K. Wyborny

AUS DER KNABENZEIT

VORWORT DES HERAUSGEBERS


Wieder einmal ein Buch in drei Büchern - nicht in der klassischen Reihenfolge Hölle, Fegefeuer, Paradies, sondern in der spätestens seit Melvilles Pierre orthodox modernen: aus den Paradiesen der Kindheit, darin einen Mutter umwächst, hinein in ein wirres Gebirge, worin, darüber kann man natürlich streiten, ein abwesender Vater zu wirken versucht. Der Übergangsteil wird hier "Ex Profanis (vom Allzu Profanen)" genannt und befaßt sich mit dem Wesen des Journalismus.

"Heilig, heilig ... Vom Heiligen (Von Mutter und Kind)" wird dagegen schlicht der Paradies-Teil dieses Buchs betitelt. Er ist in der Ich-Form geschrieben und handelte von schmerzlichen Ich-werdungsprozeß des Richard genannten Erzählers. Darin wechseln Jugenderinnerungen, frühe religiöse Erfahrungen, simpel gestrickte Liebeserlebnisse, Blicke in die fremde Erwachsenenwelt, sowie Erörterungen über Makellosigkeit in Leben und Kunst einander mit mancherlei anderem locker ab, um schließlich in eine bizarre Evolutionstheorie zu münden, in der, wie denn nicht, der Autor unter zahlreichen Invektiven auf das, was seine Umgebung momentan zu leisten imstande ist - auch ein gehörige Portion Beleidigtsein spielt hinein - schließlich zu seinem ganz individuellen Schreiben findet ("und von da an wollte ich keine stummen Bilder mehr machen, von da an wollte ich nur noch schreiben; und das tat ich dann, ich schrieb, ich schrieb hunderte von Seiten, bald waren es tausend, ich schrieb obwohl ich gar nicht schreiben konnte...) Überstrahlt wird diese lineare Idylle indes (im Gegensatz zum im Titel Versprochenen, und ganz anders als in Pierre oder dem paradiesähnlichen Zuständen bei Proust) von einer fast lebensgefährlich anmutenden Abwesenheit von Mutter, die den Erzähler als Jugendlichen in eine das Autistische streifende und daher vielversprechende Einsamkeit treibt, zu deren Kern er einstweilen aber nicht vorzudringen wagt.

Dies gelingt ihm im zweiten Teil (die Teile werden übrigens "Schub" genannt, als würde der Erzähler darin zu einer neuen Erkenntnis "geschoben") mit Hilfe des neugierigen Blicks einer Journalistin namens Adriana, zu der sich eine hoffnungslose Beziehung entwickelt. Dabei treten allerdings Phänomene und Verhaltensweisen zu tage, auch aus der jüngeren historischen Vergangenheit, in denen man sich als Deutscher schämt, das schöne Wort "Ich" zu benutzen. Es ist teilweise erschütternd zu beobachten, wie der Erzähler da zwischen einem "Ich" und einem "Er" hin- und herzupendeln beginnt, aus Scham vornehmlich wohl, und wie er sich in mitunter beschämenden Erinnerungen - sie betreffen allesamt Erlebnisse aus der Adoleszenz, der späten Knabenzeit, in der sich die männliche Persönlichkeit ja endgültig, und wie der Autor an einigen Stellen meint, sogar unwiderruflich ausformt - mühsam wieder zu einem Ich durchringt, das sich zu akzeptieren vermag. Dabei wird seine bisherige Berufung, das Filmmachen, einer strengen Revision unterworfen, an der er das Maskenhafte seines Tuns erkennen kann (einiger seiner Thesen zum Film werden von Charakteren des Zweiten Faust vorgetragen), und zaghaft nach einer Alternative gesucht. Daß das zu Impotenz im Umgang mit der forschen Adriana führt, die solche Hemmungen längst überwunden hat, dürfte für den Leser keine Überraschung sein. Ähnlich wie der erste Teil (bzw. Schub) in einer, wie erwähnt, recht bizarren Evolutionstheorie mündet, die offenbar ihn persönlich zum Ziel hat, bildet die ausführliche Beschreibung einer Konzerts des berühmten französischen Musikers Boulez, es findet zufällig an dem Ort seiner Jugenderlebnisse statt, eine Art Summe, in der der Autor Jahre später auch sein Verhältnis zu Musik und Kunst in einem milderen, dennoch aber weiterhin erstaunlich scharfen Licht zu umreißen sucht. Ich betrachte diesen Teil, der, offensichtlich später geschrieben, auch sprachlich nuancierter und daher in größzügigeren Bögen ausschwingt, als den Höhepunkt dieses Bruchstücks - vielleicht ja nur, weil mein Namenspatron W. H. Auden einmal das Libretto zu einer Oper des deutschen Musikers Henze geschrieben hat, er ist dem Boulez in seiner zaghaften Modernität ja entfernt verwandt.

Es endet schließlich im dritten Teil, der vorerst allerdings nur als Wort- und Szenengebirge vorliegt. Es trägt den Titel "Vater ...Vater (Auch vom Vätrigen)" und folgt einer Erfahrungskette, die den Autor (der nach wie vor hilflos zwischen Ich und Er pendelt) in einem weiteren Liebeserlebnis endlich nach Griechenland führt, als erwarte er dort wie Hölderlin in seinem jugendlichen Korinth eine Art von Erlösung. Diese findet allerdings nicht statt. Nach einem Intermezzo in Athener Bordellen (Odysseus hat Schlimmeres jahrelang mit Genuß überstanden) landet Richard schließlich auf einer Insel namens Anti-Ithaka, wo er auf eine gewisse Mara trifft, in der er die, die Details sind freilich noch nicht recht ausgearbeitet, Essenz der Väterlichkeit zu erkennen meint. Hier endlich, sie ist Architektin, trifft er also auf Vater. Schon dem Vokabular ist zu entnehmen, daß dabei ein Umwertung aller Werte erfolgen will, welche die Psyche des Autors in erhebliche Mitleidenschaft zieht. Und die er bislang leider wohl auch noch nicht zu ordnen verstanden hat: offenbar hofft er noch auf einen Geistesblitz, der dem Text hier zu einem ähnlichen "Schub" verhilft, wie es seiner "Evolutionstheorie" und dem Boulez-Konzert in den anderen Teilen gelang. Daß er diese Verwirrung überstanden hat, wird aus den zeitlich späteren und vor Witz nur so sprühenden Perspektiven der Journalismus-Episoden ja durchaus klar. Solange diese summierende Bearbeitung nicht vollzogen ist, soll dieser Teil daher lieber nicht publiziert werden. Eine posthume Publikation würde dagegen, seltsamer Gedanke, einen geradezu perfekten Abschluß dieses dann weiterhin Bruchstück zu nennenden Buches bilden.

Ich habe mir erlaubt, an einigen Stellen Anmerkungen in Form von Fußnoten einzufügen, die gewisse Bezüge zu anderen Stellen der Comédie Artistique verdeutlichen, einem flüchtigen Leser - und schließlich sind die meisten von uns heutzutage beinah schon naturgemäß flüchtig - würden sich diese Beziehungen ja nicht so ohne weiteres aufdrängen. Ich hoffe, daß sie im Sinne des Autors sind und zugleich das Lesevergnügen nicht allzu stark beeinträchtigen.


PC Auden (BdR)