K. Wyborny

LAGO

VORWORT DES HERAUSGEBERS


Ein "Materialien zu einem Roman" genanntes Textkonvolut, das vor allem dem Nautischen gewidmet zu sein scheint. Es beginnt mit skizzenhaft angerissenen Kanufahrten eines gewissen Manfred auf dem Lago Maggiore, in denen ein naiv-nautischer Exhibitionismus angedeutet wird, der im Ziel vielleicht auf die "Dame in Blau" hinweist. Es folgen einige leider recht platte psychoanalytische Grundlagen zum Exhibitionismus, vor allem Fenichel, die dann in ein Geschehen münden, worin der Lago Maggiore von Wiesen ersetzt wird, in denen dann diverse exhibitionistische Muster, zum Teil in Form eines Theaterstücks, ablaufen, die immer wieder von theoretischen Teilen unterbrochen werden. Genaue Datierungen des ablaufenden Geschehens scheinen auf den ersten Blick nicht möglich, es kann sich in der Tat um Studien zu einem Theaterstück oder einer sonderbaren Performance gehandelt haben.

Dieses Exhibtionismus-Motiv, das ja in der "Dame in Blau" bereits vielschichtiger, um nicht zu sagen erschöpfend, abgehandelt wurde, erweist sich dann offenbar, wenn die hier auftauchende Reihenfolge einen gewissen Wert hat, als Sackgasse, um dem Kern und wohl auch interessanteren Teil dieser Versammlung von Texten zu weichen. Es ist dies eine "Das Europäische Auge" genannte Versammlung von datierten Tagebucheinträgen, die am Ende des Jahres 1981 in Kenya anzusiedeln sind, zum Teil scheinen sie allerdings bereits belletristisch weitgehend erhöht bzw. verwandelt worden zu sein, wobei der Held ein gewisser Herrmann ist. Da die Texte in Afrika spielen, mögen darin ironisch sogar einige rassistische Untertöne angedeutet sein, denn dieser Herr-Mann bildet als Träger der Herrenrassengene ein recht jämmerliches Schauspiel. Ans Nautische gemahnt in diesem Fall, daß diese Fahrt einerseits auf der schönen Insel Lamu in einer Verhaftung endet, und er andererseits mit seiner angeblichen Frau Christiane - sie taucht auch in anderen Teilen der Comédie immer mal wieder auf - nach Kisumu am Lake Victoria fährt, wo über einige Schiffe der dort verrostenden weißen Flotte meditiert wird, die schon im Ersten Gesang des Schlußteils von "Vereinigt" erwähnt worden ist. Diese Teil erstreckt sich über fast 100 Seiten, die in Passagen münden, die auch in "Sieben Tage Eifersucht", dem ersten Teil der Comédie Artistique angesprochen werden und dort als "Afrikanisches Tagebuch" figurieren. Insbesondere ist von dem Tod eines gewissen Caspar die Rede, der aber, da "Sieben Tage Eifersucht" eindeutig im November 1979 spielt, wohl umdatiert sein müssen. Den Abschluß dieses Teils bildet - wohl als satirisch gemeintes anthropologisches Intermezzo - ein Tonbandprotokoll, in dem in englischer Sprache von einem Beschneidungritual bei den Luyha die Rede ist.

Der anschließende "Zur See" genannte Textkörper ist wieder rein nautischer Art. Es scheint eine Art verdichtetes Tagebuch einer Seereise von Bremen über Rotterdam nach Trinidad zu sein, die auf das Jahr 1992 zu datieren ist, wobei die Entdeckung eines Irren unter den Passagieren an Bord eines Containerschiffs in Rotterdam, sowie diverse Bordell-Besuche in Paramaribo eine gewisse Unglaubwürdigkeit haben. In diesem Teil kommt Manfred wieder zu Ehren. Mit dem "Europäischen Auge" hat dieser Teil wohl gemein, daß auch hier eine raumverzehrende Reise mit ungewiß bleibendem Ziel unternommen wird.

Die Sammlung endet schließlich in einer "Die Zickige" bezeichneten Textfolge, in der sich das episch abenteuernde der vorherigen Tagebuch-Sequenzen offenbar in einerseits plattesten Ehestreit zu verwandeln beginnt (einen nämlich mit der Zickigen), in dem sich aber andererseits offenbar auch die Form eines epischen Gedichts anzukündigen scheint, denn manches ist in angedeuteten Versen geschrieben, als solle so eine Art Sublimation des allzu Banalen geschaffen werden. Das Geschehen dieser Texte ist auf Ende 1993 datierbar.

Soweit die vorliegenden zum Teil noch sehr ungeschliffenen und zahlreiche Schreibfehler enthaltenden Texte. Über die Natur des Ganzen kann man nur spekulieren, ganz zu Anfang gibt es eine Ideenskizze des Autors, in dem er andeutet, daß er gedenkt, seine Augustinus-Notizen (sie seien als Anhang angefügt) hier zur Gänze einzuarbeiten, was auf eine Fortsetzung des im Zweiten Gesang von "Vereinigt" Angespielten deuten läßt. In Form fraglos, da es sich auf Exhibitionismus bezieht, einer Augustinus hinterfragenden Posse, für die auch die theaterartig angelegten Szenen auf der Weise sprechen. Andererseits wohnt manchen der hier versammelten Textteile - insbesondere dem "Europäischen Auge" - ein Forscherernst zugrunde, der über solche Trivialität hinauszuweisen scheint. Obwohl ich von der Textqualität ausgehend der Vermutung zuneige, daß dieses sagen wir mal: "seriös Abenteuerhafte" die Oberhand behalten wird, deutet sowohl der Titel "Lago" als auch die Datierung der Ereignisse eher an, daß sich das Geschehen von Afrika über den großen Atlantik auf einem gemütlichen Schweizer See bzw. Urlaub auf den kanarischen Inseln reduziert, in einer Art Implosion also ins Lächerliche. Daß also die Darstellung einer gewissen ins jämmerliche fortschreitenden Schrumpfung des Europäischen Sendungsbewußtseins angestrebt wird. Dazu würde dann auch der stupide Exhibitionismus des Anfangs passen.

Wie dem auch sei, in der momentanen Form ist es als Ganzes höchst unpräsentabel, so daß wir von Autor entweder erwarten, daß er ein hohes Alter erreicht, um uns endlich klarer zu machen, was er eigentlich beabsichtigt, um es zu mehr als einem Materialberg zu verwandeln (der momentan, weißester aller weißen Schimmel, vor allem aus im Sande verlaufenden Wellen besteht), oder ob er es uns endgültig als posthum zu veröffentlichende Materialsammlung überläßt, die ebenso wie der "Hollis" genannte Achte Teil im Internet angeboten werden könnte, um dem einen oder anderen Interessenten, der besser Gestaltetes aus der Comédie kennt, ein paar amüsante Stunden zu bereiten. Gerade "Das Europäische Auge" gibt in dieser Hinsicht einiges her.

PC Auden (BdR)