K. Wyborny

AUS DER KNABENZEIT

II.

EX PROFANIS
(Vom Allzu Profanen)


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Nein, vorher will ich noch etwas anderes versuchen, ich will versuchen diesen Dachboden zu beschreiben - immer wieder komme ich auf ihn zurück und tue so, auch vor mir selbst tue ich so, als verberge sich dort eine Wurzel meiner Verhaltensweisen, die Wurzel beinahe - das eine Mal, wo ich ihm näherzukommen suchte, brach ich sofort ab und erweckte den Eindruck, dort lauere ein unentwirrbares Durcheinander, das zu beschreiben einen jeden Menschen überfordert. Schien ich das Durcheinander nicht im Gegenteil sogar bewahren zu wollen? Ich versuchte gar nicht ernstlich, es zu offenbaren und in seine Teile zu zerlegen. Der Dachboden stand jedoch nicht allein: er repräsentierte gleichsam eine Art Himmel, zu dem auch eine - Hölle gehörte. Diese befand sich draußen, im Freien, in einer Ecke unseres Hauses, wo eine Fuhre Sand abgeladen war, worin wir Kinder spielen durften. Habe ich verschwiegen, daß wir in Barmbek einen Garten hatten? So gesehen, muß das Leben dort sogar einigermaßen behaglich gewesen sein - kaum verständlich, daß ich mich beklage, was ich im Grunde ja auch nicht tue; allerdings: neun Personen in zwei Zimmern klingen auch mit einem kleinen Garten für heutige Verhältnisse - schlimm. "Sozialfall" ist der Ausdruck, der fast automatisch dazu in den Schulen fallen würde, vielleicht fiel er auch damals. Apropos Hölle: "Der Deutsche, eine Hölle auf Erden" - diese Formel, ich weiß nicht wo ich sie gelesen habe, gefällt mir. Der Garten, in ihm verrieten sich Erfolg und Mißerfolg gärtnerischer Anstrengungen gleichermaßen, war bereits von den Vorbesitzern angelegt, im Endeffekt überwog wohl der Mißerfolg, schließlich verkauften jene Vorbesitzer ja ihr Haus, um andere Wege zu gehen. Habe ich erwähnt, daß die ganze Gegend abgerissen ist, dem Erdboden erst gleichgemacht, dann gärtnerisch wiederaufgerüstet und mit ein paar fünfstöckigen Mietwohnblöcken versehen, die sich jetzt großräumig ausbreiten, wo unser Haus einmal, inmitten seines halb gelungenen, aber auch halb mißlungenen Gartens, gestanden hat? Nicht einmal der genaue Ort ist noch lokalisierbar. Die 'Sandkiste' ("Spielst du schon wieder in der ollen Sandkiste?" fragte meine Mutter häufig, ihr war die Art meines Spielens nicht wenig unheimlich) war also keine Kiste, sondern ein Haufen, in der Ecke, in welcher der Geräteschuppen ans Haus angefügt worden war. Im Sommer spielte ich dort gleich nach der Schule im Sand. Was baute ich? Zu Beginn Burgen meine ich, irgendwas mit Rittern, Türmchen und Zinnen, wie es jeder Knabe offenbar gern baut, aber irgendwann wurden es Panzer und kleine Sand-Erektionen, die Soldaten darstellen sollten. Die Burgen wurden zu Befestigungen, die von diesen Soldaten und Panzern überwunden werden mußten, und irgendwann entdeckte ich den Reiz, den ein vollständiges komplexes Schlachtfeld mit Hügeln und Senken und Befestigungsgräben bietet, die Kanonenrohre der Panzer waren Stöckchen aus dem Garten - ach, die Bäume im Garten, die mißratenen Bäume unserer Vorgänger als deren Kultivierer und Besitzer: ein Pfirsichbaum war darunter, ganz trockenes Holz; wenn die Pfirsiche Farbe bekamen und man sie pflückte, waren sie hart wie Äpfel, sie schmeckten etwas süßer, aber nur die Haut war wirklich anders, sie war sonderbar aufgerauht, nicht pfirsichweich wie bei gekauften Pfirsichen, vor allem waren sie nicht saftig. Wie Schmirgelpapier dachte ich immer, meinte dabei aber weniger das Gefühl in der Hand, als die Enttäuschung, wenn man in sie hineinbiß, da schmirgelte sich einem das Frohgestimmte an der Erwartung ab. Der Birnbaum trug sogenannte "Kochbirnen", die nur halbroh schmeckten, auch sie hielten den Vergleich mit gekauften nicht stand, der Heilige Augustinus hätte hier nie die Parabel vom Birnbaum entwickeln können, an dessen saftigen Früchten er sich als Jugendlicher verging, indem er sie stahl, obwohl er gar keinen Hunger, gar keinen Appetit darauf hatte - darin wollte der spätere Heilige den Mutwillen erkennen, mit dem wir Menschen Böses anrichten, den Hang der Menschen, Böses zu tun, der ihnen infolge der Erbsünde, seit der Übertretung Evas, eingeschrieben war - bei unserem Birnbaum kam man gar nicht auf die Idee, davon zu stehlen, nicht mal aus Übermut, was im Umkehrschluß aber leider nicht hieß, daß wir uns dort noch im Paradies befanden. Nur an den Sauerkirschen gab es nicht wirklich was auszusetzen. Und es gab Weinranken am Haus, auch bei ihnen erinnere ich manchen Biß ins Saure. Das Problem mit den Panzern war, sie zu bewegen; sie zerfielen zu leicht, darum benutzte ich bald Wasser, um so eine Art Matsch herzustellen; wenn die aus ihm gewonnenen Formen nach zwei Stunden fest wurden, konnte man sie im Sand hin- und herschieben - woher aber kam die Inspiration? Von Toni-Onkel sicher nicht, seine Kriegsversion bekam ich erst vor kurzem zu hören, ich hätte sie wohl auch nicht als inspirierend begriffen und von meinem Vater war in Bezug auf Krieg nichts herauszukriegen. Also wohl von den 'Landser-Heften', von den darin abgebildeten Panzern, die mein Vater übrigens nicht nur nicht las, sondern mir auch noch halb verbot, mehr als die Flieger-Geschichten und die Schicksale Deutscher Schiffe (an letzteren hatte auch er ein gewisses Interesse), ohne freilich allzusehr nachzuhaken, hätte er doch meine kleine selbsterworbene Bibliothek gewiß aufspüren und vom Verbotenen reinigen können. Das Aufbauen war nur ein Teil der Angelegenheit, wohl dauerte es jeden Nachmittag Stunden, aber dann erst, in einem brutalen Ausblenden der Bodenwirklichkeit, begann die Große Schlacht. Ich sammelte kleine Steine und entwickelte irgendein System, das in der nun beginnenden Zerstörung Gerechtigkeit walten ließ - meine Gerechtigkeit - eine zwischen Angreifern und Verteidigern, auf Grund welcher erst die eine Seite, sagen wir mal: fünf Steine feuern durfte, und dann die andere, wobei natürlich sowohl in der Wahl des Ziels als auch in der Qualität meines Zielens noch etwas anderes lag als bloße Gerechtigkeit. All das ist nicht ungewöhnlich, auch Nietzsche baute so etwas, zusammen freilich mit seiner Schwester, wie ich neulich las, bei ihnen hatte der Krimkrieg das Interesse geweckt, sie spielten die Belagerung Sebastopols. Um wirkliche Gerechtigkeit ging es nicht. Wenn sie getrocknet waren, vermochte ich die Panzer ausgezeichnet zu bewegen, sie waren dann beinah so fest wie getrockneter, leicht minderwertiger Zement; Schwierigkeiten gab es nur mit den Armeen, in Fünferreihen aufgebaute Sandhäufchen (wie die Meerrettich-Beigaben beim Sushi-Essen sahen sie aus, die sogenannten wasabi), an denen ich viele Viertelstunden gesessen habe, um immer mal wieder so an die hundert davon pedantisch in irgendeiner Schlachtordnung aufzubauen - Menschen gehörten schließlich dazu, zu so einer Schlacht, bei ihnen verzichtete ich auf sichtbare Bewaffnung. Ich wollte mich nicht im Detail verlieren. Der Gesamtaufbau mochte jedesmal drei, vier Stunden gedauert haben, die Schlacht danach dauerte eine halbe und am Ende war alles Matsch. Dann zertrat und zertrampelte ich mitunter voll Wut die noch bestehenden Reste, damit ich sie am nächsten Tag wieder neu aufbauen konnte, den ganzen Tag auf den Knien in dieser Mischung aus Sand und Matsch.

Hinter meinem Rücken war Rasen, ich weiß nicht, warum ich nun wieder auf den Garten zu sprechen kommen, aber ich merke, wie es mich jetzt in diesen Garten zieht, hin zu den Pflanzen, wo es auch Johannisbeersträucher gab, schwarze, rote; auch ihre Früchte schmeckten nicht, wobei das eigentlich die Haupterinnerung an diesen Garten ist, dieses Nicht-richtig-Schmecken; die Früchte jenes Gartens waren zu sauer, selbst die Sauerkirschen, obwohl sie neben den Johannisbeeren als einzige die richtige Form hatten, waren zu sauer, sie schmeckten nicht so süß wie die Süßkirschen im Garten meiner Großmutter. Aber vielleicht will das Süße so weit im Norden nicht gedeihen. Ach, Stachelbeeren und Rhabarber, sauer auch ihr Geschmack auf der Zunge, in der Zunge, so fühlte es sich an, er drang in die Zunge ein, verwandelte seinen Charakter, wurde zu mehr als bloß etwas Saurem, das Wort "sauer" wollte einem anderen weichen, ich kannte aber kein Wort dafür, es hätte zum Beispiel das Aroma von "Quälerei" aufweisen müssen, wenn nicht sogar von leichtem Gift - auch nichts, an dem man durch mutwilliges Essen das Böse in der Natur des Menschen zu Tage zerren kann, eher schon dadurch, daß man es jemandem zu essen gibt - Ja, diese Stachelbeeren, ihr Geschmack drang in die Zunge, mit diesen fein glänzenden Härchen auf der im Zustand der Reife gold-grün gespannten Haut, der man die Spannung geradezu ansieht, aber selbst dann waren sie sauer, immer sauer, dazu die kleinen Kerne in ihrem Inneren, die man aber wenigstens nicht auszuspucken brauchte ... und dann der Rhabarber, vom Geschmack her schier eine Katastrophe, ich verstand nicht, wieso man so etwas "reif" nennen konnte, der Biß in so einen angeblich reifen Stengel löste eine Bißhemmung aus, wie manche Fische angeblich so schrecklich schmecken, daß selbst gierigste Räuber sie in Ruhe lassen, und dazu die sinnlos riesigen Blätter, die einem wie eine groteske Verschwendung vorkamen, eine Verschwendung sogar von Raum; nur gekocht war dieser Rhabarber halbwegs erträglich, aber nicht einmal zum Einmachen war er gut - Ach, all diese nördlichen Früchte, auch für sie gibt es Liebhaber, für was denn nicht; ich kenne sie gar nicht mehr richtig, nie habe ich sie wiedergegessen. Und sie schmeckten ja auch nicht richtig, nur sauer und bitter. Ich hatte nur Sinn für das Süße. Lange waren Zuckerbrote meine Lieblingsspeise. Ich muß an diesen bitteren Strand in Schottland denken, wo ich die fundamentale Trostlosigkeit des Nordens erkannte, die trostlose Eiswüste, die dahinter lauert, nichts mehr zu entdecken da oben, nur noch die sture bittere Blödheit der Welt. Nicht mal sich selbst kann man da heute noch entdecken, wer es noch vermag ist einem Bären aufgesessen, einem Eis-Bären gewissermaßen.

Das Sandspielen kommt mir, so beschrieben, nicht weiter seltsam vor, nur die Routine und das Ausufernde tut es, die Destruktion am Ende. Neulich war ich in Indien, dort ist die Arbeitsteilung in manchem ja weiter fortgeschritten als bei uns, auch wenn man es nicht wahrhaben will, auf eine widersinnige Weise freilich, die wohl aus dem Kastenwesen rührt, eine rückwärtsgewandte Arbeitsteilung: nicht willkommener oder unwillkommener Teil des Fortschritts wie bei uns, sondern noch Ausdruck von etwas Archaischem, aus der Zeit, in der es noch massenhaft Sklaven gab. Dort sah ich in Puri am Strand die Kinder der Reichen - ach was ist schon ein Reicher in Indien - zu ihnen kamen Leute, die wir vielleicht als Bademeister bezeichnen würden, sie trugen einen spitzen weißen Hut (ganz ähnlich denen seltsamerweise, womit die römischen Soldaten auf den gegossenen Bronzeplatten von San Zeno zu Verona versehen sind, sie gehören zu den ersten bildlich-plastischen Darstellungen des sich wiederentdeckenden Abendlandes), mit ihnen gingen die Kinder ins Wasser, diese Wärter oder wie immer sie genannt wurden, sollten aufpassen, sie wurden aber für den ganzen Tag gemietet. Zuerst errichteten diese "Bademeister" immer ein Sonnendach für die Erwachsenen, mit einer leicht dreckigen, weil schon zuvor benutzten Segelplane, dann besorgten und brieten sie Fische; war dies erledigt, hatten sie mit den Kindern zu spielen, dazu errichteten sie am Strand halbmeterhoch Sandburgen, tempelartige Gebilde mit einem dieser parabelfömigen Tempeltürme, von denen die Gegend nur so wimmelt, denn Puri ist ein heiliger Ort: sein dem Jagennath, dem Herrn des Universums, gewidmeter Tempel gehört zu den bedeutenderen hinduistischen Heiligtümern. Dann gaben sie den Kindern Muscheln, die sie an bestimmte Stellen setzen mußten, offenbar um das Gebäude zu vollenden, eine rührende Routine: die Kinder sahen zu, wie das Gebäude Gestalt annahm, dann durften sie es mit einer eleganten Geste beenden, die es ihnen gewissermaßen übereignete und die Bademeister wieder zu ihren Sklaven machte, dann wurde es ... ich weiß nicht, zu was diese Gebäude wurden; ich glaube nicht, daß die Kinder sie zerstören durften, das wäre wohl Blasphemie gewesen, das überließ man lieber dem Wind oder den Fluten, den blasphemischen Elementen, ich habe nie beobachtet, wie das Spiel oder was immer es gewesen sein mochte, zu Ende ging. Aber was wächst, muß auch fallen. Diese Pagoden aus Sand, so seltsam sie waren, sie glichen sich, vermutlich orientierten sie sich wirklich an jenem Jagennath-Tempel; aber jemand, jemand Konkretes muß das einmal als Service entdeckt haben, für die inländischen Touristen, Ausländer interessierte sowas nicht, jemand muß diese Sandpagoden, oder wie immer der genaue Fachausdruck dafür war, als Erster gebaut haben, dann machten es alle nach. Es war wie bei der Erfindung des Feuers. Ach glückliche Kinder, die so etwas nicht selber entdecken müssen, sie sind gesegnet. Ich fand an der indischen Architektur besonders die in einer umgekehrt steilen Parabel aufsteigenden Tempeltürme interessant - nicht erigierter Schwanz, nicht erigierte Brust, irgendetwas dazwischen, ein Zwitter, entfernt erinnert es an die mich befremdende Hochschätzung des Hermaphroditischen um die Jahrhundertwende - in Bubaneshwar, nicht weit von jenem Puri, hab ich Dutzende davon mit meiner Flackermethode aufgenommen, natürlich auch wegen der massenweise an diesen Gebäuden herumwuchernden erotischen Skulpturen, eine erotische Vegetation fast, aber sie fanden in keinem meiner Filme Platz, so fremdartig waren sie, fremdartiger als alles aus Cairo. Einsam ist das Wort - nicht erst in Indien, wo ich diese Kinder beobachtete, war ich einsam, ich war es bereits in diesem Sand in der Hausecke, wo ich noch keine Ahnung hatte, daß es im Universum Parabeln gibt. Wenn man so will, umrundete ich Adriana auf genau so einer hermaphroditischen Parabel oder sie mich, weiß der Teufel, wer es mit wem tat, laut allgemeiner Relativitätstheorie spielt das Zentrum so einer Bewegung ja ohnehin nur formal eine besondere Rolle: viel Lärm um Nichts. Und das betrifft auch, wer von uns auf diesen verdammten Fahrrädern vorne fuhr und wer hinterher, oder ob jemand ein kleineres Vorderrad hat oder ein größeres, heute ist mir das ganz egal. Ein Nachbarjunge, den ich einmal einlud, damals in Barmbek, mochte mit dieser Mischung von Schlamm und Sand nichts zu tun haben. Und süchtig, ich war süchtig nach dem, was ich da veranstaltete. Bei Regen durfte ich nicht hinaus, wegen des Schlamms, aber ich weiß noch, wie ich meine Mutter zu überreden versuchte, daß es doch gar nicht so schlimm wäre, dies bißchen Regen. Und die stille Verzweiflung, wenn der Regen zu stark war, oder es war Winter, und bald war ich leider so groß, daß man nicht mehr im Sand spielte, einem Vierzehnjährigen ist das nicht mehr recht angemessen. Ich erinnere tatsächliche nackte Verzweiflung darüber, daß ich eigentlich nicht mehr im Sand spielen durfte. Wieso suchte ich dabei Privatheit, wieso ging ich nicht auf einen öffentlichen Spielplatz? Einer war gar nicht weit weg, aber es ging nicht, stattdessen schaukelte ich dort manchmal und betrachtete die Sandkiste mißtrauisch aus den Augenwinkeln. Daß ich dort nicht spielte, lag nicht nur an meinem Alter, das für öffentliches Im-Sand-Spielen bereits zu hoch geworden war. Es fühlte sich einfach falsch an, es dort zu tun, ich wollte diese Schlachten gleich neben unserem Haus ausfechten, es war von hellgelber Farbe. Ja, gelb das Haus, von einem tiefen Gelbbraun der Sand - mit einem Stich ins Rötliche; ich mischte, glaube ich, Gartenerde unter den Sand, auch Lehm, den ich mir unter dem Sand ergrub, wo er am Ende der Eiszeit zu liegen kam, um meine Panzer stabiler werden zu lassen. Gnadenlos wurden sie indes am Ende des Spiels von Steinen zermanscht und zermatscht.

Das Haus, das Haus. Häuser waren die fixe Idee meines Vaters, ich glaube so knapp kann man das ausdrücken. Ja, ich komme auf meinen Vater zurück, es ist nicht leicht, sich ihm zu nähern, für mich nicht leicht. Vielleicht versuchte ich deshalb vorhin den Umweg über seinen Bruder. Dabei habe ich das Gefühl, daß mein Vater eigentlich eine ganze Geschichte zu erzählen hätte, er aber nie dafür die Worte fand, vielleicht fehlte ihm auch der Mut, sich in die Größe so einer Geschichte einzufügen. Ja, selbst dazu, meine ich, gehört Mut, nicht nur zum Knacken von Panzern. Dort in Barmbek löste mein Vater Kreuzworträtsel im "Abendblatt", bei denen man ein eigenes Haus gewinnen konnte, die Aufregung, wenn es gelöst war und eingeschickt wurde, teilte sich mit, auch die wöchentlichen Enttäuschungen, wenn wieder nichts gewonnen wurde. Irgendwie mußte ein Haus aus den Lebensanstrengungen herauskommen, das war die Prämisse seines Lebensplans. Nun, vielleicht ist es etwas überspitzt, das als fixe Idee zu bezeichnen, immerhin wurde diese, ich nenne sie mal vorsichtiger lieber, 'Leidenschaft' von der Mehrheit seiner Landsleute, vermutlich sogar der Europäer, geteilt. Irgendwann verwandelte sich dieses Kreuzworträtsel in einen Bausparvertag, mit dem das Haus in Harburg für, ich erinnere die Zahl, 29.000 Mark gebaut wurde, ein Reihenhaus, in dem ich ein eigenes Zimmer bekam - ich sprach bereits davon - eine Veränderung meiner Lebensumstände zum Guten, deren Bedeutung ich in meiner anhaltenden Nörgelei gegenüber dem Vater vermutlich gar nicht abschätzen kann. Ja, was ist eigentlich mit dieser Nörgelei? Warum ist sie eigentlich nie in offenen Haß umgeschlagen? In offenen wütenden Haß? Wegen seiner im Krieg erlittenen Verwundung? Weil er, obwohl ich es nie wahrhaben wollte, im Krieg zum Krüppel ward, der sogar den Beruf wechseln mußte? Und weil es für mich nie einen Sinn zu machen schien, über einen bloßen Krüppel zu triumphieren? War das der Grund für die schweren Beine, die mich gegen Ende der deutschen Achthundert-Meter-Meisterschaft ereilten? Liegt darin der Grund für meine Zufriedenheit mit der Position des ewigen Zweiten? Machte mir seine Verwundung einen Sieg über ihn, einen wirklichen Sieg über die äußere Welt unmöglich? Ach, wieder ist mir gelungen, jenem Dachboden auszuweichen, wieder wich ich ihm aus, immer was Neues fällt mir ein, um nicht zu ihm hinzukommen: die Sandkiste, das Haus, ja sogar der Garten, Puri, Bubaneshwar, erotische Skulptur, Brehms Tierleben, und nun sogar Vater! All diese Ausflüchte, sogar das Kaffeeservice fällt mir ein, auf das ich noch nicht gekommen bin ... aber nun, hier ist er, hier ist er endlich, nein nicht Vater, hier ist der Dachboden: kam man aus dem Wohnzimmer, führten links drei Stufen erst zu einer kleinen Plattform, pathetischer Ausdruck, aber darauf war eine steile Treppe, die man mit einem Haken herunterziehen mußte; aus hellrotem oder gelbbraunen Holz, schwer die Farbe, wenn man den Fachbegriff nicht kennt, genau zu bezeichnen: nicht lackiert aber mit einer Flüssigkeit getränkt, die diese Farbe erzeugte, das Wort "Holzschutzmittel" fällt mir ein, und daß ich mir, ich erwähnte es bereits, beim Eisenbahnschwellen-Verlegen in Harburg einmal die Haut davon verbrannte - oder sah erst die Treppe in Harburg so aus? In Harburg bekamen nämlich meine Schwestern eine ausgebaute Dachwohnung, mit, jetzt erinnere ich mich, genau der gerade von mir beschriebenen Treppe, bei der dortigen kann ich die Farbe des Holzes besser erinnern. Dann hoch! Hinein in das - Dunkel, nachts... natürlich gab es einen Lichtschalter, eine Handbewegung nach rechts - wurde ich dadurch Rechtshänder? (wo der Glaube an Kausalität nicht überall hinführen kann) - ein Aufstützen der Hand, auf etwas Kühlem, auf dem Boden, Linoleum - ja, Linoleum, keine Holzbohlen, ich kann mich nicht erinnern, mir beim Spielen dort oben Holzsplitter in die Knie gestoßen zu haben, das würde ich doch erinnern - würde ich das erinnern? Tagsüber war das Licht diffus, von einem Fenster mit Gitterglas, nicht Milchglas, ich weiß nicht wie es heißt, ein ganz farbloses Glas, das zusätzlich zu einem darin eingelassenen feinen Drahtgitter eine so körnige Struktur hat, daß man nicht hindurchsehen kann - zum Fenster! Es ist länglich, fast ebenso groß wie ich, ich kann den Fuß auf die Kante stellen, wenn es geöffnet ist; ich sehe hinaus, ich bin groß; unten, vom Haus rankt Wein zu mir empor, will mich umranken . . . von dort unten, wo ein Weg ums Haus führt, würde mich das Fenster umrahmen, meine knabenhafte Gestalt zum Inhalt eines Bildes machen . . . von oben sehe ich neben, eigentlich ja hinter jenem Sandweg, der um das Haus führt, einen schmalen Rasenstreifen, begrenzt von einer Hecke aus Tannenbäumchen - ich erinnere mich - dahinter eine große graue Fläche aus Spritzbeton, Richtung Süden, das Haus des Nachbarn, eine düstere Angelegenheit. Ah - diese Anstrengung, die Präzision, mit der das im Gedächtnis wiederentsteht!

Das Dach ist schräge, steil wie die ägyptischen Pyramiden, in ähnlichem Neigungswinkel, es gibt keine Seitenwände, aber doch eine Abgrenzung zum ganz Niedrigen, wichtig dabei vier fünf schmale Holz - Pfeiler? Nein Pfeiler wäre zuviel, eher Balken, sie haben kaum strukturelle Bedeutung (was versteh ich schon davon?), aber man hätte Latten darannageln können, ganz leicht, mein Vater hat es nicht gemacht. Und ich war zu klein, in mein Schicksal ergeben. Oben Dachschindeln, unverkleidet; das war der Dachboden, es gab keine Heizung - zurück zur Luke: die Leiter ließ sich hochnehmen, ich nehme sie hoch, dann klappe ich sie nach innen und schließe die Dachluke von oben, jetzt ragt die Leiter flach in den Raum, eine Mißgeburt, nicht einmal richtig zu liegen vermag sie. Stimmt das? Ich glaube nicht. Ich sehe nichts nach Innen Ragendes auf diesem Dachboden, es hätte meine Bewegung behindert, beim späteren Spiel, hätte Struktur in dem Spiel bieten müssen, Versteck für ganze Flotten - nein dort gab es keine solche einziehbare Leiter, es war eine einfache, feste Leiter, nicht aus Sprossen bestehend sondern aus schmalen Brettern, auf denen man mit einiger Sicherheit stehen konnte, nur steil war sie, sehr steil. Das Ganze war abschließbar, mit einer simplen Klappe; wenn man die Luke von oben schloß und verriegelte, verfügte man über eine Privatheit, die in meinen damaligen Verhältnissen kaum zu überbieten war. Die Klappleiter kam erst in Harburg, jetzt erinnere ich mich, auch dort habe ich auf dem Dachboden gespielt, noch immer das gleiche Spiel, aber da war es nicht mehr so wichtig, da war es Routine, nackte Sucht, immer wieder hab ich das Spiel auch dort gespielt, Tag um Tag, Tag um Tag, bis ich achtzehn war. Bis ich achtzehn war?

Mit sechzehn bin ich dort in Harburg abends mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren, im Dunkeln, ich deutete es schon an, ich erinnere enge Wege an Teichen in Parks, ich war furchtlos, ganz furchtlos, vor wem sollte ich mich fürchten: ich war zu fürchten, ich habe Frauen gesucht, auch das war Harburg, da ging es mir schon besser, da war ich gesund, gesund! Ich hatte ein eigenes Zimmer, doch diese Spiele gingen noch immer weiter, zugleich aber kam die Sache mit dem Fahrrad, zwei drei Stunden fuhr ich täglich mit jenem Fahrrad, ich weiß nicht mehr, wie es ausgesehen hat, ich war ein vollkommen normales Kind - normaler sogar, wenn das möglich ist, als die meisten, mehr in Harmonie mit sich selbst, auf idealere Weise ein normales Kind als die anderen, zuerst nur auf den ganz einsamen Wegen, wo leider niemand zu finden war, manchmal begegnete mir ein anders Fahrrad, manchmal ein Liebespaar, ah - ich komme wieder ab vom Dachboden, ich greife schon zu peinlichsten Bekenntnissen, die ich lieber für mich behalten sollte, bloß um nicht dorthin gelangen zu müssen - der Dachboden! Der Dachboden in Barmbek!

Es gab also keine Klappleiter, wie auch, wer hätte sie einbauen sollen; was ich da vor mir sehe, ist zu modern für dieses alte Haus, das Holz ist glatt und nicht furniert, es ist nackt, nur imprägniert, moderner als die anderen Sachen im Haus, die schon dabei waren, kaputtzugehen - "Der Schwamm!" höre ich es flüstern, Schwamm, Schwamm, das Haus war wertlos; obwohl es nur sechstausend Mark gekostet hat, für uns ein Vermögen, war es wertlos, wegen des Schwamms. Einmal öffnete mein Vater die Holzdielen unter dem Wohnzimmer, es roch. Es roch nach Feuchtigkeit und noch was anderem, wohl dem Schwamm! Wie Pilz so feucht. Danach wollten sie das Haus verkaufen, aber sie mochten niemanden betrügen, vielleicht hätten sies gern getan, aber es ging nicht, man brauchte ein neues Haus, auch wegen dem Schwamm! Oh weh - dieses abendliche Herumgefahre mit dem Rad, durch Wiesen und auf Erdpfaden, auf in eine Richtung gestampfter Erde, ich kannte so ziemlich jeden durch so ein Fahrrad befahrbaren Weg in Harburg, im Dunkel gerieten mir Brennesseln an die nackten Knie, mehr erinnere ich späte Sommer, vielleicht einen Herbst, besonders diese engen Wegen am sogenannten Außenmühlenteich, die Vegetation, die über die Wege herfallen will, kaum jemand ist da, auch tagsüber nicht - es ist Nacht, manchmal kommt ein anderes Fahrrad entgegen, ein mutiger Mann, ach, nur ein Mann, unglaublich, wie die Pflanzen zurückgehalten werden von diesen schmalen Wegen, wo das Gras so wild an den Seiten wuchert, wie es schon durch zehn Fußgänger pro Tag zurückgehalten wird, niemand, glaube ich, pflegt diese Wege, sie existieren, in aller Welt, von alters her, sie bilden neben den üblichen gepflasterten Wegen, neben den Straßen, ein um Vielfacheres längeres Wegegeflecht als die Autobahnen, ein zivilisatorischer Kraftakt, diese Wege, überall, auch in Wäldern, in Afrika, in Indien entdeckte ich solche Wege, kein Wunder, vor allen in Kleinstädten, für Rikschas gab es sie, auch in Puri, einer doch ziemlich großen Stadt, aber zwischen den einzelnen Teilen so einer jeglichen Stadt gibt es immer mal wieder Brachen mit solchen Wegen, auf denen was abgekürzt werden konnte, wie ja überhaupt so ein Weg immer was abkürzen sollte, ach, diese Wege, ach ich entdeckte den Raum, geriet heraus aus dieser Welt der engen Spiele, ach Knabenzeit! Ach, und wieder bin ich jenem Dachboden entkommen!

Apropos Weg, apropos Raum - letzte Woche (ich spreche jetzt von einem viel späteren Zeitpunkt, der mit dieser Geschichte überhaupt nichts mehr zu tun hat, sehr viel Jahre später) bin ich wieder mal in diesen Vorort gefahren, zum ersten Mal seit, ich meine zwanzig Jahren, aber nicht, wie sich vielleicht denken läßt, um mir die gefährlichen Wege meiner Jugend noch einmal zu vergegenwärtigen, sondern es ging um eine, wie manche sagen, andere Form von Sentimentalität, es ging um Kultur. Die Kultur hatte mich nämlich eingeholt, mich und mein Fahrrad - komisch, daß ich das so klar ausdrücken kann, aber auch Sie werden es gleich verstehen. Und zwar fuhr ich zu einem Konzert des berühmten französischen Komponisten Pierre Boulez. Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich in der Zeitung las, daß Pierre Boulez in Marmstorf ein Konzert geben würde, die präzise und unmißverständliche Verknüpfung dieser beiden Namen hatte etwas Absurdes, die Begegnung des Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch, wie die Surrealisten, glaube ich, sagen. Die Welt hat sich verändert. Das Konzert fand in der Verkaufshalle einer großen Gärtnerei oder Baumschule statt, die es zu meiner Zeit nicht gegeben hat; es schmeckte ein wenig nach Abstieg für Herrn Boulez, das konnte es aber nicht sein: er tingelte nicht durch die Welt wie irgendein gealterter Schlagersänger, so daß er, von einem dubios lokalen Sponsor für ein paar Tausender hierhergelockt, irgendwann auch in der kulturarmen Wüste landet, worin ich aufgewachsen war - das einzige Konzert, das er in dieser Zeit in Deutschland gab, er hatte sich, berühmt wie er war, aus freiem Willen dort hinbegeben. Selbstverständlich bildete ich mir nicht ein, er hätte es mir zu Ehren gegeben, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir das anzusehen. Der Eintritt - ich fuhr mit dem Auto dorthin, der genaue Ort war so abgelegen, daß man ihn mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erreichen konnte - war mit 50 Mark für meine Verhältnisse recht üppig, die Halle aber eine außerordentlich geräumige hölzerne Angelegenheit, Teil nicht so sehr einer Baum-"Schule", als was sie dennoch im Programmheft bezeichnet wurde, sondern eher schon einer Baum-"Universität", wurde hier doch vor allem mit bereits ausgewachsenen Bäumen gehandelt, die an anderer Stelle aufgezogen waren - nichts hier hatte Strauchcharakter, wie auch die Kunst des Boulez zu diesem Zeitpunkt bereits ausgewachsen war und ihr verworrenes Wald- und Wiesenstadium längst hinter sich gelassen hatte. Kurzum: dieser großzügig angelegten, für dies Konzert ausgeräumten Riesenhalle war gleich abzulesen, daß sie keinen Notbehelf darstellte, weil vielleicht irgendein Kongreßzentrum ausgebucht war, oder irgendein Mäzen oder Sponsor sich in den Kopf gesetzt hatte, es ausgerechnet hier stattfinden zu lassen, sondern der Ort hatte unmißverständlich den Charakter des Erwählten. Später erfuhr ich, daß Boulez ganz Norddeutschland nach einem Ort für dieses spezielle Konzert abgesucht hätte und dieser ihm am besten geeignet schien; und aus ganz Norddeutschland kamen, an den Autokennzeichen ist sowas ablesbar, auch die vielleicht 600 Besucher. Wie gesagt, nicht im Entferntesten mein Verdienst, ich komme indes ins Grübeln, was mir geschehen wäre, wenn statt der häßlich evangelischen Kirche diese von Eleganz sprechende Halle das einzige interessante Objekt meiner Umgebung gewesen wäre - ich meine, die Kirche hätte bei mir nicht die Spur einer Chance gehabt. Im ersten Teil des Konzerts - es hatte den Titel "Anthèmes II" (1991/1997) - spielte eine japanische Violinistin ein vielleicht zwanzigminütiges Solo, das durch elektronische Veränderungen (der Ton kam von allen Seiten, ich meine auch aus der Mitte, aus Dutzenden von Lautsprechern) zu einem gewaltigen Raumeindruck wurde, mit Echos und Flangeeffekten, die dazu life von irgendwelchen hochmodernen Rechnern produziert und auf die Lautsprecher verteilt wurden, so daß einem die Klänge dieser Geige in vielfach verfremdeter Form gewissermaßen um die Ohren geworfen wurden, und man einen ohrenerregenden, selbst dem Wort "schwindelerregend" kam es mitunter nah, Eindruck von euklidischem Raum gewinnt; von einem vollständig von Klang erfüllten Raum, wie man sich früher den Raum durch den Äther gefüllt vorstellte, eine zwar unfühlbare aber doch zähe Masse, die trotz ihrer Unsichtbarkeit die Grundsubstanz eines jeglichen Raumes ausmachte, ich weiß nicht, wie ich es genauer ausdrücken soll, aber darum ging es hier: um die komplette Ausfüllung eines riesigen Volumens mit Klang und weniger um den Klang selbst, dieser hatte, obwohl das Solo offenbar durchkomponiert war, etwas Beliebiges, auch die elektronischen Transformationen hatten es, für meine Ohren hatten diese sogar etwas Banales - Ingenieurskunst - sondern es ging um diese Ausfüllung, bei der einem mit den Klängen gewissermaßen auch der Raum um die Ohren geschleudert wird. Natürlich hatte diese Violionistin dabei ein gewaltiges Gefühl, sonst spielte sie im Orchester und war darin kaum zu vernehmen, mitunter ein Piepsen, und nun bekam sie dieses Super-Solo - zwar nur in Marmstorf, aber sie sah diesen Ort nicht als Marmstorf, ich komme vielleicht darauf zurück - in dem sie den Raum nicht nur beherrschte, wie ein "richtiger" Violinensolist sonst manchmal ein Orchester beherrscht (in Spiel und Gegenspiel, mit all der peinlichen Koketterie, die so ein richtiges Violinkonzert ausmacht und in der man am Ende doch nur den Violinisten anschaut) sondern wo sie der Raum wurde, wo sie sich ausdehnte, es ist sehr schwer das genau auszudrücken, vielleicht wird es klarer, wenn ich auf den zweiten Teil des Konzerts komme. Auf jeden Fall hat es damit zu tun, daß man etwas relativ Kleines und Unbedeutendes tut, daß aber die Auswirkungen gewaltig sind und auch so wahrgenommen werden, oder, wenn man es über Besitz oder besser noch Sexualität definiert, daß, wie es manchmal passiert, die eigene Erektion märchenhafte Ausmaße annimmt, wenn man das Gefühl hat, bei einer Frau etwas Märchenhaftes anzurichten; der Unterschied also, wenn man so will, zwischen dem Erscheinungsbild meines Schwanzes im Verkehr mit Adriana und dem bei der flotten Anja bzw. der nach Los Angeles entwichenen Franka, wo er zum klassischen Phallus wurde, den Adriana leider nie an mir entdeckte - Rückkopplung nennt man diesen Effekt in den Ingenieurswissenschaften, denen auch die elektronischen Apparaturen entsprungen sind, die dieser Solistin ihren künstlich- unsichtbaren Phallus verpaßten, dessen Ausmaße über den ihrer Geige, die sie so munter beharkte, weit hinausging. Ha, und wieder, wieder bin ich dem Dachboden entkommen! Ich höre gar nicht auf mit dem Entkommen, es scheint sich geradezu um eine Lebensleistung zu handeln.

Dem Dachboden! Es ist Sommer, es regnet, es ist Winter und kalt, es gibt keine Heizung, ich wache auf, morgens, das getrübte Glas spricht von Tag ... abends klettere ich die Leiter nach oben, nein klettern konnte man das nicht nennen, ich krabbele hoch, ja es ist eine einfache, eine feststehende Leiter, und, auch das ist wichtig, ich kann den Dachboden von oben mit einer Klappe verschließen, ich bin allein. Unten halten sich die Erwachsenen auf, meine Schwestern schlafen bereits im Schlafzimmer, die Erwachsenen sind unter sich, sie brüten etwas aus, meine Eltern, die Tante, meine Großeltern, der Mann, den meine Tante später geheiratet hatte ... aber sie waren nicht gleich alle zusammen, nicht als wir einzogen, es war als würde sie irgendwer sammeln, in diesem Wohnzimmer, es wurden einfach immer mehr, und nicht in dieser Reihenfolge ... Ich aber hatte oben meinen Raum unter dem Dach. Ich war allein. Das Bett befand sich ganz an der Seite, direkt an der Schräge, so weit es ging, eine Matratze auf dem Boden, ein Laken, das am Morgen herausgezerrt war, oft lag auch das Federbett auf dem Boden ... Ja, die Klappe ging nach innen zu, aber das ist ja klar. Wo befand sich der Lichtschalter, an dem ich von oben das Licht ausmachen konnte? Ich weiß es nicht. Ah, abend, Ruhe, einsam, im Winter auch kalt. Eine Taschenlampe und meine Hefte, die schon einmal von mir erwähnten Hefte "Anker-Hefte", "SOS - Schicksale Deutscher Schiffe", "Landser-Hefte", "Soldaten- und Flieger-Geschichten", ich las sie alle, ich hatte eine Sammlung, wie groß war sie? Zwanzig "Anker-Hefte" - diese waren, als ich zu lesen begann, als ich zu lesen lernte, ganz neu erschienen, eine ganz neue Heftchen-Reihe, die irgendwer erfunden haben mußte, ich besaß sie vollständig, von der ersten Nummer an; dazu vielleicht zwanzig "SOS - Schicksale Deutscher Schiffe", diese Heftreihe war die älteste, man erkannte es an den Jahreszahlen; ich mochte Schiffe, schon weil mein Großvater einen Dampfer fuhr, ich wußte was das ist, ein Schiff, wie es ist, sich auf den warmen Kessel zu legen und das Ufer vorbeigleiten sehen. Ja, im Winter war es auf den Dachboden gewiß kalt, spürte ich die Kälte? Irgendwie nicht. Ja, die Schiffs-Hefte waren mir die liebsten, dann kamen die "Flieger-Geschichten", davon hatte ich an die fünfzig, ich glaube die Zahlen stimmen, Präzision immerhin zumindest hier, wann las ich sie alle? Ich rede hier über einen Zeitraum, der höchstens drei Jahre gedauert haben kann, zwischen 1956 bis 59, ich war zwischen elf und vierzehn. Dann kamen die Fahrradtouren, gespenstisch, mit fünfzehn, mit sechzehn, mein Gott.

Wahrscheinlich rettete mich wirklich die Kirche. Die Abende in der evangelischen Jugend, die Mädchen, die Spaziergänge mit ihnen, die Diskussionen, ja all dies rettete mich. All dies zusammen. Auch der Sport und das harte Training. Keinem einzelnen wär es gelungen. Irgendwann fuhr ich nicht mehr auf diesen Wegen, ich benutzte die Straßen, ich wurde zugleich verwegener und zivilisierter, nicht mehr bloß ein Barbar, der als Jugendlicher die Wälder durchstreift, ein werdender Jäger, stattdessen durchstreifte ich dunkle Straßen, ach ich liebte den Marmstorfer Weg, der von Harburg nach Marmstorf führt, dort gab es einen breiten Fußweg unter hohen Kastanien, mit in großen Karos ausgelegten Betongußplatten, dort konnte man wunderbar fahren, ah Zivilisation! Nur alle hundert Meter leuchtete eine Laterne, dort fuhr ich auf und ab, irgendwann auch mit abgeschalteten Licht, und dann und wann sah ich eine, welch ein Aufwand, einsame Frau, die nach Hause wollte, die es nach Hause zog, ach, ich fuhr an ihr vorbei, ich kehrte um, fuhr wieder hinter ihr her, ich fuhr zu ihr auf, grabschte nach ihr, nach ihrem Busen, fand da irgendwie weiches Fleisch, ach zweimal nur fühlte ich da weiches Fleisch - dann schnell wieder weg, mit plötzlich ganz heißem Kopf und fiebrigen Augen - der kühle Wind - ja, und so schnell es ging, suchte ich den ersten Nebenweg, um auf ihm in die Nacht zu verschwinden, in finstere Nacht, wo ich den Dynamo einschaltete, nur keinen zweiten Versuch riskieren, weg, weg, weg, ach, meistens, ach, und auch das nur ein paar mal, fühlte ich nur harte Mäntel, die grauen Mäntel jener Jahre ... wie oft mag das passiert sein, insgesamt fünf mal in zwei Jahren, aber ich war bereits sechzehn, hab schon Aufsätze über Cicero geschrieben, ein Jahr später würde ich 'Hiroshima mon Amour' von Duras - verstehen! Ja, verstehen, ganz ohne Zweifel, ja ich habe diesen Film - verstanden! wie man nur etwas verstehen kann, jedenfalls nicht schlechter als heute. Und gerade das ist mir unverständlich, mit das Unverständlichste an meinem sogenannten Leben. Ach, die Kirche hat mich gerettet, sie und die Leichtathletik, aber fraglos hatte ich zugleich ein heimliches und unerfülltes Liebesleben, das ist, glaube ich, etwas sehr Gefährliches, ja das glaube ich, da kann sich was drin "stauen", wie es so schön heißt, und irgendwann schrecklich explodieren, nein, die Knabenzeit ist kein Kinderspiel - Gottseidank ist es nicht so passiert. Ach, das war traurig, und die armen Frauen, der Schreck, den ich ihnen einjagte, ich bekam ihn gar nicht richtig mit, so schnell war ich verschwunden, auch so ein Schreck will erst einmal einsetzen - wollte ich auch diesen Schreck? Nein, eigentlich nicht, aber es machte nicht einmal Sinn, sich zu entschuldigen - "Es war nicht bös gemeint," wollte ich manchmal im Wegfahren rufen, und das möchte ich heute noch, wo sie Rentnerinnen sind, allesamt, wenn sie es überhaupt so weit gebracht haben und nicht inzwischen zu Erde geworden sind, im schönsten Falle zu Blumen. Es ist nicht bös gemeint, ja das möchte ich denken, aber das stimmt natürlich nicht, es war sehr bös gemeint, und ich wußte es, wenn ich mir danach zu Hause ein Zuckerbrot schmierte. War ich ein Einzelfall in solchem Verhalten, gab es irgendeine Anomalie in der Familie, die solches Fahren logisch erzeugte, oder ist derlei natürlich, wie das Masturbieren? Und hängt es mit diesem zusammen? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall spielt Vater in diesem Spiel, wenn es nicht stattfinden soll, eine entscheidende Rolle, und meiner hatte sie nicht zu übernehmen vermocht. Darf ich es ihm vorwerfen? Wie hätte er ahnen können, daß sich gerade so etwas in mir ereignete. Sowas bekam man in Österreich auf der Dorfschule nicht unterrichtet. Aber die Fähigkeit zum Genuß geht fraglos über den Vater.

Und selbst bei Regen fuhr ich manches Mal aus, obgleich das vollkommen sinnlos war, doch ich mußte irgendwie fahren, sonst wäre ich nicht glücklich gewesen. So wie ich auch bei leichtem Regen im Sand spielen wollte. Nicht daß ich beim Fahren glücklich gewesen wäre, aber ich war auf andere Weise unglücklich, als wenn ich zu Hause geblieben wäre, so fühlte ich mich wenigstens nicht wie im Gefängnis, ich war in Bewegung, das ist ein schönes Gefühl, auch wenn man sich schlecht dabei fühlt, auch wenn ich es nicht genoß, aber bei Regen zu fahren war absurd. Vielleicht habe ich da bereits ein Gefühl für das Geschick des Sisyphos gewonnen, vielleicht fiel Camus deshalb bei mir so früh auf fruchtbaren Boden - vielleicht, vielleicht, vielleicht - wenn dieser Sisyphos seinen Felsen auch bei Regen gerollt hätte, hätte ichs gleich gemerkt. Hätte man mir Chemikalien geben sollen, um die mir eigenen Hormonpegel denen der Gewöhnlichen anzugleichen? Aber vielleicht war ich ja gewöhnlich, wer will es wissen, klar war das krankhaft, was denn sonst, aber was ist in jenem Alter schon normal, in jener Knabenzeit, wenn sie endet - was ist überhaupt am Menschen normal? Zwar herrscht Übereinstimmung, daß gewisse mentale Zustände - ich beschreibe ja in diesem Text eine Reihe - pathologisch sind, will man aber den Gegenpol, die sogenannte psychische Gesundheit definieren, wird jedermann schnell ratlos, darüber herrscht seltsame Ratlosigkeit, seltsam verstummendes Schweigen ... und schließlich war ich ja darüber hinweggekommen, ohne größeren Schaden anzurichten. Möglicherweise hätten irgendwelche Medikamente größeren Schaden angerichtet, oder auch Prügel, aber man hätte meine Krankhaftigkeit erst mal entdecken müssen, das war nicht einfach, ich verstand es, sie zu verbergen. Würde ich jetzt nicht davon sprechen, hätte nie jemand auch nur das Geringste mitbekommen - gewiß aber wäre ich mit damals solchen Medikamenten jetzt nicht hier, wie man ja überhaupt nirgends wäre, wo man schließlich gewesen ist, wenn irgendwas zu irgendeinem Zeitpunkt einmal anders gewesen wäre oder wenn sie einem immer die richtigen Medikamente gegeben hätten. Vielleicht wäre ich gerade mit den richtigen Medikamenten zu so einem Moosbrugger geworden, der ich vielleicht auch hätte werden können ohne die Kirche, bestaunt von Leuten, denen die natürlichen Eigenschaften des Menschseins bereits abhanden gekommen sind - aber aus mir ist kein Moosbrugger geworden, nicht so ein Mörder, und ich werds wohl auch nicht, statt dessen wurde ich selbst so jemand ohne die rechten Eigenschaften: jetzt bin ich sogar in der Lage, mit einer forschen Journalistin wie der Adriana durch den Wald zu fahren, sogar mit dem Fahrrad, ohne über sie her zu fallen oder ihr an die Brust grabschen zu wollen - ich vermag sogar mit so einer im Bett zu liegen, ohne über sie herzufallen, obendrein kann ich noch genauso gut wie jedermann sonst impotent sein, wenn ich neben so einer liege, alles kein Problem mehr: Ich bin normal! Jetzt hab ich mich offenbar sogar ins Königreich der Impotenten gehoben - Ich habs geschafft!!!

Und wieder bin ich von der Dachkammer abgekommen, bin ich von ihr weggekommen. Warum fällt mir selbst das mit dem Fahrrad, fällt mir selbst das mit der Impotenz leichter als das mit der Dachkammer? Ach die Dachkammer ist langweilig, sie ist nur ein fixe Idee, die ich mir aufgebaut habe, um das mit dem Fahrrad zu begründen, nichts hat einen Grund - sinnlos darüber nachzugrübeln, es ist alles Belletristik, auch was man sich so antut, es ist mir alles nur so in den Sinn gekommen, auch die Geschichte mit Adriana. Was heißt schon, daß es wachsendes Beweismaterial darüber gibt, daß die Veranlagung zu Aggression und Gewalttätigkeit genetisch vererbt wird, daß sie für Männer charakteristischer ist als bei Frauen, oder daß die Mehrheit der Verbrechen in allen Kulturen durch junge Männer verübt wird? Was bedeuten uns schon die Resultate der Primatenforschung, welche für die männerbündische Aggression eine Kontinuität von unseren Primatenvorfahren bis zum heutigen Menschen anzeigen? Da auf der Dachkammer hab ich kein Verbrechen verübt. Schon eher fühle ich mich dadurch angesprochen, daß Schimpansen-Männchen ein Serotonin-Hoch verspüren, wenn sie den sogenannten Alpha-Status erreichen, und daß man in Schimpansenkolonien durch Regulierung des Serotoninspiegels die Herrschaftshierarchien offenbar umordnen kann. Wird man das bei Menschen ebenfalls ausprobieren? Selbstverständlich entwickelt man auch als Künstler so ein Serotonin-Hoch, wenn es einem gelingt, ein Kunstwerk zu produzieren, ich entwickelte es aber bereits auf dem Dachboden mit meinen Wäscheklammern, wo ich Alpha und Omega zugleich war, oder auf jenem traurigen Fahrrad; ein jeglicher Alpha-Status ist relativ, mit dem Serotonin nimmt man, bei rechtzeitiger Behandlung, einem zugleich alles Mögliche weg. Oder stimmt das nicht, nein ich kann es nicht glauben. Ach, es ist mir bloß in den Sinn gekommen, besonders dieser Teil mit dem Fahrrad, er kam mir in den Sinn, vergessen Sie's, auch das mit dem Dachboden, auch das ist überzogene Belletristik, ein furchtbares Übertreiben von Banalitäten, schon damals war es nichts anderes - und dennoch gab es in jener Zeit jenseits aller mehr oder weniger amüsierenden Belletristik einen systematischen Ausbau dessen in mir, was da stattgefunden hatte; ja in mir, eine ganz systematische Variation, ausgeführt von einem Instinkt, der in immer neuen Variationen eine größere Komplexität und größere Befriedigung zu erreichen versuchte, und das ist menschlich, muß menschlich sein, selbst wenn es an einen "krankhaften" Serotonin-Spiegel gekoppelt sein sollte - nein dieses Etwas-variieren-Wollen, es ist nicht krankhaft, auch nicht dessen pathologisch anmutende Zielstrebigkeit, es hat mir niemand beigebracht, auch nicht die damit verbundene Zähigkeit, das sind die Gene, die nackten Gene, die einen auch hinter den Frauen herfahren lassen im Dunkeln. Ach du Dachkammer, du warst harmlos, ich weiß, ich weiß, aber ich weiß zugleich, daß in Wirklichkeit du das Geheimnis birgst, das süße, das teure Geheimnis, das in der Analyse so trivial aussehen wird, ein abgebrochenes Streichholz, eine Träne, die sich auf das Metallgitter der Glasscheibe schmiert, irgend so ein Unsinn. Und ich war furchtlos in dieser Einsamkeit, meine Schwestern fürchteten sich vor demjenigen unter dem Dach, sie waren leicht zu erschrecken: hochgehn und Licht aus - einmal waren die Eltern weg, und wir kletterten auf den Dachboden, ich erinnere es, ach, ich weiß was Sie erwarten, nein, nein, das war es nicht...

Übrigens gab es bei dem Boulez-Konzert, auf das ich vorhin die Rede gebracht habe, doch einen Sponsor, eine Versicherung, sie feierte ihren hundertjährigen Geburtstag. Das Publikum saß an vier Seiten um ein leicht erhöhtes zentral errichtetes rechteckiges Podium oder Podest herum - "Aufweichung der Frontalität" nennt sich das vermutlich in der Musikästhetik. Eine Seite, zu der dann also doch eine Front gebildet wurde, war für die leitenden Angestellten und Vorstandsmitglieder dieser Versicherung reserviert, ihre Gattinnen waren mächtig aufgedonnert, die sich wohl große "moderne Kunst" - man schrieb das Jahr 1999 - zum Eintritt ins nächste Jahrtausend ihrer Versicherungsgesellschaft gewünscht haben mochten. Denen jedenfalls an so einem Abend mit irgendwelchen Serotonin-Spiegeln auf Seiten der Kunst-Schaffenden zu kommen, und irgendwelchen Frauen, womöglich ihren Gattinnen, denen man als Jugendlicher nachts von hinten an die Brüste grabschen muß, wenn man es in der Kunst zu was bringen will, ist irgendwie nicht angemessen - auch für die hohe, die raumerfüllende Kunst gibt es offenbar noch einen Ort. Ich schreibe diese Sätze, diesen Einschub, jetzt übrigens genau im Moment der letzten totalen Sonnenfinsternis dieses Jahrtausends - fast ein Jahrzehnt also nach jenem Abend, an dem ich mich so über den Fassbinder aufgeregt habe, ich weiß auch nicht mehr warum, am Tag danach hatte ich von dem vielen Schnapps jedenfalls einen gewaltigen Kater und rätselte am von mir Aufgeschriebenen nicht wenig ratlos herum. Wie dem auch sei, der zweite Teil dieses Konzerts, ein "Répons (1981 - ...)" genanntes Orchesterstück macht den Gedanken, den ich ausdrücken will, vielleicht klarer: dort saß zunächst einmal ein gewöhnliches kleines Orchester, zwei Dutzend Streicher und Bläser, auf diesem Podest in der Raummitte, dirigiert von einem Herrn Eötvös, der seine Aufgabe im Raum zwischen dem Orchester und dem Vorstand der Versicherung - ein weiterer Rückfall in konventionelle Frontalität - auszuführen hatte, aber hinter dem Publikum standen an den Wänden auf der einen Seite zwei Flügel, in den entferntesten Ecken und auf einem längs der ganzen Wand sich brusthoch hinstreckenden Podium, dazwischen ein Vibraphon, und auf der anderen Seite auf ebenso hohen Podium ein Glockenspiel und ein Xylophon, mit einer riesigen Harfe in der Mitte, kann auch sein daß ich jetzt Glockenspiel, Xylophon und Vibraphon verwechsele - sie sehen einander ja recht ähnlich und ich hatte mehr Augen für das Orchester und saß direkt unter der Harfenistin, von der ich minutenlang nur das Spiel der Oberarmmuskeln studierte, und wie sie versuchte, sich dem entstehenden Klanggefüge einzupassen. Kann auch sein daß die sechs Solisten an den Wänden noch andere Instrumente wie Becken oder irgendwelche Syntheziser zu bedienen hatten. Die Musik begann als die übliche "moderne" Musik, mit kurzphrasigen melodischen Ansätzen, voller sorgfältig ausgearbeiteter Klangfarbenmodulationen in rasch wechselnden Rhythmen, wie man sie als Laie von moderner Musik zu kennen meint, aber in diesem Falle erkannte sogar ich die handwerkliche Qualität, in der vieles von Wagner und Mahler eingeflossen war, die Boulez ja oft dirigierte, zumindest erkannte ich etwas von deren Atem, der hier in Marmstorf zwar nicht so weit ausschwang wie bei den Originalen, den man aber doch deutlich mitzuhören meinte, in, so ließe sich sagen, immer mal kurz herausragender Miniaturform. Nicht ganz mein Fall, als Sprungbrett in die Moderne zieh ich den frühen Schumann vor. Aber darum ging es hier nicht, diesen Teil des Stücks, diese Art moderner Musik hätte Boulez überall aufführen können, dazu brauchte er nicht die Verkaufshalle einer Baumschule oder sogar Baum-"Universität" - die an der Wand stehenden Soloinstrumente traten nämlich erst nach einer geraumen Weile in Erscheinung, plötzlich wurden sie effektvoll beleuchtet und brachten nun, zuerst visuell und dann auch durch ihren Klang, der sich dem des Orchesters beigesellte, den ganzen Raum zur Geltung, ja, zuerst fiel es nur visuell auf und durch den extremen Stereoeffekt, das war aber eher wieder banal, kaum mehr als ein Zeigefinger . . . aber dann passierte noch etwas anderes, durch die Laufzeitunterschiede, durch die Zeit, die die Klänge von den einzelnen Instrumenten bis hin zum Hörer - zu diesen Hörern gehörten ja auch der Dirigent und die Sololisten selbst - benötigten, konnte es kein eindeutiges und genaues Nacheinander der komponierten Töne mehr geben, die Raumdiagonale betrug an die achtzig Meter, es war eine ziemlich große Halle, da kamen also zehntel, mehrere Zehntel Sekunden ins Spiel, was für das rhythmische Gefühl bereits eine Katastrophe ist: das heißt der Dirigent und die Solisten hörten nicht mehr das gleiche, und das Publikum hörte wieder was anderes, was sich durch die nicht frontale Sitzanordnung weiter verschärfte und die Echos, die von den Holzwänden des Gebäudes zurückgeworfen worden, das man seinerseits als einen großen Resonanzkörper begreifen konnte, ein eigenes riesiges Musikinstrument, in dem man als Zuhörer, als Musiker, als Dirigent, als Komponist an ganz verschiedenen Stellen saß, so daß sich die Töne von Orchester und den Solo-Instrumenten miteinander verschmierten, daß das Ganze also zu einem seltsamen Brei wurde, der aber dennoch wieder zugleich ganz gewöhnlich dem Schlag des Metrums folgte, ein Brei aus sich ineinanderschiebenden Klangfarben, wie wenn man auf einem leicht verstimmten Klavier dauernd mit dem von Kritikern immer so gern verspotteten Pedal spielt, zu Unrecht verspottet, wie ich meine, und wie gesagt, auch die an den Wänden gebrochenen Echos spielten mit rein, und daß es Holzwände waren, gab dem einen ruhigen, hölzernen Klang, deshalb hatte Boulez diesen Raum auch ausgewählt, in irgendeiner Betonschüssel wäre es kaum gegangen, da hätten einen gleich scheppernde Dissonanzen angesprungen - aber vor allem, und das ist der Punkt, ging es wieder um den Raum, um den vollständig von Klang erfüllten Raum, in den bis in die letzten Winkel Instrumente hineingesetzt waren, die ihn gewissermaßen akustisch beleuchteten. Ich habe, wie gesagt, eine Weile diese Harfenistin beobachtet, wie sie versuchte, sich an der Partitur und am Dirigenten zu orientieren, manchmal drehte sich dieser nach ihr um - sie spielte in seinem Rücken - es war zwar nur so eine symbolische Geste dieses Dirigenten, aber sie brauchte sie, ihre Oberarmmuskeln reagierten dann anders, diese waren aber sonderbarerweise auch in Tätigkeit, wenn sie nicht spielte, so als spielten sie die Teile der anderen Musiker virtuell mit, sie spannten sich aber mehr, wenn sie dann wirklich in die Saiten griff und hoffte - ja man muß es Hoffnung nennen, an einer Stelle zersprang mir, als ich die Wahrhaftigkeit ihres Eifers, ihrer Hoffnung sah, das Herz - daß sich das an den anderen Stellen des Saals, sie hatte da an der Wand ja eine ganz exzentrische Position, auch gut klingen würde, sie hatte jedenfalls noch Angst - der Dirigent hatte sie nicht, er wußte, daß sich das alles schon irgendwie ineinander schmieren und daß er morgen schon ganz woanders sein würde.

Natürlich spielt in die Planung so einer Komposition oder so einer Veranstaltung der Gedanke hinein, daß man als Solist oder als Komponist so einen Raum komplett erfüllen und ausfüllen kann, es ist was Egomanisches und Größenwahnsinniges daran, das manche, gerade in der Musik, für das Wesen der Kunst halten. Genau das aber lehne ich, der knappe Rekurs auf Schumann mag es Ihnen verraten haben, offenbar ab. Ich habe mich nie für diesen Boulez interessiert. Es kann sein, daß ich so einen dünnen Pfad, wie ich ihn früher mit dem Fahrrad gefahren war, für das Einzige halte, was man als Künstler heutzutage noch darstellen darf, so einen eigensinnig verfolgten, von allerlei Neurotik umwucherten Pfad und was man auf ihm wahrnimmt oder wie man sich in ihm vergißt. Das gilt nicht nur in der Musik, es gilt auch in der Kunst und Literatur. Alles Großangelegte, was über das Kammerspiel hinausgeht, hat die Qualität von etwas Vermessenem angenommen, das mit unserer Position im Universum nicht mehr übereinstimmt. Wir beherrschen den Raum nicht, wir sind - und daran klingt leider nicht einmal das Pathos falsch! - ein Nichts im Weltenraum, an ihm gibt es nichts zu feiern, wir werden nicht einmal die nächsten Sonnen erreichen. Alles was wir beherrschen, ist die Räumlichkeit, in der wir uns aufhalten, eine süße Illusion. Das gilt auch für unsere Leben, wir können zwar im Fernsehen an vielem teilhaben, aber ein Roman, der die ganze Gesellschaft erfaßt, ist ein Undings geworden, bei den meisten Gesellschaftsschichten reicht die Erfahrung eines Schriftstellers nur noch zur Platitüde. Die Qualität liegt in Details, die einem im Fernsehen verborgen sind, liegt auf diesen seltsam verbohrten Pfaden, die man halb im Geheimen nicht nur mit dem Fahrrad befährt, sogar die originäre Qualität dieses Konzerts von Boulez wäre im Fernsehen nicht zu entdecken gewesen, sie ist nicht einmal auf einer CD zu entdecken, man mußte den Raum fühlen, worin diese Musik an diesem Abend erklang, per se ist sie geradezu witzlos, in einigen Konzertstücke von Webern ist Ähnliches ähnlich vortrefflich enthalten. Ich spreche von alldem natürlich nicht als wirklicher Musikspezialist, aus der Perspektive von so einem mag es anders aussehen, ich wage es aber stark zu bezweifeln. Mit dieser größenwahnsinnigen Raumbeherrschung ist es irgendwie vorbei. Sie kommt aus den gotischen Kathedralen, aus dem gotischen Spitzbogen wie Spengler sagte, die in ihrer Aussagekraft heute eindeutig den romanischen Kirchen unterlegen sind, das Gotische wirkt auf einmal wie Kunstgewerbe, beeindruckende Ingenieurskunst, wie der Eiffelturm, wie auch die gotische Skulptur der romanischen in meinen Augen plötzlich auf fundamentale Weise unterlegen ist. Selbst das Leiden der in gotischer Tradition abgebildeten Menschen hat etwas von Ingenieurskunst angenommen. Und zwar jetzt erst, in der Zeit der unsere Gefühle steuernden aufgetauchten Hormone, jahrhundertelang war das Gotische, man brauchte kaum drüber nachzudenken, um Klassen besser. Aber auch so eine Sonnenfinsternis, wie sie jetzt ohne viel Trara schon zu Ende gegangen ist - ich war nur einmal kurz aus dem Haus und hab die Sonnensichel gesehen (hier in Hamburg war, wie so vieles, auch jene Finsternis nicht total), das Ganze wurde im Fernsehen übertragen, ich hab es beim Schreiben ganz nebenbei mitbekommen - hat nur noch folkloristische Qualität: der Raum zwischen Erde und Sonne läßt sich nicht mehr umraunen oder gar feiern, wir bemerken dort nur noch stupide Himmelsmechanik der allersimpelsten Sorte. Kepler und Bach konnte sie dagegen wirklich einmal ein Geheimnis gewesen sein, so daß man mit gutem Grund einst von Sphärenmusik träumte; wenn aber Stockhausen es heute tut, ist es nur noch dummer Kitsch, inhaltlich zumindest, aber dieser stößt mich schon so sehr ab, daß ich in die mögliche Qualität dahinter nicht eindringen mag.

Boulez konnte an diesem Abend nicht dirigieren, obwohl er es gern getan hätte, er hatte sich gerade einen Finger gebrochen - digit ist der englische Ausdruck für so einen Finger - er wollte mit den Verstärkern und Synthezisern und den klangverändernden Computern an der digitalen Revolution teilhaben, wobei man fairerweise sagen muß, daß er sie schon in den fünfziger Jahren vorhersah und forderte, daß man in der Musik den Weg ins Elektronische schritt; er saß an jenem Abend hinten an den Verstärkern und Monitoren und Rechnern, keine großen Rechnerbatterien übrigens, es sah recht klein und anspruchslos aus, kaum komplizierter als die zusammengestoppelte Elektronik in meinem Arbeitszimmer, und las zu der Musik seine großfoliantige Partitur, mit zuweilen einem ernsten, nichts verratenden Blick auf den Dirigenten - weniger offenbar beeindruckt vom Raum und der Art wie der Klang ihn füllte, als verwickelt in die Qualitäten oder Unzulänglichkeiten seiner Partitur, wobei er die Gewichtigkeit der Partitur mit derjenigen der aus dem Orchester zu ihm dringenden Musik offenbar mittels einer feinkalibrierten Waage in seinem Inneren verglich. Ich fand sehr komisch, daß mich der große Raum der Kunst nun ausgerechnet an dem Ort eingeholt hatte, an dem ich mich mit der Beschränkheit der einem zugänglichen Wege abgefunden hatte. Nun, ich war zwar nicht mit dem Fahrrad gekommen, aber für mich war der arme Boulez mit seinem gebrochenen Finger (Wie? Was? Geht es auch bei diesem Boulez um eine Verwundung? Geht es auch bei Boulez um einen Vater, den man wegen so einer kaum wahrnehmbaren Verwundung nicht vollkommen zu besiegen vermag, weil es nämlich keine Genugtuung bereiten würde, um ihn in seiner schleimerisch vorsichtigen Beschränktheit auf den Müllhaufen der Kunstgeschichte zu werfen?) auch nur so ein Opfer, er hatte meinen Weg gekreuzt, ohne daß er die geringste Ahnung davon hatte, und jetzt könnte ich mir überlegen, ob ich ihm an die Eier greifen wollte - von Brust konnte bei ihm ja leider nicht die Rede sein. Aber, wie Sie dem eher nachfühlenden Charakter dieser Textpassagen entnehmen können, ich tat es nicht, ich hatte Respekt vor diesem Mann, vor seiner Leistung, auch davor daß er sich hier so schlicht hinter das Mischpult setzte und nicht den Riesendirigenten herauskehrte oder das Riesengenie und das mit dem Versicherungswesen einfach ignorierte. Plötzlich denke ich, daß dieser kleine Text über den Raum und seine Musik - und jetzt denke ich zur Abwechslung mal in großen Räumen und in Jahrtausenden - womöglich das Einzige sein wird, was von seiner Kunst erhalten bleibt. So gesehen hätte ich mich beim Schreiben vielleicht doch länger mit seiner Musik als nur eine Sonnenfinsternis lang auseinandersetzen sollen.

Auf dem Rückweg - es war Ende Juli, und die Sonne war gerade untergegangen, der Himmel strahlte aber noch im Abendrot - fühlte ich mich auf der Autobahn fast wie in Los Angeles - richtig, inzwischen hatte ich Adrianas Empfehlung beherzigt und bin selbst dort gewesen, um mal zu sehen, wie die Welt wirklich aussieht. Selbstverständlich bin ich dort nicht gefallen, vielleicht nur weil ich kein Engel mehr bin oder weil einen die stupende Gleichgültigkeit, die über dieser Stadt liegt - sie wirkte auf mich auf seltsame Weise stumm - ohnehin nie zu betreffen scheint. Daß die Halle, worin das Boulez-Konzert stattfinden durfte, in Marmstorf errichtet worden war, ist reiner Zufall, dieses Gebäude ist nicht aus dem Ort meiner spätknäblichen Qualen entstanden, sondern wegen der inzwischen gebauten Autobahn, auf der ich, noch von der Musik angefüllt, am im letzten Jahrzehnt errichteten Containerhafen vorbeifuhr, an im Abendlicht liebenswürdigen Kran-Silhouetten und hoch aufeinander getürmten Containerbatterien, die alles mögliche enthalten mochten, mit dem die Menschen ihr Glück nicht nur zu machen versuchen sondern es sogar machen, und in recht heiterer Stimmung; ich mochte die sich hier im weichen Licht entfaltende Flachheit, an der nichts unnötig Tiefsinniges ist - inzwischen nimmt man von hier aus nämlich nicht mehr die Elbbrücken, die mich als Kind an liegende Frauen erinnerten, wenn man nach Hamburg will, sondern es geht durch einen langen Tunnel, der die Teile der Stadt offenbar stärker miteinander verbindet, als es zuvor die Brücken vermochten. Von Erde durch Erde zu Erde gewissermaßen; vielleicht liegt es wirklich nur daran, daß man den Fluß nicht mehr so deutlich sieht. Die 600 Zuschauer waren fast alle über diese Autobahn gekommen, für sie fand die Veranstaltung einfach "in Hamburg" statt, als Teil eines großen Musikfestivals, an dem teilzunehmen für manch einen eine Pflicht und für die beteiligten Musiker - die japanische Solo-Violinistin beispielsweise - gewiß eine Ehre war. Zwanzig Minuten nach dem Konzert saß ich bereits im Vienna , einem Restaurant im Schanzenviertel, wohin ich abends manchmal gehe; von Rahlstedt aus, wo ich jetzt wohne, brauche ich eine halbe Stunde. Herr Boulez hat, sollte er den gleichen Weg in umgekehrter Richtung genommen haben, gar nicht entdecken können, daß dort in Marmstorf einmal eine Ödnis herrschte, in der man selbst die evangelische Kirche noch als Unterhaltung begreift, für ihn gehörte dieser Vorort zur üblichen Vorortswüste, die eine jede große Stadt heutzutage umgibt, und in der es trotzdem immer mal eine interessante Örtlichkeit gibt, an der man was aufführen oder sich anschauen kann, in Pasadena das phantastische Norton Simon Museum, oder wie ja auch Fußballstadien immer ein wenig abseits liegen und die große Fußballwelt sich eigentlich, außer in den Medien, ausschließlich in dieser Abseitigkeit abspielt - man kann sie auf der Stadtautobahn jedoch gut erreichen, so wie man die Baumschule gut erreichen konnte, von der diese Halle nur ein Teil war und die seit einem Jahrzehnt ganz Norddeutschland mit jungen Bäumen belieferte. Auch das übrigens interessant, offenbar wollen sich die Häuserbauer von heute auch nicht mehr damit befassen, einen jungen Baum ganz hochzuziehen, wie es unsere Vorfahren noch ganz gern taten - ein Baum, ein Haus, ein Kind - sie wollen ihn lieber bereits fertig, so wie man einen Künstler am liebsten auch schon fertig vor sich sehen will, nicht in diesem Knabenzustand, von dem hier so viel die Rede ist, oder wie man es am liebsten mit Kultur hat: man will gleich die hohe Kultur, die niedere, die noch in den Büschen herumkrauchende, findet man lästig. Ich dachte dies in der Pause zwischen den Stücken, an einem Imbiß, der draußen aufgebaut war, an diesem milden Sommerabend, an dem man vor der Halle Lachsbrötchen und Ähnliches bekommen konnte, die aufgedonnerten Damen hatten sich in ein Festzelt verzogen, das die Versicherung neben dem Gebäude hatte aufstellen lassen. Ein wenig, dachte ich, als mein Blick über die zum Teil schon abgeernteten Felder glitt - ich meinte den feinen Staub, der so beim Ernten entsteht, geradezu in der Kehle zu spüren, weniger in der Nase - erinnerte mich das Ganze an die Internationale Gartenbausstellung des Jahres 1973, an jenen Imbiß, an dem ich manchmal im Regen gesessen habe, neben den beiden Mädchen, neben Ilona und der geldverdienenden Maja - hier gab es keine interessante Weiblichkeit und niemanden, der sich für mich interessierte. Auch die Felder meiner Jugend haben sich wahrscheinlich inzwischen in Gärten verwandelt, die von dieser Baumschule mit ausgewachsenen Bäumen beliefert wurden, diese IGA war offenbar wirklich eine prophetische Veranstaltung. Kurz zuvor war ich jener Illa wiederbegegnet, Illa Kerner, bei einer Ausstellung früher Arbeiten des berühmten Polke-Potzke - als ich sie erblickte, piekste ich ihr kurz in den Bauch, gleich hatten wir gute Laune. So ein Monat vor einer Sonnenfinsternis bringt offenbar immer noch allerhand zusammen. Sie konnte sich nur schwach an mich erinnern - Einmal, sagte sie, hätte ich, als wir mit dem Bus irgendwohin wollten, nur einen Schuh angehabt - mir war dieses Detail, es lag eigentlich nicht, wie ich meinte, in meiner Art, längst entfallen - sie hätte das wohl seltsam gefunden - nach ihrer kreuzbiederen Familie, in der man nicht mal eine Gabel falsch hinlegen durfte, war ihr das jedoch gerade recht. Anscheinend hatte ich bereits damals mitunter ein wenig Schlagseite. Aber wie gesagt, ich habe daran nicht die geringste Erinnerung. Dann kam etwas, was sie munterer sprechen ließ: ich hätte ihr in unsere kurzen Bekanntschaft - auf unser kümmerliches Ficken kamen wir gar nicht erst zu sprechen - die Liebe zum Kino mitgegeben, ich wäre mit ihr in all die guten Filme gegangen, Bunuel, Bergman, Resnais, aber auch amerikanische Western, und ich hätte so viele Filmphotos gehabt und ihr immer erklärt, was so gut an diesen Photos wäre - diese Liebe zum Kino habe sie ihr "ganzes Leben", wie sie sich ausdrückte, begleitet, und wenn sie ihren Sohn jetzt sehe, täte er ihr richtig leid, bei all dem Schrott, den es jetzt nur noch im Kino gäbe. Und wie ich denn Polke-Potzke fände? Ich zuckte die Achseln. Er war ein Zeitgenosse, von dem auf dieser Ausstellung ausschließlich frühe Arbeiten zu sehen waren, ich war ein direkter Zeitgenosse ihres Entstehens gewesen und hatte sie kaum beachtet. Hier an den Wänden, auf klare Weise zusammen und in die Zukunft weisend, lösten sie vor allem Erstaunen aus, Erstaunen darüber, daß es das damals gegeben hatte. Und noch eins fiel jener Illa nun ein: als sie geheiratet hätte, hätte sie ihrerseits ihrem Mann, einen Architekten, etwas von dieser Liebe zum Kino vermittelt, sie hätte es weitergegeben, sehr seltsam, zuerst hätte er sie nur mit großen Augen angestaunt, aber dann hätte auch er einiges gelernt und plötzlich den Auftrag für die Umgestaltung einer Anlage zu einem Kino bekommen, da konnte er nämlich plötzlich mitreden und von der eigenen Liebe zum Kino sprechen; richtig reich wäre er davon geworden, daß er jetzt Kinos umbaute, nun wäre sie aber leider geschieden und hätte nichts mehr davon; wie auch ich - angesichts des ausgestellten Erfolges von Polke-Potzke und meines Achselzuckens hatte sie erkannt, daß auch aus mir nichts Rechtes geworden war - nichts davon hätte. Als sie dies sagte, mußte ich wieder an diesen Satz von Brenner denken, diesem gewordenen Schriftsteller, daß sich die Reichen immer die schönen Mädchen schnappten und wir bekämen sie dann nur als Abfall. Im Falle von Illa hat sich jemand ein schönes Mädchen geschnappt, das einen Künstler verlassen hatte, und war so zu einem reichen Mann geworden - wozu die Künstler nicht alles gut sind! Wie ja auch das Frühwerk des berühmten Polke-Potzke immerhin gut genug dafür war, jene Illa einmal wiederzusehen. Das ließ Brenners Satz noch idiotischer erscheinen, als er mir schon damals erschien, aber wie gesagt, Brenner hat ihn bestimmt längst vergessen. Wahrscheinlich hat dieser Architekt sogar aus dieser gerade vergangenen Sonnenfinsternis ein Geschäft gemacht, und sei es nur, indem er einen Würstchenstand entwarf, der "irgendwie" an die guten Tage des Kinos erinnert. In Los Angeles muß man sogar für die geringsten Anlässe so eine Autobahn nehmen, das hat Charme.
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Heute (Ach, wann hab ich nun wieder die folgenden Sätze geschrieben? 5 Jahre wohl vor jener Sonnenfinsternis, die die letzte dieses Jahrtausends war. Überhaupt hat die Passage mit Boulez und der Sonnenfinsternis hier gar nichts zu suchen, sie ist nur der Kuriosiät wegen hier, aus einer mit der eigentlichen Geschichte gar nicht zusammenhängenden Logik, aus einer kuriosen späteren Übersicht des Geschehens; nach der Logik unserer Geschichte ist sie reine Science-Fiction, etwas unmöglich Hervorsehbares, auch die reifere Perspektive, aus der heraus es geschrieben ist, war für jenen Richard, um den es hier eigentlich geht, der hier so oft auch als "Ich" auftritt, in keinster Weise vorhersehbar. Vergessen Sie's also!) - Heute also - (fünf Jahre vor jener Sonnenfinsternis) fühle "ich" mich, anders als auf jenem Dachboden, nicht mehr wohl, wenn ich allein bin, ich mag nicht allein sein, in keinem Raum; am liebsten würde ich in einem Großraumbüro nicht nur arbeiten sondern auch schlafen, ich mag Gemeinschaftsküchen, die Mensas meiner Studentenzeit fand ich herrlich, auch Restaurants, worin Leute Schlange stehen und ohne großes Federlesen essen, Autobahnraststätten beispielsweise. Einsamkeit ist nichts für mich, ich bin gern mit jemandem zusammen, ich bin gesellig, das ist ganz klar. Wollen Sie wissen, was ich esse, während ich dies, in leider nun doch beachtlicher Einsamkeit, weiß der Teufel, warum ich mich in sie hineinbegeben habe, niederschreibe? Dosenlinsen mit einem Brühwürfel aufgekocht, dazu eine Dose Schnittchampignons und eine Thunfischdose mit Gemüsedressing, alles kräftig ineinandergerührt, dann reichlich Cayennepfeffer, Thymian und Kräuter der Provence! Morgen mach ich mir vielleicht Dosenerbsen, die kleine süß schmeckende Sorte, gemischt mit Kidney-Bohnen, rot und grün, die Farbkombination will mir gefallen, dazu eine Dose zermanschter Makrelen und am Schluß, nach dem Aufkochen, vielleicht noch zwei, drei dünne Scheiben Camembert, ich freu mich schon drauf. Oder soll ich weiße Bohnen nehmen, sie wieder mit diesen raffinierten Brühwürfeln aufkochen und Ölsardinen dazugeben, zu Kräutern der Provence mit reichlich Oregano, süßem Paprika und schwarzen Pfeffer, und die Sardinen so lange einrühren und auf ihnen mit den Rührlöffel herumstampfen, bis von ihnen nichts als Streifen bleiben und auf der Suppenoberfläche glänzende Schuppen? Sie sehen, ich bin ein Junggeselle, bin ein Genießer! Auch mein Vater konnte nicht kochen, sein Bruder hat es ihm abgenommen, ich habe davon berichtet, Toni-Onkel hat es ihm immer abgenommen.

Ach, ich komme noch mal auf dieses Zeitproblem beim Schreiben zurück, es ist wert, daß man nicht nur so darüber hinweggleitet, daß man nicht nur so darüber hinwegliest oder die dadurch beim Schreiben entstehenden größeren Diskrepanzen ausräumt. Es ist sehr sonderbar, daß man manchmal weit länger an etwas schreibt, als das Beschriebene gedauert hat, gewöhnlich verhält es sich im Leben anders herum - Man erlebt etwas und findet, wenn man es nicht gleich vergißt, gerade mal ein paar knappe Sätze, die den Kern des Geschehenen umfassen, die es umreißen, in oft nur niederschmetternder Unzulänglichkeit: 'Na ja, dann haben wir geheiratet, ich weiß gar nicht ob wir glücklich waren, ich glaube wir waren es, obwohl ich immer so meine Vorbehalte hatte, er roch irgendwie komisch, und irgendwann ging es nicht mehr, da haben wir uns scheiden lassen.' Mit sowas faßt man dann sieben Jahre zusammen, nicht nur für andere, auch vor sich selbst, ich tue es zum Beispiel bei meiner Ehe mit Christiane. Beginnt man zu schreiben, ändern sich die Verhältnisse, auch bei diesem Buch oder was immer es werden wird - denn es wird was - und bei dem ich gerade durchblicken ließ, daß ich schon über zehn Jahre daran arbeite, obschon der Zeitraum, von dem ich eigentlich sprechen wollte, die sogenannte Knabenzeit, nur drei Jahre gedauert hat, das ist sehr sonderbar. Denn man verändert sich in diesen zehn Jahren, wird ein ganz anderer Mensch, hat auf einmal andere Ansichten - Was einst höchste Einsicht zu bedeuten schien, wird, gerade beim Schreiben, nach ein paar Jahren oft zu nichts mehr als einer stilistischen Lächerlichkeit - zugleich hat man aber noch immer die gleiche Knabenzeit, von der man weiterhin sprechen will, es ist die gleiche für all diese aufeinanderfolgenden Personen, zu denen man wird, es gibt keine andere. Aber die Ansichten, die man dazu hat, ändern sich, mehr noch tun es die Ansichten, die man von Sprache hat, sie ändern sich ebenfalls, zum Teil sogar dramatisch, so sehr, daß man das früher Geschriebene eigentlich wegschmeißen möchte, gäbe es nicht die mitunter sehr seltsamen Gedanken, die darin eine Herberge gefunden haben - klar, man könnte sagen, die späteren Ansichten seien die besseren, man versucht also, alles so darzustellen, daß es den reifsten Zustand, die reifsten Ansichten widerspiegelt. So beginnt man auch, aber bei längerer Arbeit entdeckt man erstaunt, daß man da einem Irrtum erliegt. Die Reife von heute wird morgen ebenso zu einer von selbstverliebter Eitelkeit gefärbten Lächerlichkeit. Wenn man das Altern an sich spürt, und die reiferen Leistungen seines Denkens, nimmt man zugleich eine Beschränkung des Lebensradius war, ein Desinteresse an vielem; dieses Desinteresse ist wohl in der Regel begründet, es stellt aber zugleich eine Einengung dar; vieles von dem, was man getan hat, wird einem ganz unverständlich, in unserem Falle zum Beispiel die Sache mit den gerade erwähnten Essensgewohnheiten, an die ich nun beinah mit Schaudern denke, jetzt - um, wie gesagt, die Jahrtausendwende - esse ich ganz andere Sachen, zum Frühstück etwa stets anderthalb Scheiben Schwarzbrot, eine Hälfte mit Frischkäse, eine mit frischem Camembert, die dritte Hälfte mit Teewurst (mir gefällt, daß mein Frühstück drei Hälften hat), das Ganze dünn überstrichen mit deutschem Kaviar. Jede dieser drei Hälften zerschneide ich in etwa ein Dutzend rechteckige Häppchen (das Ganze sieht ein bißchen wie ein Sushi-Mahl aus) und mache mir eine Freude daraus, bei jedem Bissen zu überlegen, welchen ich als nächstes auswählen werde, dazu trinke ich Tee mit Milch und zwei, drei Löffeln Zucker - darauf reduziert sich inzwischen mein Zuckerkonsum - und lese Zeitung. Zwar bin ich beim Lesen nicht komplett anal orientiert, ich kann also auch lesen ohne zu essen, aber die Umkehrung greift bei mir schon: ich lese gern beim Essen, das mache ich lieber, als mich dabei zu unterhalten. Wie kann nun aber jemand mit solchen Essensgewohnheiten, die das Pedantische schon mehr als nur streifen, über jemanden schreiben, dessen größte kulinarische Freuden in der Zermanschung von Fischkonserven in heiße, durch Brühwürfel verbesserte Dosensuppen besteht? Oder gar über einen, der Zuckerbrote als seine Lieblingsspeise ansieht, sogar als Belohnung nach unerfüllten und peinlichen erotischen Heldentaten - ach jene Zuckerbrote: fingerdicke Scheiben Graubrot mit Margarine und einer dicken Schicht Zucker, ich freute mich über da Knirschen dieses Zuckers zwischen den Zähnen. Eine Weile schätzte ich in jener Zeit als Alternative auch dicke Scheiben fetten Specks, den ich mir mit Paprika versüßte, auch darauf wurde ich bald ganz versessen, bis zu einer Serie von Furunkeln, von denen der Arzt mir sogar eins mit einem Messer hatte aufschneiden müssen, hinten an der Schulter - seltsames Gefühl, daß der spitze Schmerz dort hinten Folge einer Ernährungsweise sein konnte. Und nicht auszudenken, was für ein Läufer aus mir hätte werden können, hätte ich damals eine Pasta-Diät befolgt und nicht so viel fetten Speck und Zucker gegessen, über dessen Knacken an den Zähnen ich mich indes weitaus mehr freute als heute über das milde Knacken des deutschen Kaviars - russischen lehne ich nicht allein wegen des Preises ab - wenn ich zufällig mal eins der Eier zerbeiße, obwohl mir auch dies Freude bereitet. Ich bin überhaupt ein lebensfroher Mensch - auch wenn dieser Text ganz anders klingt, beim Schreiben erfaßt man jedoch nur den einem prägnant vorkommenden Teil der Wahrheit - der im Geringen Freude zu entwickeln versteht, die andere gerade mal im Großen haben. Nun, man könnte sagen, daß die feineren Freuden einem ein Urteil über die gröberen ermöglichen sollten, umgekehrt wisse man gar nicht, über was man eigentlich spreche - das ist gewiß nicht ganz falsch, aber was ist "das Feine"? Ein gutes Essen im Vienna, wie ich es mir auch mitunter gönne, soll ich das Leben aus der Perspektive von sowas beurteilen? Oder aus der zufolge dieser Argumentation noch genaueren Perspektive eines Gourmets, der dann und wann sogar mit jemanden wie Herrn Boulez an einem Tisch sitzt und mit ihm ein paar interessante Worte wechselt, ob er in seiner Jugend vielleicht auch mal zuviel fetten Speck gegessen oder wieso er sich neulich den Finger gebrochen hätte, auch das wäre mir heute möglich, auch das gehört jetzt mitunter zu meinem Leben. Auf dieser Ebene kann man sich am leichtesten mit anderen Menschen austauschen, mitunter sogar recht offen über vergangene Grobheiten und Unappetitlichkeiten, schwerer allerdings über gegenwärtige, da wird man sehr schnell empfindlich. Und leider - nicht nur die Empfindlichkeit verrät es - wird auch diese ins erhoben Gesellschaftliche schiffernde Eleganz etwas Vorübergehendes haben, am Ende wird man womöglich bloß Suppe schlappern, die Schluß-Suppe gewissermaßen, und jede Gaumenfreude für eine vermessene Zeitverschwendung halten; soll man dann - es repräsentiert schließlich einen reiferen Zustand - das Leben etwa aus der Perspektive so einer schal schmeckenden Mehlsuppe begreifen? Mit der intellektuellen Spannweite eines Greises, der nur noch das vor ihm liegende Krankenhaus sieht, auf das sein Leben, wenn er sich nicht schon in ihm befindet, zielstrebig zusteuert, und für den das vorbeigegangene Leben eine Dummheit war, da es sich nicht dieser letzten bitteren Wahrheit bewußt gewesen ist, also fast wie Onkel Toni, der einen schäbigen Heldentod diesem Kathetere an seiner Blase jederzeit vorgezogen hätte? Gewiß schreibt man dann aus einer Position der Reife, aus der Position der letzten Wahrheit, wahrscheinlich schreibt man dann sogar besser, man hat ja jahrelang geübt, gibt wie Onkel Toni dem Jahrmarkt der Lebendigen auch die richtigen Noten, die sich bis zu seinem Ende nicht mehr verändern werden, aber man weiß zugleich, daß man mit der stabilen Ansicht das Leben verloren hat, daß man es nicht mehr lebt; und einem dämmert, daß die Beschreibung aus so einer Perspektive der Reife unsinnig ist, unreif sogar im Grunde, weil es die Perspektive eines Sarges ist. Ein Sarg hat keine Perspektive, nach der Schluß-Suppe ist Schluß. Keins der Worte, die man schreibt, hat noch einen Geschmack. Man begreift, daß das Leben aus nichts anderem als diesen schrägen Fehleinschätzungen bestanden hat, aus einem Meer von abwegigem Geschmack, von verstiegenen Erwartungen, die sich nicht erfüllten, die sich mitunter dann aber doch erfüllen, um dann doch wieder zu enttäuschen, man begreift, daß man, selbst mit dem Überwinden der Freude an so einer erbärmlich aus billigsten Dosen zusammengerührten heißen Suppe, etwas verloren hatte, daß der Umstieg zum Gourmet für etwas anderes eine Katastrophe war, und ist - vollkommen ratlos! Selbstverständlich läßt sich das ignorieren, wie sich überhaupt alles ignorieren läßt, man kann jederzeit zum Tagesgeschäft übergehen, das ist die Art von uns Menschen, aber beim Schreiben funktioniert das nicht. Man muß sich auf so einen Zustand der Unzulänglichkeit einpegeln, aus dem heraus man etwas begreift, irgendetwas dazwischen: auch wenn die Unzulänglichkeit offenbar ist, enthält gerade sie eine nicht wiederherzustellende Qualität. Das Empfinden ist in jedem Moment des Lebens realer als jeder noch so gereifte kluge Gedanke. So ein reiferer Gedanke kann das vergehende Leben weder ersetzen noch kann er dafür mehr als nur eine vorübergehende Genugtuung bilden. So ist zum Beispiel dieser Einschub bereits aus einer verdächtig souveränen Position heraus geschrieben, gerade die Fahrt auf der Autobahn an dem Containerhafen vorbei klingt für mich plötzlich sonderbar, die Befriedetheit, die ich da mit allem empfand, das Gefallen sogar an der dort sich ausstellenden universellen Flachheit, angefüllt von der raumerfüllenden Musik des Herrn Boulez, versöhnt sogar mit dem modernen Containerwesen, dem eine Wüstchenbude, die nach Kino aussieht, und eine gotische Kathedrale einerlei sind: kaum zu unterscheiden, wenn man sie in Stücken in eine Kiste packen und damit Geld machen kann - und doch hatte ich kaum fünfhundert Meter daneben einmal Teile von jenem "Unerreichbar Heimatlos" gedreht , von dem im ersten Teil des Buches so peinlich ausführlich die Rede war. Mit dem verbohrtesten Künstlerimpetus, der sich denken läßt, in dem ich beweisen wollte, daß die Welt ein Trümmerhaufen ist, in dem sich nicht zu leben lohnt, bin ich mehrere Wochen lang täglich dort hingefahren, über die gerade fertiggestellte neue Köhlbrand-Brücke, schon die Fahrt dauerte mehr als eine Stunde, und habe hier meine Einzelbildschaltung gequält und Rhythmen gezählt, zu vorgefertigten Partituren, bis die Kamera kaputt ging, das machte mir nichts aus, ich kaufte trotz meiner Armut eine neue, manchmal nieselte es, ich fuhr trotzdem; ich war davon besessen, was Neues zu machen, etwas, was noch von niemanden erreicht worden war, gerade weil ich in diesen Aluminiumwerken dahinter und in diesem damals gerade entstehenden Containerhafen mit seinen Verladebrücken nicht eine Spur mehr von Heimat zu entdecken vermochte. Als ich jetzt an dieser Stelle vorbeifuhr, ist es mir nicht einmal in den Sinn gekommen; meine damalige Existenz war eingetaucht in den gefälligen Dunst dieses Abends, in dem ich zweifelsfrei fühlte, daß so ein Sonnenuntergang aus dem fahrenden Auto tausend Mal schöner ist als einer, den man mit jemandem wie Adriana in einem Restaurant an der Ostsee erleben kann; schon wegen der beim Fahren vielfach sich ändernden Perspektiven, aus denen heraus meine Arbeit an jenem inzwischen so fernen Film kaum mehr als eine Laune meines Lebens erschien, obwohl ich nichts Launenhaftes in meiner Verbohrtheit hatte. Nein diese neue, die in diesem Auto von Boulez beglückte Person, hat mit dem ansonsten hier Geschriebenen nichts zu tun, diese Person, die im Grunde nichts mehr davon begreift, auf beinahe schon gefährlich Weise nichts mehr davon begreift, weil sie sich bereits ganz woanders befindet - "Ich" bin schon wieder ein ganz anderer Mensch, leider, als es dieser Richard Martin gewesen war, dessen Buch und über den all dies eigentlich ist - ich wohne auch woanders, das vorhin beschriebene Arbeitszimmer ist für mich ferne Vergangenheit, schon den Hauptteil dieses Textes schrieb ich woanders, obwohl ich immer noch daran herumkorrigiere, hier in Rahlstedt, dadurch kommt es zu erheblichen Unstimmigkeiten, die auf logische Weise kaum auflösbar sind - zum Beispiel bei dem Denkmal für den Erfinder des Feuers, das hier in Rahlstedt errichtet werden sollte, zu Texten von Heiner Müller: denn die Nacht, in der ich auf den Fassbinder getrunken habe, die Nacht mit den vielen Schnapps, die das Beste enthält was ich je geschrieben habe und je schreiben werde, hat weder in Rahlstedt noch in jenem Arbeitszimmer stattgefunden, in jener Nacht wußte ich noch gar nicht, daß ich irgendwann in Rahlstedt leben würde, in der extremen Vorstadt, wußte ich nicht, daß ich dort an diesem Ausbruch zum Schnapps herumkorrigieren und ihn radikal umschreiben würde, daß ich ihm da erst die Qualität gebe würde, die dieser Ausbruch schließlich bekam, und daß deshalb nur dieses Rahlstedt Ort eines Denkmals zu sein verdient und nicht jenes Barmbek, in dem dieser Ausbruch tatsächlich einmal stattfand. Eigentlich müßte ich heute sogar dem Fassbinder dafür dankbar sein, daß er mich so weit von sich abgestoßen hatte, ich müßte ihm den Schwanz dafür lecken, oder ihm die Eier dafür lecken, oder ihm den Arsch abwischen, oder, wenn ihm selbst das nicht gefiele, ihm meine beiden Söhne zur Verfügung stellen, damit er mit ihnen machen könnte, wozu ihm der Sinn stünde, wenn ich denn welche hätte; oder zumindest dafür sogen, daß auch für ihn so ein Denkmal errichtet wird, am besten vor der gewaltigen Halle jener Baum-Schule oder Baum-Universität, mit einer Inschrift: "Hier hat Pierre Boulez einst ein Konzert gegeben, wägenden Blickes, und von Fassbinder geträumt." Denn an dieser Baum-Universität erinnerte ich an jenem Imbiß mit den Lachsbrötchen auch, daß ich selber einmal einen Film über Bäume gemacht habe, im Frühling nämlich nach jenem Ausflug mit der forschen Adriana, na, eigentlich kein Film über Bäume, aber in ihm sind, zu verbalen Passagen, die sich mit leicht unappetitlichen späten erotischen Abenteuern auseinandersetzen, bestimmt zwanzig Minuten lang nur in meinem Flackermodus aufgenommene Bäume zu sehen, in Tausenden von Einstellungen, er heißt "Aus dem Zeitalter des Übermuts" . Seltsam darin ist nicht, daß sich aus der erwähnten Lektüre der Bäume im Sommer und Winter ein Film über Bäume im Frühling ergab - nicht eine einzige Ulme war dabei - in dieser Richtung funktioniert die kausale Logik noch richtig, aber es ist außerordentlich sonderbar, daß jemand der einen solchen Film gemacht hat, Jahre später plötzlich ein Konzert des Herrn Boulez in einer Baumschule an ausgerechnet dem Ort sieht, den er in seiner Jugend mit dem Fahrrad unsicher gemacht hat. Und daß diese Person von diesem Konzert überhaupt nur erfahren hat, weil sie sich mit einem Literaturagenten in einem Lokal namens Brücke verabredet hatte, dem er unter anderen den ersten Teil dieses Buches zeigen wollte, auf einer CD, damit dieser dafür vielleicht einen Verleger finde. Und daß er sich nur weil es Montag gewesen war, dort in der Brücke verabredet hatte, weil dann das Vienna, wohin er bei solchen Anlässen gewöhnlich ging, geschlossen ist; und daß sich dieser Literaturagent namens Haase, der mir bis zu diesem Abend noch gar nicht bekannt war, sich fünf Minuten verspätete und ich in einer Zeitschrift namens Szene blätterte, die ich jahrelang ebensowenig angesehen wie ich dieses Lokal namens Brücke besucht hatte, und dort den Pierre Boulez angekündigt sah, von dem in den Tageszeitungen eigenartigerweise gar nicht die Rede war. Hätte es sich anders ereignet: wäre es nicht Montag gewesen, hätte sich dieser Agent nicht verspätet, der überhaupt nur zufällig in Hamburg war und sich eigentlich mit jemand anderem, einem Freund von mir, verabredet hatte, um in Hamburg eine mittelheiße Nacht zu erleben, hätte ich nicht das Geringste von diesem Konzert erfahren. Es ist in der Tat sonderbar, wie sich die Motive im Leben verschränken, auf zuweilen so unheimliche Weise, daß der große Doderer das zum Gegenstand seines wunderbarsten Romans gemacht hat; aber man weiß nicht recht, ob es eine Frage des Lebens ist und seiner ihm innewohnenden Logik, daß sich diese Motive verschränken, oder ob sie eine verbindende Eigenschaft bloß dieser Motive ist, eine Eigenschaft der Form, nach der wir alle unbewußt streben, die sich in allem und jeden entdecken läßt. All das liefert unter dem Gesichtspunkt des sogenannten Realismus unerträgliche Torsionen, weil hier mehrere Wahrheiten miteinander kämpfen, und die spätere setzt sich unweigerlich durch. Neulich habe ich zufällig die Nachlaß-Verwalterin von Fassbinders Werk getroffen, eine ganz liebenswürdige Person, sie erfüllt diese von ihr angenommene Position geradezu vorbildlich und ganz vortrefflich, der ich dann leider unter die Nase binden mußte, daß ich mal was über den Fassbinder geschrieben hätte, etwas leider ziemlich Fieses; da sagte sie mir, daß der Rainer-Maria das nicht verdient hätte, gerade nicht von so einem wie mir, er wäre nämlich ein ganz liebenswerter Bursche gewesen, geradezu fürsorglich und schlicht, und hätte sich immer wie eine kleiner Junge gefreut, wenn er etwas zustande gebracht hätte und er es der großen Welt mit seiner schlichten Einfachheit mal wieder zeigen konnte, er vermochte es nie ganz zu glauben - und da habe ich selber auf einmal all die liebenswürdigen Eigenschaften des Rainer-Maria erkannt, ich kannte sie schließlich schon immer, weil ich mich selber ein wenig kannte, und hab mich zu Hause wieder an die Arbeit gemacht und den Fassbinder mit seinen liebenswerteren Eigenschaften ausgestattet, merkte dann aber zu meinem Schrecken, daß das gar nicht recht ging, denn von der auf einmal entstehenden Liebenswürdigkeit war das ganze Gebäude, das ich da genial in meinem Suff errichtet hatte, in eine Schräglage und ins Wackeln geraten und schließlich auf furchtbare Weise zusammengestürzt - vor lauter Liebenswürdigkeit lag es der Liebenswürdigkeit der fürsorglichen Nachlaß-Verwalterin zuliebe auf einmal in Trümmern, nur weil ich auch im Reiche des Liebenswürdigen zu Hause zu sein vermag, auch wenn ich es gar nicht möchte, wie ja überhaupt die Liebenswürdigkeit dafür sorgt, daß jedes größere Gebäude zusammenbricht, bevor es ansprechende Höhe erreichen kann - wie auch die deutsche Literatur durch die hinterhältige Liebenswürdigkeit sämtlicher an ihr Beteiligter und die mit ihrer Hilfe errichteten flachen Gebäude zur liebenswürdigsten des ganzen Universums geworden ist (und das Volk das sie hervorbringt zum liebenswürdigsten aller Völkchen), Teil einer allumfassenden Flachheit, die auch woanders am Wirken ist und der Welt zunehmend diesen flachen Charakter geben will, der im späten Abendlicht von der Autobahn gesehen einen so liebenswürdigen Eindruck macht wie dieses sich uns allmählich nähernde Los Angeles...

Deshalb werde ich auf jenen Ort noch einmal zurückkommen müssen, unbedingt, in dem der Kern dieser Erzählung entstand, obschon er mir jetzt ganz fern ist, obschon er für mich "jetzt" kaum mehr als ein Lagerraum ist, etwas ohne großen Belang, worin ich meinen alten Schneidetisch und anderes technisches Gerümpel abgestellt habe (zufällig genau jenen Schneidetisch, an dem mir Adriana einmal nahe gekommen war, ich habe ihn - nicht Adriana zuliebe selbstverständlich - später erworben und auch "Das offene Universum" daran geschnitten), aber dieser Ort ist inniger mit dem beschriebenen Geschehen verbunden, als mein gegenwärtiger Aufenthalt - dies Buch bleibt daher das Buch Richards und seiner Sicht seiner Knabenzeit. Warum erzähle ich es stattdessen nicht aus der Perspektive des Jahrtausendwende, die mir inzwischen gleichfalls möglich ist? Weil einen damals die Wiedervereinigung so sehr blendete, daß man das angeblich Größere ganz aus den Augen zu verlieren vermochte? Ich weiß es nicht, gewiß gibt es da viel Verblendung, aber zugleich ist wahr, daß einem die vergangene Person, daß einem der, der man gewesen ist, in seinem oder ihrem Empfinden immer wahrer vorkommt als die gegenwärtige. Man wirft ihr zwar vor, daß ihr Denken miserabel sei oder daß sie nicht schreiben könne - und dieser Richard konnte nicht schreiben - dafür war er in seinem Empfinden wahrhaftiger, schon weil er mehr hatte, das er empfinden konnte, er war kräftiger, in mehr Sachen verwickelt setzte er sich unökonomisch mit allem und jedem auseinander, mit zudem viel zu großer Intensität; darüber wächst man, weil so ein Verhalten unsinnig ist, hinaus, aber mit jedem Wachstumsstoß, mit jedem Schub, mit dem man etwas Unsinniges von sich abstößt, geht etwas verloren, geht eine weitere Möglichkeit verloren, etwas zu empfinden. Das ist eine sehr heikle Balance - zwischen dem Schreiben-Können und dem Empfinden-Können, und genau deshalb kommt jener Richard für den Rest des Buches wieder zu Wort, und nicht der Jahrtausendwendler, der ich geworden bin, als solcher werde ich mich damit begnügen, hier und dort etwas zu korrigieren - Vergessen Sie also diesen Einschub komplett!

Ja, es ist heikel, dieses Erinnern; und gefährlich: nur einmal im Leben, ich komme auf den Dachboden zurück, vermag man so etwas nämlich zu erinnern, so frisch wie es nötig ist meine ich; bereits durch so ein Erinnern wird das Gewesene entscheidend verändert, für immer deformiert, durch offenbar schon die Anstrengung dieses Erinnerns, wie bei der Backsteinwand, die Richard in seinem Bemühen, aus Güstrow etwas im Gedächtnis zu behalten - aus Geiz also im Grunde - so konzentriert angeschaut hatte, daß es seine, wie ihm schien, viel wertvollere Erinnerung an die Turmfront in Tangermünde ruinierte. Man kommt dann durch keine Anstrengung mehr zu dem, was wirklich einmal gewesen ist, es ist verschwunden; durch dasjenige, was man erinnert hat - nicht selten leider nur falsch - wenn nicht ersetzt so doch auf gefährliche, oft irreversible Weise überschrieben. Oh, menschliches Gehirn, erinnere dich, erinnere dich: die Dachkammer: Vorsicht!

Ich liege also auf diesem Bett, ich habe geschafft darauf zurückzukommen (vielleicht werde ich erwachsen!) und starre das milchige Glas des Fensters an; nein, nein - Ich starre nicht, ich liege auf dem Bauch, lese in irgendwelchen Landser-Geschichten, deren Brutalität mich wieder einmal abschreckt. Ich blicke um mich: das Fenster ist gar nicht milchig, es ist nur trübe; der Fußboden, ach nein, ich blicke nicht um mich herum, ach es geht nicht, ich kann mich in die damalige Situation gar nicht richtig hineinversetzen, man blickt fast nie um sich herum, wenn man allein ist - das wäre wie Kino. Was mir geschehen ist und was ich geschehen lasse, ist das Gegenteil von Kino.

Da fällt mir ein - auch das muß ich einschalten, wenn ich mich richtig erinnern will, ich muß es mir klarmachen - daß ich das Kino eigentlich nicht mehr mag. Das wundert Sie bei meinem Beruf? Nein ich mag das sogenannte richtige Kino, dabei hatte ich sogar jener Illa meine Liebe dazu vermittelt, wirklich nicht mehr, vor allem interessiere ich mich immer weniger für amerikanische Filme, mich interessieren die Menschen in ihnen nicht und nicht ihre Leidenschaften. Niemand liegt da auf Dachböden in irgendwelchen Vororten herum, tagelang. Weder habe ich wirklich Lust, jemanden umzubringen, selbst damals hatte ich es nicht, noch hat mich je in meinem Leben jemand umbringen wollen, nicht einmal das Bedürfnis, jemanden zu vergewaltigen, kann ich mir ernstlich zuschreiben, auch wenn das vorhin mit dem Fahrrad anders klingen mag, aber da bin ich mir ganz sicher, schließlich war ich erst fünfzehn. Und ich habe auch keine Angst vergewaltigt zu werden, von niemandem. Ich mag die hysterische Verrücktheit nicht, von der das amerikanische Kino so voll ist - dabei mag ich Amerika und seine Gesellschaft, es hat uns Deutsche schließlich gerettet wie mich die Kirche gerettet hat. Aber ich habe ebenso wenig Lust, eine Bank zu überfallen wie die Welt aus der Perspektive eines gesunden amerikanischen Kindes nachzuempfinden, ich war kein auf diese Weise gesundes Kind. Dabei war ich zugleich von Grund auf gesund, in jeder Faser meines Körpers. Aber auch die Liebe in amerikanischen Filmen finde ich langweilig, wie die Berufe der Männer, die sie praktizieren - weder möchte ich dort Anwalt sein noch Polizist oder Werbegrafiker noch interessiert mich die Art, wie sich Anwälte, Polizisten und Werbegraphiker in diesen Filmen benehmen und ihre Leben planen. Wie sie ihre Leben wegwerfen - wenn sich amerikanische Filme mit Künstlern befassen, wird mir schlecht, schon wegen des neidischen Hasses auf brotlose Kunst, der daraus spricht, weil finanzieller Erfolg die einzige für die Produzenten dieser Filme verbindliche und sie verbindende Maxime ist. Doch die Art, wie die Menschen in diesen Filmen schließlich das Geld ausgeben, um das sie so gnadenlos kämpfen, ist so langweilig, daß man lieber betteln möchte, als sich so einem Lebensentwurf zu ergeben.

Ich lenke wieder ab? Nein, nein, auch das Kino hat mich vielleicht gerettet. Das Kino und die Kirche. Nachdem ich öfter im Kino gewesen war, brauchte ich das mit dem Fahrrad nicht mehr, ich meine, dort, im Kino, konnte ich den Frauen in Gedanken an die Brüste greifen und nicht nur von hinten, nein dazu brauchte ich kein Fahrrad mehr, im Kino war das ganz legitim. Nicht zuletzt dafür wurden die Filme nämlich gemacht, vor allem deswegen wurden die Produzenten, wurden manche Schauspieler, vor allem die Frauen, reich. Dazu brauchte man nicht einmal Pornofilme, die gab es ja für die meisten von uns erst später. Für meine damaligen Bedürfnisse reichte das damalige Kino völlig, zusammen mit dem Sport und jener Illa, es war das Rechte für kleine Jungs. Natürlich war mir das alles nicht bewußt, und vielleicht möchte ich all das jetzt auch nur so überspitzt sehen. Aber, Ja, das Kino hat mich gerettet, vielleicht machte ich es deshalb zur Kirche. Das ist freilich lange her. Vielleicht versprach ich mir zuviel davon. In diesem Sinn wäre die kleine Szene, in welcher mir die unternehmungslustige Adriana im Schneideraum so sehr imponierte, als sie mir einen blies, eine billige Blasphemie, und wie alle Blasphemien wohl Ausdruck einer Enttäuschung an der Wirksamkeit des Heiligen, oder wie man dieses dumpfe Gefühl der Enttäuschung am Heiligen nennen kann, es ist ja sehr delikat. Inzwischen habe ich nur noch höchst selten und selbst dann nur noch den Hauch eines Bedürfnisses, hinter Frauen herzufahren und ihnen an die Brüste zu fassen; inzwischen erwarte ich mehr von ihnen. Auch das Kino reicht mir nicht mehr. Nicht weil die Frauen in ihm nicht hübsch genug wären - eher im Gegenteil, aber ich vermisse im Kino immer mehr, was ich sogar dort auf dem Fahrrad ein, zwei Mal spürte, die Wärme von Körper und Fleisch an den Frauen, ich vermisse, ich weiß das klingt nach dem, was ich über Sexualität hier von mir verrate, etwas schäbig und billig: ich vermisse das echte Gefühl; das hängt wohl damit zusammen, daß mir die Personen in diesen Filmen nicht mehr ganz echt vorkommen, sie sind mir trotz all dem Realismus-Getue ganz unrealistisch, aber vor allem vermisse ich natürlich das Gefühl in der Hand.



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