und verifiziert und dann werden die Sprachgebilde zielstrebig verbessert - aber ein Mensch allein schafft das nicht mehr. Es ist unmöglich, sich in dem Dschungel zum Teil allerfeinster Approximationen zurechtzufinden, viele davon rein verbaler Art, ein Tummelplatz des sprachlichen Wohlklangs, welche eine physikalische Theorie mit der rauhen Wirklichkeit verbinden. Dazu braucht es eine Gemeinde, die, hat sie das Locken des paradoxen Klangs einmal einschlagend vernommen, ihm nun in mönchischer Ergebenheit dient, nicht nur als Unterstützende selbstverständlich, auch als Gleichgültige, als raffiniert Ablehnende oder das Ganze Verbessernde, sich damit eigene Meriten Verdienende, und nicht nur mit Tafel, Kreide, Papier und Overhead-Projektoren (die Kreidezeit ist mittlerweile vorbei) sondern mit inzwischen zum Teil wahren Wunderwerken großräumig ineinander verschränkter Technologie, mit im Weltraum verankerten Teleskopen oder mit kilometerweit unterirdisch sich dahinziehenden Teilchenbeschleunigern - ich hab kurzzeitig mal in so einem arbeiten dürfen, trotz der dort herrschenden Dunkelheit war ich wie geblendet, viele der dort Arbeitenden sind es, sie reißen sich um solche Arbeit, arbeiten 30 Stunden am Tag, selbst in entlegensten Einöden, wo man leicht verrückt wird. Als Privatmensch hat man so eine Apparatur natürlich nicht zur Verfügung, da ist man auf sein eigenes Gegrübel angewiesen, auf eigenes, mitunter leider verbohrtes Urteilen. Und gerät notwendig ins Abartige, gerade in einer Gemeinde von Gleichgesinnten, gelegentlich findet man sich dann unversehens in Guyana wieder, wo man dann seinen Kleinen Kreuzer versenken muß oder als so eine Sekte kollektiv Selbstmord begehen. Aber sogar in der Physik, und das ist interessant, wollen die besten immer erst mal ins Unwahrscheinliche.

Nehmen Sie den berühmten Gell-Mann, dessen für jeglichen an Teilchenbeschleunigern Arbeitenden allerwichtigste (für mich persönlich leider unauslöschlich mit dem Selbstmord von Schönheit verbundene) Quark-Theorie wir bereits flüchtigst ansprachen, die Basis immerhin des sogenannten Standardmodells, gemäß welchem wir den Zusammenhalt der Welt, trotz allem Feiern, heute leider noch immer nicht recht begreifen - er hat seine neuartigen Partikel, die sogenannten Quarks - up, down und bottom, mit ihrer Hilfe werden die bis dahin rätselhaft nebeneinanderstehenden in der Materie wirkenden Kräfte, die starke, die schwache und die elekromagnetische, miteinander verbunden - nach einem Wortspiel aus Finnegans Wake benannt; auch dieser kühnen Benennung verdankt er seinen Nobelpreis - sonst hätte er ihn wohl erst ein paar Jahre später bekommen und ihn womöglich mit meinem schönen Professor teilen müssen. Vielleicht verfluchte dieser sogar, fortan zur Existenz eines bloß noch Beliebigen verdammt, im Stillen darin dieses Buch und den dafür nun wirklich nicht verantwortlichen Joyce, trotz einer Vorliebe für Dichtung. Finden Sie nicht seltsam (viel seltsamer als die im Standardmodell erfaßte Existenz der seltsamen Teilchen, der sogenannten strange particles), daß die intime Kenntnis von sogar entlegenerem, von transulyssalem Joyce einem einen in der ganz großen Welt meßbaren Wettbewerbsvorteil verschaffen kann? Der paradoxe Einschlag, die überraschende, die neue Sichtweise, bildet unbestreitbar die unumgängliche Geschäftsgrundlage der Erkenntnis, er ist auch die Basis der von vielen so genannten 'mathematischen Schönheit' der Physik. Eine naive Kitschvorstellung des Universell-Schönen übrigens, up, down und bottom, von einer in ihrer blinden Nacktheit, wenn man darüber nachdenkt, kaum noch überbietbaren Tollheit. Auch der Ablauf des Denkens glaubt offenbar an die Evolution, es zieht ins Abartige; auch und gerade im Palast der stärksten heute sichtbaren Fata Morgana, im von der Beseeltheit verlassenen Palast der Naturwissenschaften, deren Erkenntnisanspruch offenbar von ihren Fähigkeiten nicht mehr eingeholt werden kann - sollte sich dies als unabänderlich herausstellen, wäre es wohl die bitterste Einsicht unseres Jahrhunderts.

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Habe ich nicht gerade selbst von der Schönheit der Formeln jenes Professors geschwärmt? - gewiß, doch es war die ihm eigene Schönheit, von der ich sprach, diejenige, in der er die Formeln niederschrieb - ich sehe das fast wie Onkel Theo seine Schauspieler angeblickt hat - nicht die angebliche Schönheit der Formeln. An deren Substanz ist ebenso wenig schön, wie es rot lackierte Bauklötze, außer in den Augen eines Kindes, oder die raffinierteren Taktiken im Verfolgen einer Karriere sind - an der Mutterbrust ist es dann doch um einiges schöner. Na, wie dem auch sei, meiner bescheidenen Ansicht nach führt jedenfalls jede längere im Individuum oder einer kleineren Gemeinde entstehende Gedankenkette ins Nirgendwo, nicht nur die meine, hinter den Horizont im Norden, wenn man so will, wenn nicht sogar direkt in den Irrsinn, jede! - aber, und das ist ein Paradoxon: durch ihr rücksichtslos Weitgängerisches und das daran mitunter fanatisch Entschlossene häufig auch zu Weiterem, zu fast so etwas wie genetischer Evolution; wie der Wille zur Liebe zu Gott (Urknall und Expansion des sogenannten Universums dürfen wir als bloß naturwissenschaftlich-belletristische Modeerscheinung in diesem weitergreifenden Zusammenhang ruhig noch eine Weile - ein paar Jahrhunderte wenigstens - übersehen) nicht nur die unbefleckte Empfängnis sondern auch unsere Kultur gezeugt hat, oder zumindest den Willen zu ihr, den zumindest zeitweise praktizierten Willen zu ihr. Seither vagabundiert unter den Künstlern der Wille, Schönheit in allem zu entdecken und alles in Schönheit zu verwandeln, im Männergesicht, im alternden Gesicht, in der Natur, in den Städten, in den Vorstädten, im Planetensystem, ja, auch in der Mathematik, eine Ästhetik zunächst bloß des schönen Tons und Tuns, wie er in den Naturwissenschaften noch zu Hause ist, bis man schließlich auch gegenüber dem Minderwertigen und Häßlichen einen solchen Willen entwickelte - auch dort Unbeflecktheit zu entdecken, wurde zur treibenden Macht hinter der Kunst, der Wille zu Unbeflecktheit auch bei bloßen Farbflecken oder fast unbefleckten, fast leeren Leinwänden, in der sogenannten abstrakten, in Wirklichkeit aber höchst konkret aus Farbpigment zusammengekleisterten Malerei - keine zu notwendig bloß Gutem führende Kraft, wie man vielleicht denken könnte. Aus solch im Grunde irrsinnigem Wollen entstand in einer langen Wollenskette eine Kultur, die sich erheblich von derjenigen der Antike unterscheidet, so weit kenne ich mich in unserer Vergangenheit jetzt aus, inklusive ungeheurer Perversionen, in denen die Idee der Unbeflecktheit in der Abbildung geschändet wurde, und nicht nur beim bloßen Abbilden - wo die Nachfolger Pieros und Vermeers sich in Werbefachleute verwandelten und in besinnunglose Riefenstahls, in Sauberkeitsfanatiker, die dann ganze Staaten mit besessener Gemeinheit in so schöne Gebilde von Makellosigkeit verwandeln wollten wie Raffael die Mutterschaft seiner Madonnen, daß ihnen nichts ausmachte, wenn sie in ihrem Machenschaften den Rest der Welt ins Elend stürzten, das war ihnen in ihrer Suche nach Makellosigkeit ganz egal, es war ihnen egal, was mit jenem Ungeziefer geschah, das nicht in ihre Vorstellungen von Makellosigkeit paßte - immer schärfere Bilder, immer weniger Rauschen auf Schallplatten, immer weniger Zigeuner im Staat. In ihrem Wollen zu Unbeflecktheit, in ihrem Wollen zum unbefleckten Menschen, in ihrem Wollen gegen den Untermenschen - aber der Mensch ist nun einmal nicht unbefleckt! . . . Manchmal kommen bei solch längeren halbirren Gedankenketten sogar gewöhnliche Entdeckungen und Erkenntnisse heraus, die man durch gewöhnliche Buchhalterei zu erfassen fähig ist, durch gewöhnliche Wissenschaft, die uns zum Mond führende gewöhnliche Gravitationstheorie zum Beispiel - was der Wille erstrebt, das erreicht er - oft sogar zu welchen, zu denen weder reine gedankliche Richtigkeit noch bloßes Spiel des Zufalls durch Assoziation hätten führen können, wovon gerade letzteres wiederum laut Ansicht vieler ja im liebenswürdig klingenden genetischen Gewürfel durch Mutationen kulminiert, dem nicht nur unsere Spezies laut Momentantheorie ihre Existenz verdankt: nein, in dieser aus Wohl- und Mißklang erzeugten längeren, von verbiesterten Irrtümern nur so wimmelnden Gedankenkette, und den dadurch auf nicht selten idiotischen Irrwegen gemachten Entdeckungen, haben wir es mit menschlicher Erfahrensfähigkeit schlechthin zu tun, die dem mathematisch bloß logisch voranschreitenden Denken noch immer überlegen ist - zumindest in ihrem Humor und ihrer weltbewegenden Kraft.

Er starb einsam . . . er starb verbittert . . . er opferte sich in seinem Schaffen . . . Schmonzes! Jeder stirbt einsam, und in der Regel unter unerträglichen Schmerzen, wie man auch unter unerträglichen Schmerzen geboren wird, da hatten es die Fische mit ihren dämlichen Eiern besser. Aber deswegen blieben sie auch dämlich. Das klingt sexistisch? Wegen der Beziehung von Dame zu dämlich? Ich lache! Im Moment bin ich vielleicht sogar der einzige auf der Welt (morgen werde ich es wieder vergessen haben), der weiblichen Mut richtig einzuschätzen versteht, in richtiger Perspektive; ich meine nicht nur den von Tag zu Tag wie beim Mut meiner Mutter, beim Wäschewaschen zum Beispiel, beim Essenkochen, beim Blumenpflanzen, diese Art Mut begreifen die meisten, rührend, oder nehmen Sie den von Emanzipationsschritt zu Emanzipationsschritt, der ist, wenn man den Zeitungen heute glauben darf, natürlich enormer - aber vergleichen Sie das einmal, und jetzt reite ich unser schon ausgetretenes Argument wirklich ein allerletztes Mal, mit dem so harmlos klingenden Übergang der Reptilien zu uns, den Säugern, ich erinnere das noch aus dem Biologieunterricht, und wie niedlich es damals klang, daß da auf einmal kleine Mütter ihre Jungen säugten. Aber dies ist die Leistung einer ungeheuren Kette von ungeheuerlichen Müttern, für welche jene (laut Eckermann, sogar Goethe in Weimar selbst) erschreckenden Worte im Zweiten Faust ohne Einschränkung gelten. - MEPH. Ungern entdeck ich höheres Geheimnis.- / Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, / Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; / von ihnen sprechen ist Verlegenheit. / Die Mütter sind es! - Frauen, die ihr Ei so sehr liebten, daß sie es nicht aus sich herauslassen wollten, die ihren After verklemmten, völlig verrückte Weiber, ein Reihe von völlig Verrückten, die meisten sind daran krepiert, eine Sekte von Frauen, die sich weigerten Eier zu legen und sie im Inneren behalten wollten, nicht davon loslassen wollten, bis ihre Nachkommenschaft im Inneren aus den Eiern PLATZTE, erst dann gaben sie das Junge frei - was für Mütter, was für Junge - - FAUST (aufgeschreckt). Mütter! und dann wollten manche das so heiß geliebte Kind, das so lange getragene Ei, immer noch nicht loslassen, das waren in dieser kaum noch zu überbietenden Verrücktheit noch Verrücktere, die rissen ihre Haut auf, gaben den Jungen von ihrem Blut zu lecken, sie verstümmelten sich selbst, in ihrem Nichtloslassen-Wollen aus Liebe zu den Jungen in ihrer Selbstverstümmelung radikaler und schlimmer anzusehen als die Wiener Aktionisten, als Muehl und der geniale Brus, Knäblein gegen diese gewaltigen Mütter beide, gegen diese in einer wahnsinnigen Kommune lebenden Mütter, welche in ihrer besessenen Verrücktheit die AO-Kommune des Otto Muehl, von deren gefährlichen Wahnsinn Anja neulich sprach, als Hort der Vernunft geradezu erscheinen läßt, - MEPHISTOPHELES. Schauderts dich? / FAUST. Die Mütter! Mütter!--- ‘s klingt so wunderlich! - den ganzen Körper ließen sie sich von den Jungen zerbeißen, bis einige von ihnen dieses Gefühl so schön fanden, daß sie es auf einen Bereich konzentrierten, wo sich in Schichten aus aufeinanderfolgendem Schorf schließlich Brustwarzen bildeten, - MEPHISTOPH. Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt / Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt. / Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen; / Du selbst bist schuld, daß wir ihrer bedürfen. - und das Blut dort vor Schreck sein Farbe verlor und erst bleich vor Schrecken wurde, dann schreckensweiß, und endlich sich in schreckensweiß süße Muttermilch verwandelte, im Mondschein glänzend, und diese Brustwarzen ließen sie weiter zerbeißen, bis die Lymphdrüsen dort endlich aufquollen, Millionen starben an diesen Verletzungen, jede Menge starben, wurden wahnsinnig bei diesen sie aus völlig neurotischen Gründen verzückenden Schmerzen, sie wurden Masochisten in ihren Schmerzen, fast alle starben an diesen Verletzungen, jede Menge starb, keiner gab mehr einen Pfennig für sie, eine weitere Sekte, eine weitere Sekte von Abartigen, bis einer zum ersten Male Milch aus den Brüsten floß. - FAUST. Wohin der Weg? - Survival of the fittest - ich lache. Von heute gesehen, gewiß. Aber all dieses ist noch heute in den Frauen enthalten, sie sind hier die ersten, die sich einer neuen Sekte anschließen, in denen sie mit ihren Kindern was Neues, was Ungeheures anstellen können, - MEPHISTOPHELES. Kein Weg! Ins Unbetretene, / nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene, / Nicht zu Erbittende. Bist du bereit?--- / Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben, / von Einsamkeiten wirst umhergetrieben. / Hast Du Begriff von Öd und Einsamkeit? - damals wurde sie von der Reptilienwelt ausgelacht, sie wurden von Krokodilen gefressen, die waren die Fitten, die gut Erzogenen, keiner der seinen Kopf zusammen hat, läßt sich auf so ein Spiel ein; alle möglichen starben, ja alle starben, weil man bei so einem Unternehmen ganz logisch sterben muß, Überlebenswahrscheinlichkeit: Null Komma Null Periode, doch eine, eine einzige ist dabei nicht gestorben, wie auch im Falle dieses einzigen heldischen Fisches - eine wirkliche Heldin, die ihre Kinder auch noch zu hegen verstand, bis diese selbst wieder Kinder kriegen konnten, die Menschheit ist die Kreuzung eines Fisches mit so einer Mutter. Na ja - wenn man spürt, fast gar begreift, daß das Leben nicht nur aus hübscher Optik und nett einander umkreisenden Sternen besteht, kann man auch in Weimar schon mal einen Schrecken kriegen.

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Verstiegen? Sie nennen das verstiegen? Und weiterhin interessiere das niemanden heutzutage mehr, dieses Schnabelbeutelnagefaultier wäre wohl noch auch heute im Inneren einer jeden Frau vorhanden, käme aber nur gelegentlich hervor, im Phylogenetischen, ansonsten wäre es überwunden. Das ist es zweifellos. Aber nur in der Damenwelt seltsamerweise. Nehmen sie zum Beispiel meine Filme (ich weiß Sie können das mit meinen Filmen nicht mehr hören, es ist für Sie eine Tortur, Sie wären kein Masochist, jedenfalls nicht gegenüber Filmen, Sie beständen auf leichter Erziehung, und auf keinen Fall wären Sie so ein Masochist wie jene Urmutter; aber was soll ich machen - meine Mutter und meine Filme, sind das einzige, wo ich mich wirklich ein wenig auskenne, mein Vater blieb mir leider immer fremd. Kunst ist nämlich der Versuch, eine Mutterschaft auch im Mann hinzubekommen, wir stehen vor einer ganz neuen Entwicklung. Hören Sie sich mal an, auf welch neurotische Weise ich im Moment über meine Filme denke, und das ist nicht gespielt, ich bin in einer entsetzlichen Krise in Bezug auf meine Filme, ich weiß nicht, wie es mit ihnen weitergehen soll, ich weiß nicht wie es mit mir weitergehen soll. Ich habe ihnen nämlich mein Bestes gegeben, ich habe mich für sie geopfert, alles habe ich ihnen gegeben, das letzte aus mir rausgequetscht, daß was aus ihnen wird, daß man sie lieben kann - es hat nicht gereicht. Ich habe das Letzte aus mir herausgeholt, ich habe nicht das Geringste zurückbehalten, alles habe ich ihnen gegeben, mein Herzblut, meinen letzten Pfennig, meine Wahrnehmungsfähigkeit, ich habe ihnen zu Leben verholfen, ich habe mir angeschaut, wie die besten Geister meiner Zeit den ihren zu Leben verhalfen, wie deren Filme aussahen, was aus ihnen wurde, ich habe versucht, mich an dem besten von mir Gesehenen zu orientieren, mich dem anzuschmiegen, es hat nicht gereicht. Ich habe sie auch die besten Geister der Zeit begegnen lassen, die sie sogar recht wohl aufnahmen - für sie hab ich meine Wahrnehmungsfähigkeit bis aufs Äußerste, bis ins Krankhafte gesteigert, beinah hätte ich mir sogar wie dieser Brus mit Rasierklingen die weiß getünchte Haut aufgeschnitten, wenn es mir nicht so entsetzlich sinnlos und nachmacherisch vorgekommen wäre, es hat nicht gereicht. Ich bin deprimiert, oft sogar verzweifelt, daß es nicht gereicht hat, aber ich kann nichts machen, und es ändert vor allem an einem Tatbestand nichts:

Die Kunstproduktion ist der Versuch des Mannes, zu Mutter zu werden. Mag schon sein, daß die große Häufigkeit der Homosexuellen unter den Künstlern (drei von vier Genies in diesem Metier gehören zu ihnen und auch bei den an Kunst seriös Interessierten trifft man sie auf deutliche Weise vermehrt an) ein Zeichen für den Willen ist, die ihren Genen verschlossene gebärerische Nachkommenschaft vielleicht auf dem Gebiet der Kunst zu erlangen, auch in den sexuellen Praktiken rumort dieser Teil der Menschheit ja mit deutlich ausgeprägt stärkerer Experimentierlust als die Zweigeschlechtler, und ich bezweifele nicht, daß jenen Eingeschlechtlern irgendwann auch einmal das Gebären und Säugen der Jungen beschert werden wird, die Experimentierfreudigkeit und auch die Verzweifeltheit, in der vieles darin stattfindet, hat deutlich die Signatur eines solchen Willens zur genetischen Veränderung. Auch scheint mir der Kultstatus eines schwulen Künstlers in seiner Gemeinde ungleich höher als der eines heterosexuellen in seiner, wo er immer mehr den Status eines Taugenichts hat, der seine Frau nicht recht ernähren kann. Die Schwulen beten einen erfolgreich schwulen Künstler an wie die Christen die Madonna. Unter den Schwulen hat er das Ziel am ehesten erreicht. Sie haben ganz Recht, wenn Sie sagen, ich hätte mir Vater nicht recht internalisieren können, ich wäre auf halben Wege stehen geblieben. So bringt mans nicht zur Nummer eins. Die Mutterwerdung hat aber nicht nur ihre schönen Seiten. Irgendwann muß man auch eine furchtbare Mutter sein können, eine Medea, die ihre Kinder umbringen kann, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn die Zeit sie nicht haben will. Meine Filme sind mir nämlich inzwischen lästig. Ich habe sie zwar gemacht, ich liebe sie auch, aber jetzt sind sie erwachsen und es ist aus ihnen nichts geworden; was ich ihnen gab, hat nicht gereicht. Ich kann sie nicht mein ganzes Leben päppeln. In ihrer Erwachsenheit sind sie lästig, aus ihnen ist nichts geworden, und doch wollen sie immer noch, daß ich für sie sorge, das kostet Geld und ist nicht ganz billig und ich habe kein Geld, sie sind lästig, es bekümmert mich, daß sie mißraten sind, aber ich kann es nicht ändern: Sollen sie zu Staub verfallen, soll ihre Materialiät zu Staub zerfallen noch bevor ich zu Staub zerfalle, ich kann es nicht ändern; sollen sie zu Erinnerung werden in meinem Gedächtnis, in nur meinem Gedächtnis. Daß ich nicht gleich die Stadt noch für alle Zeit verfluche, die ihnen kein besseres Leben gegeben hat, nicht die Bürgermeister, die eine solche Stadt dorthin geführt haben, daß ich die Gräber dieser Bürgermeister und ihrer Helfershelfer nicht geschändet wissen will, daß ich nicht dieser Stadt selbst den baldigst möglichen Zerfall wünsche, weil sie meinen Kindern keine Gelegenheit zu würdigem Leben gegeben hat, daß ich die Namen dieser Bürgermeister und Helfershelfer nicht für alle Ewigkeit dem allergründlichsten Vergessen übergeben will, verdanke ich allein der Unvollkommenheit meiner von mir aufs Irrationalste angesteuerten Mutterschaft, verdanke ich allein meiner Unperfektion. Daß ich die Stadt und die für sie Verantwortlichen nicht aufs Fürchterlichste für alle Zeiten verfluche, daß ich ihre philistinischen Paläste nicht noch zum Einsturz bringen möchte, wie einst der von ihnen auf bloßes Rotieren reduzierte Samson trotz seiner Blindheit sie in einer letzten Anstrengung doch noch zum Einsturz brachte, um viele von ihnen und nicht zuletzt mich selbst unter den herabstürzenden Trümmern zu begraben, liegt nur daran, daß ich den Sprung ins Säugetierhafte noch nicht geschafft habe; und wie die meisten Männer noch tief in der Reptilienwelt verankert bin, worin einem auf einer tiefen Ebene die Welt und man selbst vollkommen gleichgültig ist, ein Kaltblütler, ein Männergehirn, das noch immer nächtens vom Fliegen träumt und zurückgeblieben ist. Das Reptil revoltiert nicht; und wenn einmal doch, so nur (wie die Geschichte lehrt) aus minderwertigen Gründen - mehr Fressen, endlich mal auch brutal Chef spielen dürfen, bißchen mehr Sonne; nicht mal die Weiber interessieren im Grunde ...

Sie sagen, auch das interessiere keinen, wie das Problem mit dem Lebendiggebären wäre das längst überwunden, die Stammesgeschichte des Lebens - im Mutterleib gäbe es an Embryos wohl noch Kiemenspalten, es steckt noch immer in uns drin, als Möglichkeit, eine Sucht mag sein im Blut, aber nicht in dem Sinne, daß sich das alles im Mutterleib noch einmal vollzieht, irgendwas rumort da; und dann ists überwunden, im Grunde aber interessiere das heutzutage niemanden mehr, es ist unter Kontrolle, wie auch Faust niemanden mehr interessiert, in unserer Reptilienwelt, wo jeder jeden fräße, es ist überwunden, wie diese extreme Mutterschaft, wie das Christentum, wie die ganze Künstlerei überwunden ist, Erschöpfungen von Schnee auf Frühlingswiesen am, warum denn nicht: Mittleren Landweg im Grunde, die morgen schon ganz verschwunden sein würden. Und dazu wäre das alles gerade in seiner Verstiegenheit bloß noch sentimental. Christentum und Kunst hatten ihre Zeit und jetzt gebe es anderes. Was? Was es genau ist, interessiere Sie gar nicht, und da genau wäre der Punkt: Sie wollten sich von niemandem mehr sagen lassen, nicht von Staat und nicht von Kirche, um was es heute gehe und was heute fehle, das wäre nunmehr ganz ihre Privatsache, auch wie man sich durchs Leben mogelt, und was man genießt, auf welche Weise, jeder hat dazu heute die Freiheit. Wenn das dem Duns Scotus zu verdanken ist, Ihnen solls recht sein, errichten wir ihm ein Denkmal, ja, warum denn nicht. Und wenn es mich persönlich beruhigte, ruhig noch eins für den Erfinder des Feuers dazu, wichtiger Mann schließlich: irgendwas ganz Modernes, in Form von vollsubventionierter Kunst am Bau! Im Einkaufszentrum von Hamburg-Rahlstedt, denn da würde ich doch jetzt wohnen. Feierliche Eröffnung mit moderner Musik und Texten von Heiner Müller! Vom Menschen zur Menschheit und Stalingrad! Sie wollen jedenfalls nicht gesagt bekommen, was überlegen, was minderwertig ist, und schon gar nicht von so einem wie mir. Obschon mich das schmerzt, denke ich mittlerweile in gelasseneren Momenten, daß Sie im Grunde recht haben, ich glaube ich werde nicht mehr für meine Filme kämpfen, ich denke schon genau so wie Sie, vermutlich hatte ich mit dieser Kunst nur einen Tick. Vielleicht nur noch eins, eine Bemerkung zur wirklichen Welt, die Sie vermutlich interessanter, von größerem Belang finden, die meisten tun es, auch ich inzwischen, ein Letztes also noch:

Ein paarmal begegnete ich durch Zufall einem gewissen Springer, ein ganz großes Tier in Hamburg, der Größte im Grunde, die graue Eminenz hier im Hintergrund, der genaue Name tut nichts zur Sache, derartige Charaktere kommen und gehen, wie die hiesigen Bürgermeister, nur nicht ganz so schnell, aber auch sie kommen und gehen und nach fünfzig Jahren kennt sie kein Mensch mehr, nur wenn man an einer Straße mit ihrem Namen wohnt, hat man an ihnen noch ein gewisses Interesse, zur Zeit ihrer Wirkung sind sie aber die entscheidenden Leute; Walter Rathenau - kennen Sie ihn noch? - er war in den zwanziger Jahren so eine Erscheinung, ein belesener, weltläufiger Mann, der es zudem auch zu erheblichen Millionen gebracht und, wie sein Biograph Graf Keßler vermeldet, ganz ähnlich wie dieser Springer eher aus dem Unberechenbaren, aus etwas fast Künstlerischem als aus dem Kalkül des Geistes heraus gelebt und gewirkt hat - ich glaube Verschlüsselungen seiner Gestalt begegnet man bei dem Schriftsteller Jakob Wassermann, ein Ur-Großonkel übrigens meiner gewesenen Frau Christiane, also nicht in direkter genetischer Kette verwandt. Weil einige Früchte vom wassermännischen Federfleiß (Etzel Andergast, Joseph Kerkovens dritte Existenz, komische Titel) in meiner ersten Bibliothek enthalten waren, kamen wir uns vielleicht näher, als für uns gut war - Franka hatte da mit ihrem absurd perspektivischen Plan im Geiste Vermeers nur etwas zertrümmert, was auf ähnlich zwischen uns uneingestehbare Weise instabil geworden war, wie meine dummfaustische Liebe zu Ingeborg kurz vor ihrer Abfahrt nach England . . . - Schön und gut, dieser Springer war hier in der Gegend also die unumschränkte Nummer eins, es bedeutete ihm gar nichts, ein paar Millionen einfach mal herzugeben, er hats auch ein paarmal getan, wie Rathenau belesen, weitläufig, reich, mächtig, ein Arbeitgeber, hoch intelligent, wie es schien; die Stadt zitterte vor ihm, nicht meine Sphäre, eher schon die des glänzenden Peters und seiner Frau Gabrielle-Alexandrine , aber die Sphären berühren sich manchmal, seltsam, es gibt da ab und an einen Zwischenbereich, einmal tauchte diese absolute Nummer eins auf einer Silvesterparty bei recht guten Freunden von mir auf, in recht engem Kreis, der Grund tut wieder nichts zur Sache, aber es waren auch einige andere, nicht ganz so große, nicht nur lokale Berühmtheiten da, auch solche Leute brauchen schließlich ein Privatleben, da kann man auch den Springers manchmal begegnen, Wesen von einem anderen Stern, die man nur aus den Medien kennt, und die man ihrer Medienerscheinung wegen auf groteske Weise unterschätzt. Bei denen man immer denkt, man könne das vielleicht auch, so wie Helmut Kohl sein zum Beispiel und sogar besser reden als dieser, nur weil man ihn mit der Fernbedienung lauter und leiser stellen kann oder ganz wegschalten, es ist wie bei der Erfindung des Feuers - aber natürlich kann man nichts. So jemanden dürfen Sie sich in diesem Springer also vorstellen, einen enorm klugen Mann, von enormer gesellschaftlicher Erfahrung, wobei das Realste im Umgang mit ihm vielleicht seine eingefleischte Überzeugung war, daß alles, was je auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft oder des Gefühls geschaffen worden war, nur ein mehr oder weniger geschickter Trick sei - es ist erhebend, wenn man mit solchen Personen in ein halbstündiges intimes Gespräch über Kindheit und Berufsanfänge gerät - später liest man freilich dasselbe in identischen Worten in ihren kreuzbiederen Biographien. Aber sofort wenn man mit ihnen redet, spürt man die eigenen Grenzen, da ist man, wenn man zu zweit mit ihm im Raum ist, nur noch die Nummer zwei, und je mehr sich da versammeln, desto kleiner wird man, bei dieser Party war ich von zwanzig Anwesenden vielleicht die Nummer achtzehn, oder achtzehneinhalb. Ich kam selbst hinter dem bei dieser Angelegenheit ebenfalls zufällig anwesenden Thomas, den das an diesem Abend ablaufende Geschehen noch ungläubiger machte, als er ohnehin schon war. Es ist das Privileg einer kleinen Stadt, daß man irgendwann einmal dem Klügsten begegnet. Danach begriff ich, daß ich nie Erster werden würde, höchstens der Fassbinder hätte diesem Springer da seine Grenzen zeigen können, aber auf seine dumm-dreckige Weise natürlich nur, mit ihm gemein Bier ins Gesicht spritzen im Grunde, oder mit auf den Teppich pinkeln und Ähnlichem. Na Schwamm drüber. Interessant, daß ich diesen Moment der Einsicht so genau datieren kann, es erinnert mich an das Silvesterfest im Abaton zur Jahreswende 1973, wo ich begriff, daß Film eine von Grund auf minderwertige Sache ist, daß man aber vielleicht doch noch was damit anstellen könnte, wenn man in Richtung verlorenes Wort zielte. Nun ist mir freilich das Pulver ausgegangen. Von nicht gesprochenen Worten konnte Silvester 1989 selbstverständlich nicht die Rede sein, im Gegenteil es wurde, da jener dominierende Springer mangels ihm unbekannter Damen, an die quirrlige Gabrielle-Alexandrine traute er sich nicht mehr heran, sein bei derartigen Veranstaltungen übliches Vergnügen nicht zu praktizieren vermochte, sich den Freundinnen anwesender Möchtegern-Berühmtheiten ungeniert grapschend zu nähern, recht viel geredet. Eine interessante Sache dieses leicht pervers anmutende halböffentliche Verhalten des Springer und wie er mit seinem harmlosen Grapschen diesen oft schon ein wenig Berühmten, die bereits meinten, sich an der Größe des Allergrößten messen zu können, in Sekundenschnelle ihre Beschränktheit klarmachte, das war für Springer ein richtiger Sport geworden. Vielleicht bestand darin sogar das Geheimnis der ihm ganz eigenen Größe. Um die direkte Erbeutung der Frauen ging es dabei nämlich gar nicht, die stellte sich dann oft wie nebenbei her, weil den betreffenden Damen bei diesen unerwünschten Annäherungen unmißverständlich die minderwertige Feigheit ihrer Liebhaber vermittelt wurde, die den Springer zu ohrfeigen sich nämlich nicht trauten - mehr aber noch wurde den Liebhabern unmißverständlich ihre eigene Feigheit, ihre natürlich gründlich durchmoralisierte und daher nie eingestandene Feigheit, im Umgang mit der Macht klargemacht: sie werden auf ihren Platz verwiesen, das hatte richtig etwas funktional Rationales, wenn man so will sogar etwas Aufklärerisches, weil sie in ihrer Schlauheit nur zu gerne ein wenig von so einer Begegnung profitieren würden, mit dieser unausgesprochenen Erwartung waren sie ja, das immerhin konnten sie vor sich ruhig zugeben, zu dieser Veranstaltung gekommen. Mit so einer Erwartung tanzt nämlich fast jeder an, wenn er hört, daß so ein Mächtiger mit ihm im Raum sein wird. Aber wer freiwillig in den Palast des Königs kommt, darf ihn nicht ohrfeigen, wenn der König ihn seine absolute Macht spüren läßt, das ist lächerlich und insofern hatte dieses scheinbar perverse Verhalten des Springer in seinem Kern gar nichts Perverses an sich, die Perversität liegt allein im sich überraffiniert einen Vorteil erschleichen Wollen. Die eigene Feigheit bringt es an den Tag. Und wer einmal so in die Schranken gewiesen ist, wird sich fortan, wenn überhaupt, sehr viel vorsichtiger, vielleicht sogar, und daran liegt das erstaunlich rationale eines solchen Verhaltens: aufrichtiger nähern wollen. Und nicht mit irgendwelchem Unsinn, sondern höchstens mit etwas nicht nur einen selbst Interessierenden, mit etwas, das sogar die Qualität der eigenen Freundin überstieg - und darin, daß man belanglosen Unsinn von sich fernzuhalten vermag, liegt gewiß eine der Qualitäten wirklicher Macht. Doch wieder zurück: da von aus Feigheit nicht gegebenen Ohrfeigen und der Erniedrigung aufstrebender junger Männer an diesem Abend leider nicht die Rede sein konnte, begann sich der Allergrößte bald ein wenig zu langweilen und so kam es irgendwann zu einer Begegnung von Springer mit meinem alten Freund Markopoulos, da hatten sich zwei gefunden. Wie eine Liebesaffäre sah es aus, zwei in etwa Gleichaltrige über und an die sechzig, beide in zumindest ihrer Berühmtheit erfolgreich, beide hochintelligent in ihrem Beobachten, im Witze anreißen und sie raffiniert nicht zu Ende erzählen, das ist wirklich eine Kunst - Markopoulos war, zusätzlich zu seinem im dortigen Raum bekannten erheblichen Werk, zudem ein äußerst sprachgewandter Lebenskünstler, was er auch jetzt blieb, obwohl Springer natürlich all seine einschüchternde Macht im Hintergrund hatte, aber dies war ein Fest, da wollte auch der Allerschlaueste zeigen, wie klug und bloß Mensch er sein konnte und daß er mit so einem Künstler oder Lebenskünstler auch von gleich zu gleich in der Künstlerliga zu spielen in der Lage war. So wie sich jedermann (ich übrigens nicht) einbildet wie Helmut Kohl sein zu können, weil man eine Fernbedienung hat, bilden sich nämlich auch manche von den Helmut Kohls und vor allem die Springers dieser Welt ein, daß sie, hätten sie es drauf angelegt, erfolgreiche Künstler hätten werden können, schon weil sie sich in der Lage sahen, Bilder zu kaufen und, wenn sie Lust hatten, auch wieder zu verkaufen. Es war wie ein Wettkampf zwischen einem Leoparden und einem Krokodil, wobei ich nicht weiß, wer hier wer gewesen sein soll, wir anderen saßen daneben und schauten diesem Feuerwerk zu, dieser guten Laune, diesem Feuerwerk von intellektueller Geschmeidigkeit, und vor allem Springer steigerte sich da noch hinein, weil er unsere Blicke genoß, weil er sich hier endlich einmal ohne seine Macht bewähren konnte, als Mensch unter Lebenskünstlern - schon begannen die Zuhörer, von denen einige bei jenem Springer zwar nicht ganz im Brot standen, aber doch hofften vielleicht einmal bei ihm im Brot zu stehen (wer will schon wissen, was kommt), Noten zu verteilen, die einzelnen Bemerkungen mit wertendem Gelächter zu kommentieren, wie beim Eiskunstlaufen, ganz anders als bei meinem hilflosen Paarlaufen gegen die zähen Schmidt/Tappert, wo man den Sieger genau, in Metern sogar, bestimmen konnte - mal neigte sich die wertende Waage des Gelächters dem einen zu, mal dem anderen, von abgrundtiefer Heiterkeit das Ganze, obschon der Raum von all der Angst vor diesem Springer so sehr zitterte, daß die Steinwände selbst schon zu zittern schienen, da kam das Gespräch auf das Haus, das der gute Markopoulos sich wie jeder arme Künstler so gern noch fürs Lebensende wünschte - Springer besaß selbstverständlich mehrere, Dutzende, überall auf der Welt, auch in Frankreich, Italien, Spanien, wohin man wollte, wo auch Markopoulos natürlich gern hinwollte, und Springer hätte nichts einzuwenden, daß ihn Markopoulos da mal besuchen käme, gerade nach diesem Gespräch, wo man sich endlich mal schätzen gelernt habe, da könnten sie dann bei Wein zusammensitzen, zwei nun leider alt gewordene Männer, die sich gefunden hatten, nicht ganz in Weisheit, aber irgendwo in der Nähe davon bereits, die über Gott und die Welt plauderten, irgendwo im Süden, nein, nein, selbstverständlich nicht in der Toscana, da gäbe es doch schönere Flecken, zwar unter blauem Himmel und Pinien, aber doch noch mit richtigem Buschwerk, ja, es gäbe da ein Haus, für das er ohnehin jemanden suche, wegen der Waldbrände . . . und dann kamen sie launig auf was anderes, sprachen von diesem und jenen, mit sie weiter stumm anfeuernder Zuhörerschaft, deren Stummheit im wägenden Gelächter die Wände inzwischen wirklich zum Zittern gebracht hatte, sogar die Erde begann in wirrer Stummheit zu beben - aber nun hatte Markopoulos Beute gewittert, er hakte nach, die Lunte war gelegt, er fragte weiter nach jenem Haus inmitten von Buschwerk, das man vor dem Feuer schützen müsse, immer wieder, und ob sie nicht auf dem gleichen Grundstück nicht noch eins bauen könnten, nach seinen Plänen, und er würde da hochgern aufs Feuer aufpassen, wenns da Zypressen gäbe, müsse man sie freilich abholzen, das wären widerliche Bäume, wieder bog Springer ab, aber Markopoulos kam immer wieder drauf zurück und Springer gabs ihm zu, versprach ihm mehrere Tausend Mark, wenn er dort auf Feuer aufpassen wollte, versicherte ihm, daß er gleichfalls keine Zypressen mochte, daß er sie schon immer für langweilig, von Grund auf für deprimierend hielt und daß deshalb in vierzig Meilen Umkreis nicht eine einzige mehr stände, dann mehrere Zehntausend, darüber ließe sich zu einer Vereinbarung kommen, auch an ein einigen Hundertausend müsse das nicht gleich scheitern und am Ende war sogar von einer Schenkungsurkunde die Rede für den guten Markopoulos, damit sie umbauen konnten und gemeinsam an der weinberankten Wand in der Abendsonne Wein trinken, obwohl diesem Springer nach Wein gar nicht war; selbstverständlich war er jetzt schon besoffen, wie viele erfolgreiche Männer trank er in Gesellschaft aber lieber Bier, mehr als allen anderen lieb war, doch auch dann ließen sie sich nicht unterkriegen, aber Markopoulos ließ immer noch nicht locker, das Gespräch ging immer weiter, die Zuschauerschaft lauschte gebannt, selbst Gabrielle-Alexandrine wurde stumm, ein ungeheurer Altruismus war hier am Werke, ein ungesehener ungeheurer Altruismus, die Waage des Gelächters neigte sich immer mehr dem Springer zu, während Markopoulos immer mehr zum Bettler wurde - keiner sonst mochte mehr reden, weil dies für den Markopoulos vielleicht der wichtigste Moment in seinem Leben werden würde, und jetzt wurde der kluge Markopoulos vorgeführt, an der Nase herumgeführt, seine Lebensleistung für Null erklärt, zum Bettler gemacht, der sich drehte, fast winselte und immer neue Betteleien erfand, der um etwas Schriftliches bettelte, er wurde erbarmungslos in seiner bettlerischen Beschränktheit gezeigt - nur weil sich der arme Markopoulos vom Grund seiner Seele nach so einem Haus mit Buschwerk sehnte, hatte ihn der Springer am Wickel, neue, ihm unbekannte Weiber, die ihn von seinem brutalem Tun noch hätten abbringen können, gab es nämlich hier für ihn keine. Dies war tatsächlich ein Kampf zwischen einem Leoparden und einem Krokodil, darum was nun besser war, die Künstlerschaft oder das Nummer-Eins-Sein, und egal was der gute, der geniale Markopoulos nun noch versuchte, wie sehr sich dieser Markopoulos noch um Gleichheit bemühte oder um gar wieder Überlegenheit, es wollte ihm nicht mehr gelingen, und jener Markopoulos stellte mich bei derartigem an Welterfahrenheit, Genialität und Leistung weit in den Schatten. Markopoulos wurde in seiner bettlerischen Beschränktheit gezeigt, wie wir alle jederzeit in unserer bettlerischen Beschränkheit gezeigt werden können, auch Springer selber: der Allerklügste war er leider nur hier in Hamburg, in Bonn war er es schon in viel geringerem Ausmaße, in Frankreich kannten ihn schon nur noch die dortigen Allerklügsten, und in Amerika war er mit seinen paar hundert Millionen, in den ihn interessierenden Kreisen schon fast selbst ein Bettler, da fuhr er nie gern hin. Die Amerikaner hielt er nämlich für minderwertige Materialisten, weil sie nur auf sein Geld schauten und sie sich von der Höhe seines Bankkontos nicht beeindrucken ließen. Aber Markopoulos solle am nächsten Woche bei seiner Sekretärin anrufen, und die würde dann die Vereinbarung über eine Schenkung ihm aushändigen, das war sein letztes Wort. Dieses sich über mehrere Stunden, bis Mitternacht hinziehende, alles dominierende Gespräch hat bei den dabei Zuhörenden eine derartige Beklemmung ausgelöst, daß ihnen noch ein paar Wochen danach die Tränen kamen, wenn sie sich daran erinnerten, vor allem, weil dieser Springer nicht im Traum daran dachte, nie daran offenbar auch nur gedacht hatte, dieses vor uns als Zeugen gemachte Versprechen auch nur im mindesten einzulösen - Markopoulos kam nie wieder zu ihm durch, wenn er anrief, und die Chef-Sekretärin in seinem Hochhaus wußte von nichts. Da wurden auch die Zeugen, ich war darunter ja das kleinste Licht, die sich so wichtig vorkamen bei diesem Ereignis, so wichtig vorkamen in ihrer Zeugenschaft, zu einem Bewußtsein ihrer eigenen bettlerischen Beschränktheit gebracht, ihrer eigenen bettlerischen Zeugenschaft gebracht, aber das spürten sie, spürten wir schon den ganzen Abend - keiner von uns hatte sich etwas zu sagen getraut, was in den Ohren des Allerklügsten schäbig klingen könnte. Ich kann es genau datieren, denn auf dem Fernseher erschienen dann die Bilder vom Silvesterfeuerwerk vor dem Brandenburger Tor anläßlich der fast schon vollzogenen Wiedervereinigung, und dann, als die anderen sich nach draußen zu eigenem Feuerwerken verzogen, und manche sich wiederum erschüttert von diesem Vorführen des Markopoulos in alle möglichen Winkel der Wohnung verkrochen hatten, blieb jener Springer noch vor dem Fernseher sitzen; bei ihm ein Kind, mit dem er sich nach wenigen gewechselten Sätzlein blendend verstand, und ich - auf einmal allein mit dem Größten in diesem Zimmer, als Nummer zwei, in meiner Traumposition, wie Sie inzwischen wissen, auch ich noch erfüllt von diesem göttlichen Altruismus, der meinem lieben Freund Markopoulos endlich einen glücklichen Lebensabend bescheren würde, ich wußte ja noch nicht, wie es ausgehen würde; ich machte wohl eine intelligent klingende Bemerkung zur Wiedervereinigung und auch Springer war sich nicht sicher, was er davon zu halten hatte, ich fühlte mich schon eine Spur gleichberechtigt, erhoben zum Höchsten, da machte dieser Klügste und Gewandteste und Mächtigste gegenüber dem Fernsehbild und den Fahnen und dem Feuerwerk am Brandenburger Tor eine so von Grund auf obszöne Geste, daß ich sie nicht beschreiben kann, daß ich kaum daran denken kann, sie zu beschreiben, nicht in fünftausend Jahren - eine obszöne Geste nicht im Sinne des gewöhnlich Obszönen, nicht gegenüber dem Kind etwa, diesem unschuldigen kleinen Jungen, oder etwa mir, daran war gar nicht zu denken, wir beiden Zwerge der Geschichte waren von ihm kaum wahrgenommen, nicht einmal als Zeugen des Geschehenen, nun Wahrgenommen, kaum wahrgenommene Zeugen, es war eine Geste gegenüber dem Fernsehbild, aber von so abgrundtief obszöner Art, daß es mir die Stimme verschlug, und nicht nur die Stimme, auch meine Stummheit - und von da an wollte ich keine stummen Bilder mehr machen, von da an wollte ich nur noch schreiben; und das tat ich dann, ich schrieb, ich schrieb hunderte von Seiten, bald waren es tausend, ich schrieb obwohl ich gar nicht schreiben konnte, es war wie mit Helmut Kohl und der Fernbedienung, wohl hatte ich manches gelesen und bildete mir ein, schreiben zu können, aber es war, wie ich leider nur zu bald an der Verquältheit des Geschriebenen bemerkte, ein trauriger Irrtum - es ist wirklich traurig, zu schreiben, wenn man nicht einmal weiß, was Sprache, Rede, Wort und Metapher sind, es ist von Grund auf eine Schande, wenn man kaum das Warum seines Schreibens kennt und schon gar nicht das Wie, voller Scham zudem darüber, weniger noch als eine Pythia zu sein und nicht mehr als die plappernde Anja - doch ich schrieb weiter, es schrieb sich weiter. Am nächsten Tag brachte ich dem Springer noch seinen Mantel, den er bei seinem Abschied vergessen hatte, er öffnete mir persönlich die Tür. "Vielen Dank, Richard", sagte er mir, bevor wir uns freundlichst verabschiedeten, im Geiste größter Freundlichkeit, innerhalb von zwanzig Sekunden maximal gefühlter Freundlichkeit von Mann zu Mann. Dieses knappkurze: Richard . . . Nicht einmal: lieber Richard . . . ganz ohne jedes Schleimige war etwas in seinem Danke auf so unbedingt schöne Weise einnehmend, daß ich, von der allerliebenswürdigsten Liebenswürdigkeit selbst scheinbar empfangen, so sehr umfangen, auf einmal wie Butter vor ihm zerfließen und zu Dantes berühmter la pozza lorda werden wollte, zu Pfütze und Fotze, der schmutzigen Laache, mit der jener Springer jetzt bitte machen sollte, was er nur wollte. Ha, Dante! - die ältesten Bilder haben bei derart Ungeheurem immer noch die stärkste Kraft - und aus dem einen tausend wurden zweitausend Seiten, und noch ein paar tausend, jedoch weiß ich, daß ich durch noch so viel Schreiben nie mich der Klugheit des Klügsten annähern werde, es ist wie bei den achthundert Metern bei der deutschen Jugendmeisterschaft, wo mein Konkurrent eine um vier Sekunden bessere Bestzeit aufwies: da kannst Du Dich 100 Meter vor dem Ziel zwar noch als Zweiter fühlen, aber wenns drauf ankommt, kann er mit dir spielen und Danke für den netten Kampf sagen, und so habe ich weiter geschrieben, habe Tausende von Seiten ohne Unterbrechung beschrieben, und schreibe noch immer Tausende von Seiten, als wolle ich mich zu Tode schreiben, die so wirr und unlesbar sind, voll von so bizarren Gedankenübergängen und Wechseln im Ton, daß niemand sie lesen mag, denn ich konnte nicht schreiben. Nach diesem uns gemeinsam erschütternden Silvesterfest hatten Thomas und ich vor, eine Woche lang jeden Abend zusammen ins Bordell zu gehen, um wieder einmal etwas seit Urzeiten Übliches zu erleben, nicht diese hochspezielle Unterwürfigkeit, wie sie unsere Gesellschaften erzeugt haben, etwas uns wieder zu Menschen werden lassendes, er ein Idiot des Geistes, ich einer der Kunst, das haben wir dann aber feige nicht gemacht, feige haben wir uns, haben sich Geist und Kunst da nicht im Bordell verbrüdert, um den Glauben wieder zu gewinnen, und so habe ich wieder mal tausend Seiten geschrieben, darüber und wer weiß, über was noch, ich habe den Überblick verloren und kann das schon gar nicht mehr alles lesen. Der Name dieses Klügsten tut nichts zur Sache, gewiß gibt es tausend Klügere als ihn, aber sie hocken noch in den Löchern, an diesem Abend habe ich verstanden wieso; weil sie der momentan Klügste jederzeit vorführen kann, weil er ihnen jederzeit die Gurgel abschneiden kann, und dann wären sie für ihr Leben vernichtet, mehr vernichtet als ich es je sein werde, obwohl sie tausendmal klüger waren, obwohl sie tausendmal klüger sind, als nicht nur ich, auch als dieser momentan Klügste - und auf diesen in Kürze wieder namenlos gewordenen Klügsten wird ein weiterer folgen, und wieder werde ich 8 Sekunden hinter ihm hereilen, ob ich nun Filme mache oder schreibe, denn das ist meine Bestimmung, denn ich bin nur ein Wald- und Wiesenjunge. Auch dieser Klügste kam sich wohl einmal wie so ein Wald- und Wiesenjunge vor, er machte jedenfalls am Anfang jenes Festes einen solchen Eindruck, wenn er von seinem Herumstreunen in der Welt erzählte, von Kirchner und Müller, und daß er Matisse für einen Langeweiler hielte (das tue ich nicht); schon daß er sich überhaupt mit unsereins eingelassen hatte, gab ihm freilich etwas in seiner Klasse schon Altmodisches - oder vielleicht war er eher ein Wald- und Wiesenpferd, die Mischung von einem Springer und einem genialen Hannoveraner, wie der inzwischen in manchen Kreisen berühmt gewordene und zu Lebzeiten allergrößte Versager, der englische Dichter Gerard Manley Hopkins in Bezug auf einen ihn unterrichtenden Theologen in seinen Tagebüchern vermerkt, was schon an Musils berühmtes geniales Rennpferd gemahnt. Ein genialer Theologe. Vielleicht kam der Allerklügste sich aber auch schon von Anfang als ein Wald- und Wiesenhengst vor, ein richtiger Springer, der das Land kontrolliert und die Stuten in seinem Besitz wissen will, und der zu seinem Bedauern erkannt hat, daß der einzige wirkliche Reiz der Macht in ihrem gelegentlichen Mißbrauch liegt. Jederzeit kann ein solcher die Klugheit Ausscheißender mich zu einem Klugscheißer machen. Ich habe in dieser Liga nichts zu suchen, ich bin nur eine verstiegene Art von Mutter. Und ich werde nie reich und mächtig, wie keine verstiegene Mutter je reich geworden ist. Die anderen wirklich Klugen halten sich bedeckt, sie halten sich zurück, verbergen, sollten sie eine haben, die Natur ihrer Mutterschaft, überlassen sogar einer Null wie mir gelegentlich den zweiten Platz, aus Angst vor dem Allerklügsten, der sie jederzeit zur Schnecke machen könnte, und wenn er wollte sogar zum Einzeller, zu schal schmeckender Ursuppe, zum Bier von gestern. Was da an diesem Silvesterabend geschah, ist weder gut noch böse, es ist einfach vorhanden, Himmelsmechanik ließe sich dazu sagen - Der Leopard ist ein Leopard, das Krokodil ein Krokodil, und am großen Bären kann man am nächtlichen Firmament sogar bei allem alle möglichen Vereinigungen feiernden Feuerwerk erkennen, wo der Polarstern schwebt, wo Norden liegt. In eisiger Kälte. Wenn Leopard und Krokodil miteinander kämpfen siegt immer derselbe. Zwei Planeten, zwei Sonnen messen ihre Stärken, die größere Masse siegt. Darin besteht sogar eine gewisse Originaltät. Ein gewisser Newton hat sie erkannt, und mußte über sein Erkennen wahrscheinlich herzhaft lachen, ein Apfel von einem Ei, wie wir im Norddeutschen sagen, heureka, davor schien es noch niemand gewußt zu haben. Erstaunlich. Auch die Menschen werden schlauer. Immerhin kann ich anhand solch kosmischer Ereignisse die Länge meiner Hoffnung für stumme Bilder messen - sie belief sich auf ganze siebzehn Jahre, in denen seltsamerweise die ins Bier sackende Dialektik meines Freundes Thomas Reifenberg mir ein steter Begleiter war, auch die an diesem Datum zu einem Ende gekommen; hinterlassen hat diese Zeit nicht nur den ungläubigen Thomas sondern auch mich, zwei weitere Nullen, unsterblich beliebig, aus denen sich die unbegreifbaren Zehnerpotenzen des Universums zusammensetzen, die es aufbauen, es zum Strahlen bringen lassen und aus denen allein es offenbar besteht - begreifbar anscheinend nur durch Potenz. Doch daß selbst Nullen sich anziehen, einander sogar umkreisen können, einander sogar umfangen können, ist im menschlichen Universum ja nicht die Ausnahme.

Vom Kreisen der Gedanken über die Natur Gottes zu einem Umkreisen einer Rennstrecke, wie dieser Jim Clark sie praktiziert hat, ein idiotisches in Tausendstel Sekunden gemessenes Gekreise um irgendein goldenes Kalb, das sogar das Idiotische meiner 800 und 1000m-Rennen noch in den Schatten stellt, ein Spiel mit Nullen, es scheint das einzige zu sein, worin wir noch einen Sinn erkennen können, alles andere, das Höher-erscheinen-Wollende, ist - Talmi. Von John Duns zu endlich Jim Clark. Von der Kunst zum Automobilsport. Selbst für den Größten ist seine Größe nur Sport. Kürzlich besuchte ich Peter wieder, dem ich nicht weniger verdanke als Paul Sharits oder dem großen Stan Brakhage, auch er redet jetzt bloß noch von Fußball und Fernsehen, dazu perverserweise von Spielberg - vom weißen Hai! - seiner Ansicht nach der einzig gute Film im letzten Jahrzehnt. Oh, wie schmerzte, daß er damit auch meine und meiner Freunde Arbeit abwertete - seine Frau tat das übrigens nicht - aber so was muß man ertragen können mit Freunden und in Künstlerschaft, obwohl es unerträglich ist, und, Ach, wieder muß ich eine abfällige Bemerkung über Peter machen, dabei meine ich es gar nicht, denn auch ich gucke mir nur noch Fußball und Autorennen im Fernsehen an. Verglichen mit mir ist Peter weiterhin klug und weise, er ist zäh, eigensinnig und sein Urteil unvorhersehbar, immer erhellend, immer hat er mich erhellt, die ganze Republik hat er sich zum Feind gemacht, mich bislang Gottseidank nicht; auch wenn dies anders klingt, aber ich hasse es an mir, wenn ich diesen Heruntermachreflex in Bezug auf Peter verspüre - ohne diesen Peter wäre ich nichts, nur wegen ihm konnte ich den entscheidenden Sprung im Leben schaffen, den Sprung ins Selbst-etwas-machen-Wollen, den Sprung in das Nicht-mehr-bloß-konsumieren-Wollen; ins nicht bloß konsumieren, ins nicht bloß Jemanden-fertigmachen-Wollen, um darüber ein Urteil abzugeben - Matisse ist ein Langeweiler - wie wir es alle so gern tun; Brakhage zeigte mir wohl, daß es auch ohne Glanz geht, aber so ein Glanz gibt einem doch etwas Perspektive, und Peter ließ mich davon schmecken, von einer anderen Ebene, die er mir öffnete, ohne daß es ihm bewußt war, zwar nur eine der Kritik, aber einer höchst eigensinnigen und nicht servilen - in einer einzigen Stunde letztendlich, vermutlich auch in diesen berühmten 20 Sekunden, bei einem langweiligen Biergespräch am Kneipentisch, bei dem er mir ein Bier spendierte und meinen Widerspruchsgeist reizte: von da an wußte ich, daß bloßes Konsumieren mich nicht in seine Klasse führen würde; er vermittelte mir eine Sehnsucht, bohrend muß man sie nicht gleich nennen, nach wenn nicht vornehmeren, darum geht es in unserer Zeit nicht mehr, so doch irgendwie höheren Daseinsformen als denen, die meine Umgebung für mich bereitstellte; ein wahrer Vater, der mich ins Höhere holte, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, wie alle Väter in jenen einen allerwichtigsten Moment, den nur das Kind wahrnimmt, der Knabe - eine höchst gefährliche Angelegenheit, für offenbar beide, so ein beiläufiges Gespräch mit einem Siebzehnjährigen am Kneipentisch, schon weil man es beim besten Willen nicht erinnern kann - und jetzt merke ich, daß ich diesen Peter, der in mir die herrliche, die maßlose und doch so schön anzusehende Widerspruchsenergie junger Männer zum Zittern gebracht hat, mit einem ganz falschen Namen versehen habe, Sie wissen ja bereits, daß es nicht sein eigener ist; seine mich verletzende Bemerkung über Spielberg hat's mir verraten: er war gar kein Sankt Peter, der mit mir oder irgendjemandem sonst eine Kirche bauen wollte - mit dem Bier, das er mir an jenem Abend spendierte, hatte es eine ganz andere Bewandtnis - er war ein Johannes, der nicht nur mich getauft und nicht nur mir den Blick auf Höheres gerichtet hatte, sondern vielen, manche lernte ich später sogar kennen, ansonsten wollte er auf eigene Art der Heiligkeit näher kommen, als eine Art Rufer, einer in der Wüste, wo er sich mit deren erbärmlichen Kreaturen herumschlug, ein wahrer Prophet! soll ich ihm das verdenken?: Die Wüste wächst - Weh dem, der Wüste in sich hat! Und daß er als so ein Prophet und Johannes von Glück sprechen könnte, wenn ihm von einem Herodes oder Augstein, Statthalter in dieser Gegend von Amerikas Gnaden, nicht in einer Laune der Kopf abgeschlagen würde, weil jener mit einer ihn reizenden Tochter zu schlafen begehrte; denn nicht nur die Schotten sind heute primitiver geworden, auch die Statthalter sind es und denken gar nicht mehr daran, mit ihren eigenen Töchtern zu schlafen, Peters Söhne und Töchter und sogar Enkel wären so einem gerade recht. Doch schließlich ist jener Augstein nicht Statthalter hier in der Gegend und Peter weder Peter noch ein Johannes (und dieser Richard vor allem kein Christus, nicht einmal ein Heiliger Nikolaus), sondern er ist ein liebenswürdiger Mensch aus eigenem Recht, ein Mensch, dem ich alles verdanke, und er mir nichts. Ich möchte mich bei ihm und seiner allerherzlichsten Frau allerherzlichst und artig bedanken, und in meinem schlicht artigen Dank vor allem nicht so einnehmend sein wie jener Springer, als ich ihm seinen Mantel zurückbrachte, richtig gefühlter Dank darf ruhig etwas billig Abstoßendes haben - freilich darf man sich wohl auch das Mittelalter nicht zu allzu süß vorstellen, jene Leute aus jener Zeit lange vor den Autorennen, wo die Leprakranken noch mit an langen Stangen befestigten Klingelbeuteln an den Kirchentüren bettelten, diese Genies, Duns Scotus, Peter Aureoli, William Ockham, Henride de Gand, diese wirklichen Genies, sie waren keine demütigen Wichte, nicht niedliche Kindchen, die mit Inbrunst die Natur Gottes erkunden wollten - sie waren Großmäuler, Predigernaturen, eingebildete Götter über dem unwissenden Elend der gemeinen Bevölkerung, die einen lieben Kollegen bei der ersten Gelegenheit wegen möglicher Ketzerei ans Messer zu liefern bereit waren, um dessen Posten zu ergattern, wie Journalisten im Fernsehen, von Politikern kennt man das ja seit langem - ich sehe sie vor mir in ihrem Disputieren, ihren quodlibets, in dem sie sich in quaestiones aufbliesen - aufgeblasen, rechthaberisch und dabei von schreiend schlauer Dummheit, wie auch ich aufgeblasen und rechthaberisch bin und in meiner schlauen Dummheit schreien möchte; und wie sie gemeingefährlich waren, wäre auch ich gemeingefährlich gewesen, wenn ich nicht geschwiegen hätte, wenn ich nicht stumm geblieben wäre, mein Gott: ich habe Stummfilme gemacht, jetzt, heute, wo nicht nur Anja, sondern alles plappert: Bilder vom verlorenen Wort!

***

Vom Urknall also zu Augstein, das läßt sich hören, von mythischer Spekulation also zur wöchentlich erscheinenden Zeitung, denn daß Ziel des Universums die Hervorbringung eines solchen Richards wäre, wie ich es einer bin, ist mehr als zu bezweifeln. War Ziel des Urknalls aber tatsächlich die Hervorbringung eines mit unbestechlichen Augen versehenen schlau plappernden Steins, einer gesunden Mischung vielleicht davon mit dem Stein der Weisen, zu unbeflecktem Journalismus also, war dieser das Ziel des heldenhaften Kampfes der Fische? Und des heldenhaften Kampfes der Mütter um Mutterschaft? Es ließe sich denken. Es wird gedacht. Nicht nur von Journalisten übrigens. Und Anja? Ach, ihr längeren Gedankenketten! Sprach Anjas schlaues Lächeln, als sie begriff, daß ich ihr meines Vaters Eiffelturm da nicht hineindrehen wollte, von nichts anderem als einem schlauen Erkennen einer ebensolchen längeren Gedankenkette, für sie ebenso wichtig? Vor jenem Lokal, das Brücke hieß, aber gar keine Brücke war, sondern ein gelbes Aquarium im Schwarzen der Nacht, voller Licht, voller sich drängelnder Gestalten, voll von aufgequollenem Kaviar, der nicht mehr Fisch sein wollte - nein, hier draußen, hier über uns war Brücke, eine, auf der freilich nur U-Bahnen fahren, denaturierter Untergrund, darunter bastelte die Anja an ihrer verlockend unwahrscheinlichen Gedankenkette, in ihrem praktischen roten Auto, das auch ein Aquarium war, aus dem heraus sie freilich die Scheiben runterkurbelte, hochgefährlich - und weit darüber die Sterne, auf deren keinem etwas Ähnliches wie hier auf Erden geschah . . . Lächelte sie so schlau, weil sie auf einmal sah, daß sie die Freiheit hatte, jenes sternenbestrahlte Jammertal, das nicht nur Scheinheilige schon als ewige Folter begreifen wollten, für eine Weile zu verlassen, daß sie wieder einmal die Aussicht hatte, nicht bloß gefickt zu werden, sondern daß sich dies vielleicht in eine Art Spiel verwandeln ließe? Ha, Elend der Philosophen, von der Wirkung auf die Ursache schließen zu wollen, wie oft man dabei in die Irre fährt - ein schlaues Lächeln. Weil Schlauheit das einzige ist, was man heutzutage noch mit seiner Freiheit anzustellen versteht? Auch das mag sein, selbst das erschüttert. Da sieht man mal, wo man hinkommt, mit diesem ‘zum Beispiel’! Zum Teufel mit diesen Beispielen! Leider hat man von der Freiheit nicht viel, wenn man sie als so ein stummer Fisch im grünen Aquarium erlebt, da kann man noch so viel plappern . . .

Dabei fällt mir ein, daß man als eine einem selbstverständlich gewordene Nummer-Zwei-Existenz natürlich auch eine interessantere Liebeswahrnehmung hat, ich habe keinerlei Interesse mehr, in einer Liebesbeziehung die uneingeschränkte Nummer 1 zu sein, (auch deshalb mochte ich wohl nach dem Sommer mit meiner Ingeborg nicht mehr mit Frauen unter, ich sage es so genau: sechsundzwanzig zusammen sein), beim Thema Nr. 1 hat meine - Wenigkeit? - als Nummer zwei einen hochprivilegierten Beobachterstatus: Ah, die Frau, nicht nur evolutionstechnisch gesehen die Nummer 1, im sogenannten Orgasmieren betrachten - herrlich! Da ist man nicht mehr homo politicus oder homo mortalis, da ist man homo transcendens - was will man mehr? Da schafft man sogar, ein rotes Auto in ein grünes Aquarium zu verwandeln. Ach die Segelflugzeuge am Mittleren Landweg, ihr leichter Flug - ich habe auch sie zu erwähnen vergessen. Ja: ich erinnere mich, einmal mit dem Fahrrad zu diesem Segelflugplatz gefahren zu sein, nach, wie es mir heute vorkommt, unzählig vielen Jahren, in denen ich, mitunter sogar in Träumen, die Segelflugzeuge ihre ruhigen Runden drehen sah, hinter den Wiesen und noch hinter der Kirche - was mag ich gedacht haben, wenn ich sie als Kind beim Fliegen beobachtete? Ein Segelflieger ist aus mir ja nicht geworden, so einfach spielt das Leben offenbar nicht - nicht einmal ein Flugkapitän. Es war erstaunlich schwer, den Flugplatz, die Quelle jener sonderbar leichten Eleganz in den Lüften, zu finden, er war von niedrigem Baumwuchs und Buschwerk verborgen, nicht einmal eine Asphaltstraße führte dorthin - bevor ich ihn schließlich fand, hörte ich das Knattern von Seilwinden, darin bestand das wirkliche Geheimnis des geräuschlosen Gleitens, gar nicht mal so sehr im Aufwind - und direkt neben dem Flugplatz lagen Badeseen, die einen von der Leichtigkeit in den Höhen ablenken wollten, die Boberger Seen: einmal war ich dort mit der schönnackigen Ilona, jetzt erinnere ich mich an ihre Augen, sie waren gar nicht von der Art der Rehe, sie waren sehr hell, es waren die einer Helläugigen, die einer gefährlichen Göttin aus Marmor, ich glaube, wir haben uns dort verlaufen, und selbst wenn wir in den Büschen dort miteinander gefickt haben sollten, so kann ich mich doch nicht an ihren Gesichtsausdruck dabei erinnern . . . Piero della Francesca - ich sprach, überkitschig leider vorhin (Markopoulos hat ganz recht, ich habe dazu eine Neigung, ich glaube, um mir etwas klarer zu machen, als es eigentlich ist), von der unmenschlichen Kälte, die seine so schönen, aus einer paradiesischen Vergangenheit zu stammen scheinenden Gestalten ausstrahlen, die sich in ihrer Überschönheit kaum berühren, unbefleckt natürlich bis zur Vollendung. Einmal erschrak ich fast, als ich doch eine Berührung auf einem seiner Bilder entdeckte, einer seltsamerweise von Vater und Tochter auf einer Wandmalerei in der Basilica di San Francesco zu Arezzo, im obersten Bogen einer Wand, im obersten, hintersten Winkel des recht engen Chores fast; das Ganze wurde gerade restauriert (inzwischen hat die Zeit, ja die Zeit selbst, das Bild doch ziemlich befleckt), und obwohl nur an der gegenüberliegenden Wand ein Gerüst den dortigen Freskenzyklus ganz verstellte, konnte ich, es war wirklich sehr eng, den mich heute interessierenden Teil kaum erkennen, so weit und steil oben befand er sich, selbst das Teleobjektiv meiner Videokamera half mir nicht; erst auf einer Reproduktion sah ich sie, erkannte ich sie, diese ergreifende Berührung - - jetzt schau ich sie mir wieder an, jahrelang lag sie, in einem Stapel von Bildern und Broschüren verborgen, unbeachtet in einem Schrank, Der Tod Adams - und nun, nach so vielen Jahren, kommt mir das Bild gar nicht mehr wie eins aus der Vergangenheit vor, seltsamerweise ist es gar keine Berührung, die mich da so bewegte, es sieht nur aus wie eine, es ist nur eine scheinbare; mein Blick haftet leicht an einer selbstbewußt jungen Frau in einem geheimnisvoll lockeren schwarzen Kleid,

einem schmal hängenden Tuch eigentlich nur, das längsachsig gerade mal die Blöße ihrer Mitte verdeckt und das Außen von Schenkel und Körper in heroischer Nacktheit beläßt - sie steht hinter dem sterbenden Adam, eine Tochter; über den Sterbenden hinweg schaut dieses Kind Adams den Betrachter an, schaut sie die Zukunft an . Sie hat Adam nicht mehr auf der Rechnung, ihren Vater; der das Paradies verspielte, weil er mit dieser alten Frau, ihrer danebenstehenden Mutter, an der die Tochter nichts Attraktives mehr fand, nie etwas Attraktives gefunden hatte, schlafen wollte; sogar für einen Versager mag sie jenen Adam im Stillen gehalten haben, den Mann, der als Erster das Paradies verließ, um sich im Rauhen wiederzufinden. Ihre Schenkel, die ihr fallendes Gewand rahmen, es fast wie einen Liebhaber schon berühren, es kitzelnd liebkosen, würde sie jetzt der Zukunft öffnen, einem, der sie ins Paradies zurückführen würde; wenns sein muß, würde sie es sogar für den Betrachter tun. Nur durch die Gesetze der Perspektive berühren sich Vater und Tochter, scheinen sie sich zu berühren, kommt es zu einer Berührung der Pigmente, die Adam sind, die seine Tochter sind, von Fisch und Fisch; die alt gewordene Eva steht mit hilflosem Griff in Richtung des Gatten daneben - dahinter Bäume und Büsche . . .

Ein anderes Mal habe ich in der Nähe dieses von aufwindiger Leichtigkeit sprechenden Segelflugplatzes mit einem Freund Modeaufnahmen für eine Sexillustrierte gemacht - 1969: damals war topless die heiße Nummer, und ich fand wunderbar, danach mit dem Model (auch so eine, die ihre Schenkel der Zukunft öffnen wollte, zu, wenns sein muß, ruhig freiem Betrachten), ficken zu können - gab es da nicht wieder einen Tripper? Ein Wort von auf einmal heute fast heiterem Klang, fast so heiter wie die Segelflugzeuge über uns, damals eine todernste Sache - wer hätte an eine solche Verwandlung gedacht? Ach, diese Orte in einer kleinen Stadt, sie sind auf schäbige Weise miteinander verbunden, vom Kleinsten bis zum Allergrößten - ich meine allerdings zunehmend (auch infolge des nunmehr von mir Aufgeschriebenen), daß sehr heikel ist, die Gegenwart mit Vergangenheit verknüpfen zu wollen, in unserm Fall das Erwachsensein mit der Kindheit, mit jener mich noch immer verwirrenden Knabenzeit. Unbestritten gibt es Zusammenhänge, aber deren genaue Natur entzieht sich auch bei genauester Betrachtung doch weitgehend demjenigen, was man üblicherweise Erkenntnis nennt. Newton vermag hier nichts zu entdecken. Hier zieht das Leichte das Schwere an, bringt das Leichte das Schwere ins Straucheln, ins Schleudern ab und an sogar. Im Grunde gelangt man nur zu immer verfeinerten Hypothesen, zu einem Kosmos geradezu von Möglichkeiten, der die materielle Schöpfung in seiner flüchtigen ineinander verzahnten Komplexität weit in den Schatten stellt. Es ist ein wenig wie beim Alten und Neuen Testament, als die Kirchenväter sich sowohl von jüdischer Religion abgrenzen als auch das alte Testament retten wollten - auch damals führte das zu merkwürdigen Verrenkungen, die ihren Ausdruck im Glaubensbekenntnis fanden und kaum noch nachvollziehbar sind; am elegantesten formulierte es wohl der Heilige Augustinus: Das Alte Testament, schreibt er im sechzehnten Buch des Gottesstaates, wäre nichts als das mit einem Schleier versehene Neue, und das Neue Testament das unverschleierte Alte. Ein Sprachspiel. Und nach dieser widersinnig anmutenden Behauptung, in der sich die Kausalität verkehrt, weil das Nachfolgende das Vorhergehende strukturiert haben soll, der Sohn also den Vater zeugte, konnte man das alte Testament unter dem Gesichtspunkt des Neuen uminterpretieren. Das erinnert an das Uminterpretieren der Kindheit durch das eigene Erwachsensein, das wir an anderer Stelle die Beleuchtung der Vergangenheit durch die Gegenwart nannten, und diese merkwürdige Ununterscheidbarkeit von Ursache und Beleuchtungseffekt trägt zu der Verwirrtheit bei, die wir in Bezug auf die Gültigkeit unsere Kindheitserfahrungen haben. Das Spätere strukturiert die Bedeutungsebene des Früheren, so ist das im Leben - vielleicht ist daher kein Wunder, daß, mit Augustinus, der Verfasser der ersten selbstkritisch mit Kindheit und Aufwachsen sich beschäftigenden Autobiographie, die theologischen Implikationen eines solchen Gedankens als Erster klar formulieren konnte. Erst mit solch eigenartiger Aufhebung des Kausalitätsprinzips (bevor dieses selbst überhaupt entdeckt wurde, lange vor also unserem den Fall einer Feder und einer Bleikugel gleichsetzenden Newton) wurde die Botschaft des Evangeliums zu Christentum, mit der Entdeckung der Kindheit als gedeuteter Erwachsenheit. Später ist in den Bildern von der Verkündigung an Maria schon ihr Wissen um die Kreuzigung des versprochenen Sohns enthalten. Oh Schmerz schon da in Marias Gesicht. Dieser Schmerz - ja vielleicht bin ich jetzt endlich bereit und fähig, die Schmerzen jener seltsamen Spiele zu ertragen, damals in Barmbek, welche erst durch schweißbelohnt athletische Anstrengungen vergingen. Ich meine diese merkwürdigen Kriegsspiele auf dem Dachboden und im Sandkasten, wovon ich immer mal einiges angedeutet, die aber richtig zu beschreiben ich mich nie getraut habe. Oh, der Schmerz schon da in meinem Gesicht. Oder war da überhaupt gar kein Schmerz zu entdecken, empfinde ich etwa den Schmerz erst jetzt? Peng, Peng, Peng, höre ich, und ratsch, ratsch, ratsch - und hier fliegt eine Wäscheklammer durch die Gegend, und da eine andere, jetzt sogar drei zugleich, so ineinander verklammert, daß sie beim Aufprall am Boden bestimmt auseinanderspringen, daß sie auseinanderplatzen werden, zu erneut dem Geräusch eines scharfen Peng - und Peng, Peng, Peng, mache ich dazu, um den Effekt zu steigern; und bum, bum, bum.



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