K.Wyborny

VEREINIGT

(Roman aus Deutschland)

Zweiter Teil

DER WEG STIRBT


Kapitel 6

WEITER OSTEN

 

Vor dieser Berlinfahrt hatte Philipp eine Weile in Cézannes Briefen herumgeblättert, um etwas zu finden, was seiner Vermutung vernünftigere Grundlagen gab, dem St.Victoire könne im Werk des Malers die Vernichtung der Teutonen als Würzung beigemischt sein - vergebens. Wohl tauchte die südlich an Aix vorbeifließende Arc gelegentlich auf, deren Ufer Cézanne recht häufig malte, daß er es aber tat, weil sich hier Teutonen und Ambronen einst in der Sonne aalten, darauf wies nicht das Geringste hin. Er schien eigener Jugend um diese Gewässer, mehr eigenem Baden nachgesonnen zu haben. Dafür fand Philipp die Angabe einer Pariser Adresse recht interessant: Er wohne jetzt, schrieb Cézanne 1872: "in der vormaligen Rue Saint-Victor, die jetzt Rue de Jussieu heißt, gegenüber dem Weindepot, auf der zweiten Etage." In einem kurz danach abgeschickten Brief erfuhr man wiederum von einem Besuch der Ortschaft Le Tholonet, wo Zolas früh verstorbener Vater sich durch den Bau eines Staudamms für die Wasserversorgung von Aix verdient gemacht hatte. Den Stausee direkt unter dem Mt. St.Victoire suchte Cézanne in seiner Jugend oft auf, manchmal gemeinsam mit Zola - insofern schien nicht ausgeschlossen, daß ihm der Siegesberg dort beim Schwimmen als Symbol der Leistung von Zolas Vater, sie hatte sogar dessen Tod überdauert, einmal in ähnlich eindrucksvoll erhobener Weise erschienen war, wie ihm, Philipp, Sullas Tempel vergangenen Sommer im Mittelmeer, als in die Zukunft weisende Fata Morgana: schon möglich, daß so was zu Cézannes Wunsch beitrug, ihn zum Monument eigenen Schaffens zu machen. In seinen Briefen ließ sich indes weder darauf noch auf den Sieg des Marius ein weiterer Hinweis entdecken.

Im übrigen gab es gar keinen Ort, an dem Cézanne badender Erzfeinde - bewußt oder unbewußt - hätte gedenken können: die Historiker waren noch auf der Suche nach dem einstigen Schlachtfeld, man war sich, Philipp fand es amüsiert heraus, nicht einig. Ein gewisser Dr. Donnadieu siedelte es nicht weit von Aix in Richtung des erwähnten Le Tholonet im Tal der Torse an - dort, gleich hinter der Stadt, hatte Cézanne in der Tat ein paarmal gebadet -, während Clerc und Consorten es dreißig Kilometer weiter östlich vermuteten, in der Gegend der Ortschaft Pourriere, von wo sich eine weite, als Schlachtfeld zweifellos in Frage kommende Ebene allmählich zur Arc hin absenkt. Diese Ansicht teilte auch Stendhal, dem bei einem Besuch der Gegend die Beziehung Pourrieres zum Wort 'pourriture' nicht entging, zu deutsch 'Fäulnis', und der noch zu riechen meinte, daß dort einmal jede Menge Leichen verfault waren. (- "Pourrir? - verwesen!" rief Viola am Telefon, als Philipp sich nach diesem Wort erkundigte - sie konnte ganz gut französisch -, um dann munter drauflos zu deklinieren: "Je pourris, tu pourris, il pourrit!" Ihr fiel das ziemlich Makabre dieser Wortserie gar nicht auf, bis er sie mit einem: "Ja, ich verwese, du verwest, wir verwesen!" unterbrach, wozu sie fröhlich verkündete, daß "je pourris" auch bedeute, daß man dabei sei, sittlich zu verkommen, und das gälte für ihn zweifellos in nicht weniger großem Maße als für sie - oder? Und das wäre doch ein Gelächter wert.) Beide Parteien stützten sich auf den Bericht Plutarchs , der einzigen Quelle, aus der zweifelsfrei indes nur ersichtlich wird, daß die Schlacht nicht weit von Aix an einem kleineren Fluß stattfand. Entscheidende Bedeutung - Philipp überkamen da nach seiner mühsam entwickelten Kritik antiker Schlachtenschilderungen natürlich leise Zweifel - bekam dabei ein Hügel, auf dem Marius sich verschanzt haben soll, von dessen Höhen seine Soldaten die blind anstürmenden Germanen dann mühelos abzuwehren vermochten, um sie auf ihrer Flucht zurück zum Fluß massenhaft niederzumachen, bei Plutarch klingts wie ein Kinderspiel. Die in der Provence häufige Verwendung des Vornamens 'Marius' (sogar einer der im Marseiller Seemannsmilieu spielenden drolligen Filme Marcel Pagnols hieß so) begann allerdings, Taufurkunden belegen es, erst am Ausgang des Mittelalters; es war also keineswegs, wie diverse Reiseführer verkünden, Ausdruck einer bruchlosen, den Genen der dortigen Bewohner (inclusive Cézanne), aus Dankbarkeit für ihre Errettung, gründlich eingeschriebenen, authentischen Überlieferung, sondern bloß der einer lokalen Renaissance, in der man den Bericht Plutarchs wiederentdeckt hatte. Nein, aus dem Gedanken, der große Sohn der Stadt Aix habe aus anti-teutonischem Sentiment gemalt, ließ sich nichts machen.

Daß Cézanne bei der Beschreibung seines Pariser Aufenthalts in der Rue Jussieu den früheren Namen dieser Straße erwähnte, "die ehemalige Rue Saint Victor", fand Philipp jetzt weit bemerkenswerter. In der Verkopplung von 'ehemalig' und 'Sieger', sowie der sprachlichen Nähe des 'Saint Victor' zum 'St.Victoire', meinte er das Echo auf eine Niederlage zu erkennen, die sich vielleicht bereits mit der Hoffnung auf schließlich doch einen Sieg verband; sogar das Datum paßte - 1872 - das Jahr, welches, aus entgegengesetzter Perspektive, die Berliner Siegessäule feiert, woran er, Philipp, gestern Nacht mit Vera vorbeigefahren war. Ansonsten sprachen die Briefe zwar reichlich von Zusammenbruch des Traums vom künstlerischen Erfolg, nie aber von nationaler Katastrophe, die interessierte in Künstlerkreisen anscheinend nicht - nicht einmal die Pariser Kommune war der Erwähnung wert. Zum Vorrang des privaten Debakels paßte das 'Weindepot' an der gegenüberliegenden Straßenseite ebenso, wie die 'zweite Etage': Cézanne wähnte sich zu diesem Zeitpunkt ersichtlich als zweiter Sieger, er war deprimiert, vielleicht sogar dabei, Alkoholiker zu werden, im Stadium einer ganz persönlichen, intensiv erlebten Niederlage. Soweit Philipps Exegese, die, obwohl in sich nicht unstimmig, doch ein wenig zu ausschließlich aus den zufällig durchblätterten Texten sich speiste. Sonst wäre ihm aufgefallen, daß das Gefühl katastrophalen Mißerfolgs Cézanne zwar sein Leben lang vertraut war, daß das Jahr 1872 aber keinen so arg wichtigen Wendepunkt signalisierte, wie Philipp es sich nahelegen ließ. Mit dreiunddreißig war Cézanne durchaus in der Lage, noch ein wenig mehr an Nackenschlägen zu ertragen - sein Abschied von Paris erwies sich als weniger endgültig, als Philipp vermutete: zunächst gings bloß nach Auvers, wo er die Bilder malte, die van Gogh dann in seinen letzten Lebensmonaten kopierte.

Im Winter kehrte er aber, um seinen künstlerischen Platz dort zu behaupten, mitunter nach Paris zurück, was er sein Leben lang beibehielt, zumal ihm nach dem Tod des Vaters eine Erbschaft solches entspannter ermöglichte; nur im Sommer, wenn sich im Freien malen ließ, hielt er sich in Aix, hielt er sich ausschließlich in der Provinz auf. In durchblätterten Buch fand Philipp, von der Rückseite eines Jugendbriefs an Zola, auch noch eine parodistische Zeichnung 'Cicero den Catilina zu Boden schmetternd' - Philipp lachte, als er im Hintergrund ein Gemäuer mit der Aufschrift 'Senatus Curia' entdeckte: dieses eigentlich 'Curia Hostilia' genannte Gebäude (daran waren einst seine Proscriptionslisten angeschlagen) hatte Sulla nämlich umbauen lassen - nach der Verschwörung Catilinas brannte es ab und wurde von Caesar als 'Curia Julia' (der Name erinnerte an seine verstorbene Tochter) neu errichtet, wonach es lange als Versammlungsort des Senats diente und noch heute, zur Zeit Mussolinis aufwendig rekonstruiert, als ziegelgemauerter Blickfang auf dem Forum zu sehen ist. Wenigstens eine winzige Beziehung zu Sulla! amüsierte Philipp die ihm eigene Hartnäckigkeit, worin man irgendwann immer fündig wird . Und in Geschichte versiert waren die Burschen damals, dachte er mit Respekt, während er dem Briefwechsel des Achtzehnjährigen, mit vor allem dem gleichaltrigen Zola, nun mit mehr Sorgfalt folgte. Aquae Sextiae und die Schlacht gegen die Teutonen dürfte ihnen kaum unbekannt geblieben sein, aber das bedeutete nichts. Nein, er mußte seine martialische Hypothese aufgeben - wieso war er ihr überhaupt so fanatisch nachgegangen? Abwegig; völlig abwegig: weder Ort noch Neigung dafür waren vorhanden.

In den Wochen danach verlor sich, man könnte es folgerichtig nennen, sein Interesse an Cézanne, stattdessen meldete sich Monet wieder häufiger zu Wort, das Auge des Lichts, vor allem mit den eigenartigen Bildern von der Biegung des Flusses Creuze aus dem Jahre 1889, worauf das Wasser einem so seltsam intensiv entgegenströmt: süßes Wasser, ja, da war etwas im Fluß - man spürte ein Fließen. Eine Zeitlang unterlag Philipp dem Irrglauben, es handele sich bei diesen Bildern Monets um solche der Arc; aber das war (es rührte wohl daher, daß das französiche 'Arc' einen 'Bogen' bezeichnet und Einem das Wasser in Monets Motiv so auffällig um eine Biegung entgegen kommt) vom Zufall nun doch zu viel verlangt - Ich Oberschüler! dachte Philipp: welch Durcheinander. Denn Monet verriet nichts von dem nach Sexuellem riechenden Abgrund, der den Existenzen von Cézanne, Gauguin und van Gogh so deutlich eingraviert schien: in, von außen gesehen, erstaunlicher Gutmütigkeit übernahm er, selbst grade Witwer geworden, nach dem Tod seines Kunsthändlers Hoschedé dessen Frau Alice samt Kindern und führte ein Gott wohlgefälliges Eheleben - nur ein einziges Mal offenbar empfindlich gestört, als er ein Aktmodell in seinem Haus zu beschäftigen gedachte, in hohem Alter inspiriert vielleicht von den erotischen Zeichnungen seines Freundes Rodin - woraufhin Alice mit vollständigem Auszug drohte und ihr Gatte, ein Weile wohl grummelnd (wer will wissen, wie weit und wie tief), sich lieber weiter mit seinen Seerosen auseinandersetzte - ja, auch dieser Teil der Welt war erstaunlich. Irgendwie meint man immer, in der Kunst der Menschen einen Spiegel ihres Inneren entdecken zu können - Philipp liebte jedenfalls jeden dieser Maler: Monet aber am meisten. Vielleicht weil in Liebe oft ein Stück Verachtung sich mischt.

Ein paar Jahre später - ja, auch sein Leben ging, wie unser aller, weiter - schaute sich Philipp Aix tatsächlich einmal an, auf einer Rückfahrt von Spanien, wo er seine Kenntnisse über römische Betonarchitektur erweitert hatte. Er besuchte die Stadt indes nicht, weil ihn die ungeklärte Frage nach dem Ort des Schlachtfeldes weiterhin existentiell bedrängte, sondern eher "einfach so", wie Vera hatte verlauten lassen, mit Gelassenheit und aus dem Gefühl heraus, daß nett wäre, dieses offene Kapitel ohne viel Aufwand zu schließen - so etwas verleiht ja eine gewisse Befriedigung. Erst da begriff er das Ausmaß von Cézannes Sieg über Welt, Schicksal und die ihn einst ignorierende Vaterstadt. Der Sieg, so plump konnte man es ausdrücken, des Malers über sie war derart überwältigend und total, daß Aix es geschafft hatte, den Sieger total für sich zu vereinnahmen - Aix war Cézanne, in Philipps Augen zumindest: Straßen und Gassen, soviel es mit Anstand überhaupt ging, waren nach ihm benannt, Plätze, Brunnen, Cafés, Restaurants, Schulen, Fuhrunternehmen, Steaks, Getränke und wahrscheinlich sogar Gefängnisse, nur ein 'Bordell Cézanne' schien noch tabu zu sein, bei der auch in Frankreich immer offener zutage tretenden Sexualität eigentlich überraschend. Dafür in jedem Hotelzimmer Reproduktionen der in Aix gemalten Werke - die Bilder selbst hatten die Stadt indes verlassen, stattdessen gab es in ihrer Umgebung wunderbar angelegte Wege, worauf sich die Orte erwandern ließen, an denen Cézanne sie einst schuf - alle! Die nach dem ästhetischen Verständnis der meisten Besucher ohnehin, besonders wenn sie dem Auge in sommerlich lichtdurchfluteten Flirren sich boten, 'wirklichen' Originale!

Cézanne war zu Aix geworden - nicht nur seine Bilder waren ein Vermögen wert, er war es auch für die Stadt. Millionen von Touristen wollten den Ort seiner Inspiration kennenlernen, im Grunde großartig, abgesehen vom Rummel, der ruhiges Betrachten nur schwer noch ermöglichte. Aber der Rummel hier war im Grunde bloß trivial, harmlos schon gegenüber dem von Florenz; oder verglichen mit Arles, wo van Goghs 'Nachtcafé' - einst Stätte Halb-Obdachloser - nun, nach Maßgabe seines berühmten Gemäldes restauriert, Touristen zum teuersten Bier der Stadt lud; das bildete sich Philipp jedenfalls ein, während er dort eine melancholisch stimmende Stunde verbrachte. Tatsächlich saß er im (von van Gogh ebenfalls gemalten) Café am 'Place du Forum', schon zu van Goghs Zeiten eine relativ elegante Angelegenheit - Philipp sollte sich sein Leben lang, selbst später, als er nicht gar so arg krankhaft alles und jedes auf sich bezog, immer wieder in solch tief und aufrichtig gefühltem, die Details gleichwohl an entscheidender Stelle mißverstehendem Empfinden verrennen. Trotz seines Alters blieb er weiterhin jung - in dem Sinne einerseits, daß junge Menschen sich, wie schon erwähnt, ständig irren und dem mit übertriebenem Gefühl beikommen müssen. Mit anderseits aber auch der Schöne und Unschuld der Jugend, in ihrer gegenüber der Zukunft blinden Ergebenheit, die so viel Irrtümer mit sich zieht und dennoch wunderbar ist. Wie sollte Philipp bei alldem informiert sein - es gibt zu viel, was man zu wissen hätte. Die Unwissenheit, die Unfähigkeit hört nie auf. Es gibt nie genug Zeit, sich wirklich zu informieren; nur im Nachherein gelingts einigermaßen, manchmal. Und woher dann die Zeit oder die Energie nehmen, selbst etwas in die Welt zu setzen, ohnehin ein Wunder, daß in all dieser Uninformiertheit, nicht nur im Falle Philipps, überhaupt Diskutables entstand. Dazu bedarf es einer gewissen Einfalt. Insofern bleibt Einem nichts übrig, als im Jungsein zu verharren und daran festzuhalten - reine Notwehr. Können wir uns denn überhaupt auf irgend etwas verlassen, außer auf uns selbst? Immer wenn es um Richtung geht, verdankt man sie doch nur einem vagen, nie recht faßlichen Gefühl.

Und tatsächlich spielt ja gar keine Rolle, ob Philipp sein Bier damals im Nachtcafé oder dem auf dem Forum trank; oder daß im von ihm glatt übersehenen Granet-Museum zu Aix noch acht bemerkenswerte Cézannes hängen, und ob ihr Maler nach seinen traurigen Briefen Paris endgültig oder nur vorläufig den Rücken kehrte - das Gefühl, das Philipp den Brieftexten und dem Erscheinungsbild von Aix oder Arles entnahm, war vielleicht nicht originell, aber im wesentlichen dennoch richtig. Denn so schrecklich und verkehrt der Glauben der Jugend in seiner Aufrichtigkeit auch oft ist, selbst im kümmerlichsten Fehlurteil erstrahlt sie noch prächtig und ist zugleich das genaue Gegenteil des Verkehrten und, wie jemand mal vor langer Zeit sagte, wahrer als Tatbestände, wirklicher als Herrlichkeit und dauernder und köstlicher als der Menschen Ruhm. Dazu paßte nur zu gut, daß Cézanne auf seiner Flucht nach Auvers an den gleichen Dr. Gachet geriet, an dem auch van Gogh in seinen letzten Monaten Halt finden wollte. Die Welt ist voll von unbarmherziger Redundanz, die uns selbst im begeisterten Irrtum zu richtigem Erkennen verhilft. Auf den Wanderwegen um Aix war es indes weiter erstaunlich einsam und gelegentlich ausgesprochen schön, wenn man sich nicht an den vier, fünf Malern störte, die hier - wie van Gogh einst in Auvers, wo er von Cézanne gemalte Motive malend nachempfand - zwanghaft ihre Staffeleien aufbauen, es lohnte nicht, darüber zu spotten. Wäre es ihm in den Sinn gekommen, hätte er gern selber hier ein paar Videoaufnahmen angefertigt. Eins jedoch fand Philipp bei all diesem munteren Gesiege wirklich traurig: die Flüsse, worin Cézanne einst gebadet hatte, sie waren jetzt bloß noch begradigte Rinnsale und vielerorts glatt zubetoniert, oft wirkten sie wie Abwassergräben, obwohl sie es vermutlich nicht waren, denn das Wasser war nicht schmutzig. Aber es gab zu wenig davon, als daß man darin baden konnte, niemand tat es mehr. Das fand Philipp gerade in Erinnerung an Cézannes schöne, scharf irgendwas treffende Bilder mit den Badenden ein wenig bedrückend.

***

Schließlich besuchte er auch die möglichen Schlachtfelder der Herren Donadieu und Clerc. Das in der Nähe der Stadt gelegene des Dr. Donnadieu erstreckte sich zwischen zwei vom Rinnsal der Torse getrennten Neubausiedlungen, wovon die der Stadt zugewandte ausgesprochen luxuriös wirkte, vielleicht weil sie sich, im Bemühen um erhöhte Sicherheit, nur den Fahrzeugen ihrer Bewohner öffnete. Die andere Siedlung sieht man auf dem Weg nach Le Tholonet, wo Cézanne einige seiner schönsten Bilder malte, kurz nach dem Verlassen von Aix rechts unter sich liegen - dahinter, auch wohl daneben, der donnadieusche Ort der Schlacht: heute ein zur Torse leicht abfallender, im Rahmen der übrigen Bebauung neu angelegter, lichter Park, worin Mütter Kinder spazieren fahren. Ein wenig, wie Philipp fand, zu eng für das bei Plutarch beschriebene Geschehen, trotz im Prinzip schon korrekter Topologie, in welches immerhin weit über hunderttausend Mann verwickelt waren. Und der Anstieg zum heute 'Columbier' genannten Hügel, worauf Marius sein Lager hätte aufschlagen müssen, vom Tal gesehen so steil, daß nur Wahnsinnige - dazu mochte man freilich die Teutonen schon zählen - sich zu einem impulsiven Angriff darauf hätten verleiten lassen. Im Jahr zuvor hatte Philipp das Schlachtfeld von Chaironea besichtigt - eine ausgedehnte Schwemmebene im schönen Griechenland, in der Sulla im Jahre 86 ebenfalls hunderttausend Gegner Roms niedermachte. Auf der Suche nach geographischen Details, die Plutarchs und Appians Schilderungen jenes Sieges stützen könnten, versuchte er, diese Ebene zu durchwandern, mußte sein Unternehmen aber nach einigen Kilometern abbrechen, der Mittagshitze wegen und weil er seinen Bus nach Athen nicht zu verpassen gedachte; was dann doch passierte, wohl auch deshalb bekam er da ein gewisses Gefühl für die bei damaliger Kriegstechnik geradezu notwendig großzügige Weiträumigkeit eines antiken Schlachtfelds. Von solcher war hier am Rinnsal der Torse zwischen den beiden Neubaugebieten nichts zu entdecken.

In der Ebene von Chaironea hatte, nebenbei bemerkt, schon einmal eine Schlacht stattgefunden, eine weit wichtigere als die bloß der Defensive wegen geführte, im Grunde folgenlose Sullas (die sich in Philipps Romanversuch schließlich in eine Art Musical verwandelte): Philipp von Makedonien brach hier im Jahre 338, mit seinem Sohn Alexander, den Widerstand der vereinten Kräfte von Athen und Theben und legte damit das Fundament zum späteren makedonischen Großreich. Nach jener Schlacht soll Aristoteles, er interessierte sich für die physische Substanz des Kopf-Inneren, entdeckt haben, daß Verletzte bei der Berührung ihres bloßgelegten Hirns nichts empfinden - der Beginn von, könnte man meinen, 'Gehirnforschung' im modernen Sinn - Philipp stolperte darüber in einem Zeitungsartikel zu einem Hirnforscherkongreß. Daß eine Wissenschaft, deren vor Todesspritzen nicht zurückschreckende Vorgehensweise ihn, bei dieser jungen Katzenforscherin, neulich mit solchem Grauen erfüllte, ihren Ursprung an einem Ort suchte, an dem auch Sulla zugange gewesen war, fand er bemerkenswert, zumal ihn Neugier, wie Hirn und Denken überhaupt funktionierten, weiter am Brennen hielt - vor allem tat das, natürlich, dürfte man sagen, seine perversere, seine männlich gestimmte Variante.

Zog man in Betracht, daß Plutarch Chaironea entstammte - beim Durchstöbern der die Ebene dominierenden, an einem Steilhang liegenden Ruinen war von dessen geschichtsbeherrschender Zeugenschaft naturgemäß nichts mehr zu entdecken - schien sich ihm in diesem Ort (das dortige Museum beherbergt eine der bemerkenswertesten Sammlungen jungsteinzeitlicher Keramik) ein eigentümlicher Brennpunkt europäischer Kulturgeschichte darzustellen. Philipp hatte zuvor das zu Recht viel berühmtere Athen besucht, das nach den Makedonen auch von Sulla erobert worden war, und - nicht zuletzt als Replik aufs jüngersche Gefasel über die bei Sullas Belagerung vermutete 'Heiterkeit' - darüber etwas wirklich Lustiges geschrieben: eine Art sarkastisches Ballett das in seinem Roman ebenfalls Teil des zu Sullas Ehren gegebenen Strandfestes werden sollte. Daß darin auch die Bibliothek des Aristoteles auftaucht (die, von Sulla als persönliches Eigentum nach Rom überführt, nach dessen Ableben in den Besitz Ciceros überging - von Aristoteles entlieh Cicero übrigens seine einschüchternde Affektenlehre - und allmählich zum Fundament römischer Anstrengungen wurde, sich, als sie vollendend, aus der Griechischen Kultur hervorgegangen vorzustellen) war insofern nur folgerichtig. Daß Philipps Sulla Teile jener Bibliothek dabei sogar verbrennen ließ, war allerdings nur an Caligulas späterem Verhalten sich anlehnende belletristische Erfindung. - Inzwischen also ein wenig mit antiken Schlachtfeldern, diversen Traditionsketten, sowie mannigfaltig in sich verdrehten Manipulationsmöglichkeiten im Umgang damit erfahren, lehnte Philipp die von Dr. Donnadieu hier an der Torse vorgeschlagenen Stelle als für die von Plutarch beschriebene Teutonenschlacht wenig geeignet ab.

Die erforderliche Geräumigkeit fand er dafür in Pourrieres, am anderen Ende des St. Victoire. Stendhal, den Philipp auf Grund von Biographie und den in seinem Werk enthaltenen Schlachtenschilderungen für einen erfahrener Kriegsmann hielt, hatte richtig erkannt, daß hier ein Gemetzel der erforderlichen Dimension hätte stattfinden können. Leider war Cézanne, der sich die Orte seiner Bilder (wie ja auch van Gogh und Monet) erst erwandern mußte , nie zum Malen hierher gekommen, was der Gegend die Philipps Phantasie reizende Vieldeutigkeit nahm - Schlachtfelder gab es auf dieser Welt schließlich 'wie Sand am Meer' (gerade die ungenaue Plumpheit dieses Bildes fand Philipp angebracht). Immerhin erregten zwei herumstehende, ganz gut erhaltene Aussichtstürme seinen Forscherdrang: wegen ihrer mit römischen Stützbögen ausgeführten Türöffnungen und Treppenaufgänge hielt er sie gleich für antike Relikte - errichtet im Gedenken an den Ort dieser Schlacht? -, bis die sorgfältigere Mauerwerksanalyse ihren Ursprung dann doch ins ungewisse Mittelalter verschob. Nein, auch hier in Pourrieres bewegte er sich beleglos und bloß auf dem Feld selbstgefälliger Spekulation (die nur zu gern einen Turm neben dem Sumpf der hier Erschlagenen in Art des in der commedia am Ende des Styx sich erhebenden gesehen hätte). Enttäuschend war an dieser Stelle die Arc: ein Staudamm im Oberlauf hatte sie, kombiniert wohl mit der Trockenheit des gerade zu Ende gehenden Sommers, versiegen lassen; kein bißchen Wasser mehr unter der Brücke, über die er, den möglichen (und für ihn nun äußerst wahrscheinlichen) Ort der Metzelei verlassend, nach Aix zurückkehrte. Keine Spur der Kraft von Monets Creuze, von etwa dort Badenden ganz zu schweigen. Traurig. Auf der Rückreise von Spanien war er auf seiner Suche nach dem Geist römischer Architektur unter der Pont du Gard hindurchgeschwommen, entlang von zahlreich an den hübschen Kalksteinufern der Gard sich sonnenden Touristen - da fühlte er sich, angesichts der Vielzahl entspannter Leiber um ihn herum, plötzlich wie vom Geist der Badenden aus Cézannes Gemälden beseelt. Das da empfundene Glücksgefühl, in seiner geselligen Prächtigkeit bei bloßem Alleinsein kaum zu überbieten, war wirklicher Grund seines Abstechers nach Aix - dort wollte er es, dichter sozusagen am Original, erneut, vielleicht sogar intensiver, erleben: auf der Fahrt sah Philipp sich schon, in Glückseligkeit schwimmend und schwebend, unter die am Zielort in der Arc Badenden eingereiht. Und nun gab es mangels genügender Feuchtigkeit nicht einmal den Hauch einer solchen Beseelung.

***

Schließlich entdeckte Philipp in der Gegend von Aix doch einen Ort, wo ihn zwar nicht die erhoffte Beseelung ereilte, er aber trotzdem fündig wurde, in dem Sinne jedenfalls, daß seine martialische Theorie hier perfekter topographischer Realisierung begegnete, gar nicht mal weit von Cézannes Geburtshaus am 'Jas de Boffe' im Südwesten der Stadt entfernt. Wer wirklich sucht - und gehört das nicht mit zum Rätselhaftesten dieser Welt -, der findet. Vom 'Jas de Boffe' - jetzt Teil eines großzügig angelegten, in seiner modernen Einheitlichkeit imposant abgeschlossen wirkenden, vorstädtischen Wohngeländes, das selbst einer Stadt wie Paris gut anstehen würde - wellt sich das Land in mehreren Schüben hinunter zur Arc, in deren Tal heute die Autobahn nach Nizza verläuft; dahinter steigt das Land Richtung Süden, Richtung Marseille, allmählich wieder an. Dort im Tal hätte, wegen der relativen Nähe zum väterlichen Hause, der junge Cézanne zweifellos ebenfalls leicht gebadet haben können. Von unten wirkt der flache, in mehreren niedrigen Erhebungen endende Anstieg zu den Hügeln jenseits des Flusses, die 'la Baume' und 'la Blaque' heißen, nicht besonders bemerkenswert, als Philipp jedoch von dort Tal, Autobahn und die Ausläufer von Aix in nördlicher Richtung übersah, schien er beträchtlich, also auch für jemanden, der sich wie Marius hier verschanzen und in Sicherheit fühlen wollte. Dieser Ort hätte tatsächlich leicht eine taktische Fehleinschätzung der im Tal badenden Teutonen und Ambronen hervorrufen können, wobei ihr Lager dann auf der Aix zugewandten Seite der Arc aufgeschlagen gewesen sein müßte, auf den Hügeln von Valcros östlich vom im Flußtal liegenden La Plioline, gerade da, wo Cézanne im in der Ferne über die Arc gespannten Eisenbahnviadukt eins seiner spektakuläreren Motive fand. Von diesem Lager könnten die Germanen also gegen die auf der südlichen Flußseite errichteten Verschanzungen des Marius angerannt sein, bis ein Ausfall der Römer sie zurück ins Tal drängte, wo die da noch Lebendigen jämmerlich erschlagen wurden, es paßte perfekt.

Das Video samt dazugehörigen Life-Kommentaren und sich verrennenden Spekulationen, welches Philipp von diesem möglichen Ort einer Schlacht anfertigte, fand er, während er es zu Hause nüchtern und ohne Drang zur Einsicht ansah, sehr komisch: unter verquer gespannten Autobahnbrücken erstreckte sich, zwischen halbfertig flach-modernen, gleich neben dem zubetonierten Bachbett beginnenden, nichtssagenden gerade errichteten Industrieanlagen, am Rande von Unkraut bereits wieder überwuchert, wahrhaftig etwas, das sowohl seiner privaten Obsession als auch Plutarchs Beschreibung perfekt entsprach: Geschichte und Geographie als privates Privileg - mehr war vom Leben an einem einzigen Nachmittag kaum zu erwarten. Ja, man ruhte auf einem riesigen Berg von Leichen und Vergangenem; und das, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, meistens - schon seltsam. Daß er dieses beim Betrachten des Videos von tief innen aus ihm herausbrechende Gelächter mit niemandem zu teilen vermochte, war sehr eigentümlich. Was ist das eigentlich, dieser Brei unter Einem, auf dem man sitzt, dieses Gewimmel von Existenzen, die lange vor Einem ihr Ende fanden? grübelte Philipp da mehrmals sentimental.

***

Bei der hartnäckigen Suche nach dem Schlachtfeld hatte er entdeckt, daß Cézanne den Siegesberg sogar von seinem Geburtshaus aus zu sehen vermochte, er war für ihn praktisch sein ganzes Leben vorhanden. Philipp empfand dabei eigentümlich heftig, daß der Berg bei Cézanne auch für Vater stehen könnte, den Bankier, den Anderen in der Familie, der nicht Frau oder Kind war und fraglos das Recht nutzte, vor die Tür gehen zu dürfen und wenn er wollte, auch in die Stadt - ging er fort, um Geld zu verdienen, bliebe seine siegende Gestalt dem später in Gelddingen inkompetenten Künstler bereits als Kind in diesem Berg immer präsent; so weit Philipps Gefühl damals in Aix, wobei er sich dadurch gestützt fühlen konnte, daß Cézanne gegenüber Gasquet einmal auch "die vernünftige Eigensinnigkeit des Berges" betont. Ja soweit Philipp, für den als Bewohner der endlos dahingestreckten norddeutschen Tiefebene Berg beinahe notwendig etwas mit Erektion - in Art des 'Matterhorns' zum Beispiel - zu tun haben mußte, und so war der Siegesberg für ihn, wenn er Cézannes Bilder verehrend betrachtete, gerade bei ganz naivem, empfänglichem Wahrnehmen: verallgemeinerter Vater; und Fluß mit ihn umgebender Vegetation selbstverständlich: die Mutter, obgleich es ihn fast zwei Jahrzehnte ästhetischer Praxis gekostet hatte, dies so lässig hinzuformulieren; danach begriff er, daß ihn die Badenden auf den Bildern tatsächlich an ein Paradies erinnerten, und zwar das, in dem man, wenn man so will, die Mutter noch ungehindert bedrängen darf; im übrigen repräsentierte für ihn die großspurige Linearität des die Arc überspannenden Eisenbahn-Viadukts ebenso klar einen gewalttätigen sexuellen Akt, in dem man das Weibliche überwand. Insofern mochte die von Philipp so besessen verfolgte Schlacht dem jungen Cézanne ja in der Tat eine Zeitlang Ausdruck seines privaten Familiendramas gewesen sein, unabhängig von ihrem genauen Ort - vielleicht sogar, bewußt oder unbewußt, nicht nur Ausdruck, sondern auch Fortsetzung und Metapher.

Und doch: irgendetwas fehlte in Philipps flachländisch gestimmtem Puzzle. Cézanne selbst nämlich dürfte diese Betrachtungsweise, gerade in dieser ziemlich angestrengt rationalisierten Form, vollkommen fremd gewesen sein. Schließlich hieß es ja 'die' St.Victoire: dieser Berg war, wie es Philipp aus den Untertiteln zu Straubs Film sonderbar lange gegenwärtig blieb, einwandfrei - weiblich. Wie die französische Marianne oder die göttliche Nike, die sich in die Freiheitsstatue verwandelte, und, in römischer Zeit, die 'Venus victrix', die siegende Venus: Sullas und Caesars Leibes- und Lebensgöttin. 'La montagne' heißt es nämlich ganz unmaskulin im Französischen, im Gegensatz zum deutschen 'der Berg' oder dem 'il monte' des Italienischen, das dem ebenso gestimmten lateinischen 'mons' entstammt. Und wenn Cézanne in seinen Bordellen (sowohl das lateinische cunnus, als auch sein französisches Pendant für das weibliche Genital sind wiederum ebenfalls maskulin) so etwas wie die Pervertierung der herrischen Siegesgöttin, der man im sexuellen Akt wieder zu 'wirklicher', erniedrigter Weiblichkeit verhalf, durchgespielt haben sollte - irgendwas Seltsames, was die eigene Ehe nicht bietet, muß er dort schließlich angestellt haben -, wurde der Berg dadurch eher noch weniger männlich.

Andererseits scheint ähnlich absurd, die von ihm in Cézannes Werk ausgehende Kraft als Repräsentanz von Weiblichkeit, als liegenden Busen etwa, obwohl das manchmal getan wird, zu sehen - außer im höchst vielschichtigen "L'Eternel féminin" vielleicht, auf welchem ein Kreis von männlichen Bewunderern aller Schichten und jeglichen Alters eine unbestreitbar groteske weibliche Figur umgibt, die, nackt unter einer Art Baldachin auf einem Laken sich räkelnd, ihre

Cézanne: "L'Eternel féminin"

Macht über die sie Begaffenden (darunter der an einer Staffelei arbeitende Cézanne selbst) sadistisch zur Schau stellt. Genaueres Hinsehen läßt aber erkennen, daß der Maler auf seiner Leinwand nicht diese ironisch gemeinte Karikatur des Ewig Weiblichen abbildet, obgleich er sie mit interessant verdrehter Kopfstellung nicht weniger verzückt als die anderen Männer betrachtet, sondern die den Baldachin umgebende Landschaft - dabei verwandelt sich dessen Dreiecksform in eine Gestalt, die gewiß beabsichtigt auf den Siegesberg anspielt, den man infolgedessen tatsächlich, wie manche Kunsthistoriker sagen, als Darstellung des Weiblichen begreifen kann, des gewissermaßen Ewig Weiblichen sogar. Philipps Augen schmeckte dieser Berg indes nicht so sehr nach Analogie, eher vermochte er in Cézannes Gestus ein künstlerisch-trotziges "stattdessen" entdecken, was das Bild zu einer komplex gebrochenen Darstellung der 'Venus victrix' neben ihrer in Aix üblichen Metapher, dem Siegesberg, machte - nach ihrer im Bordell vollzogenen Perversion vielleicht und so ironisch gehalten, daß sowohl ihre wahre Natur als auch die genaue sexuelle Bedeutung der sie darstellenden Metapher sich in der Ambivalenz einer jeden Perversion verloren. Einer solchen ins Ambivalente führenden Perversion mag auch Philipp in Italien und der Südsee unterlegen sein - in ihn verwirrenden Regionen, worin nichts mehr so war, wie er es kannte -, als er angesichts von Bergen widerstrebend ein weibliches Prinzip wirken sah (etwa an dem der Circe oder unterhalb jenes ihn faszinierenden Heiligtums) und sich davon in so heillose Verwirrung stoßen ließ, daß er seinem ästhetischen Empfinden bei Bildern seitdem nicht mehr über den Weg traute und sich stattdessen der Literatur zuwenden wollte§. Er wäre nicht der erste deutsche Künstler, dem die Sonne Italiens gründlich den Kopf verdrehte.

Cézanne trennte seine Bilder vom Mt. St.Victoire deutlich von denen der Badenden. Auf diesen ist der Berg erst gar nicht zu sehen. Sogar bei den 'baigneurs' und 'baigneuses' wiederholt sich die puristische Trennung des Gegensätzlichen, in einem systematischen Auseinanderhalten der Geschlechter: entweder sind allein männliche Körper zu sehen oder nur weibliche, auf keinem Bild beide, als hätte der Maler Angst davor gehabt, daß dargestellte Zweigeschlechtlichkeit, soll sie keine Lüge sein, notwendig zu Berührung und daraus folgender Gewalttätigkeit führt, mit der sich sein Frühwerk befaßte, dessen düstere Rohheit zu überwinden er wohl als ästhetische Lebensaufgabe sah. Ohne Zweifel rufen Cézannes schattenhaft ausgestellte, eingeschlechtliche Gestalten in der sie umgebenden Vielfachheit von gemaltem Raum und Licht einen an Jugend und Unschuld rührenden Klang hervor, sicherlich auch einen von Sehnsucht nach Paradies und noch selbstverständlich vorhandener Mutter, jedenfalls insofern sich Mutter in Wasser und Vegetation offenbart - Vater hat hier nichts zu bestellen, er mußte sich in Cézannes Werk eine andere Form von Repräsentanz suchen: den Berg, davon war Philipp im Grunde nicht abzubringen.

Tatsächlich dürfte der Berg für Cézanne eine weit schlichtere, weil tiefer in seinem Wesen verankerte, Rolle gespielt haben: er war einfach vorhanden. Dessen ward Philipp erstaunlicherweise gerade in dem Moment, an dem für ihn das Väterlich-Männliche daran so klar an Konturen gewann, vor Cézannes Geburtshaus nämlich, als gleichzeitigem Unterstrom inne. Kein Grund also, begriff er irgendwann widerstrebend, dem weiter rätselnd nachzugehen: dieser Berg war dem Maler vor allem das, was der Fujijama für Japan ist: von überall zu sehen, selbst bei Nacht und an Orten, wie es sein Freund Hollis Frampton einmal paradox ausgedrückt hatte, von denen er eigentlich gar nicht sichtbar ist. Der solchem Sachverhalt zugrunde liegende Terror ist einer der Ausgangspunkte von Cézannes malerischer Anstrengung - wie ja auch der berühmten 'Hundert Ansichten' des ein paar Jahrzehnte vor ihm arbeitenden Hokusai, dessen Drucke Cézanne, Monet und van Gogh bekannt waren. Nein, dieser Berg war nicht männlich, nicht Vater, und er wurde auch nicht gefickt, wie Philipp es in archaisch-sumerischem Sinn auf abwegige Art ebenfalls gern gehabt hätte: aber seine schiere, nie übersehbare kristalline Vorhandenheit, seine "eigensinnige Vernunft", induzierte den Terror eines unbedingten Siegeswillens, dem sich das Ungestalte und Ungestaltete zu unterwerfen hatte. Insofern präsentierte er eine so abstrakte Qualität, daß man sich ihm auch auf abstrakte Weise zu nähern hatte. So gesehen ist vielleicht kein Zufall, daß Cézannes konstruktive Malweise den Kubisten zum Vorbild wurde, weit stärker als van Gogh oder Gaugin, für sie wurde er zum plötzlich weit aufgerissenen Einfallstor des Abstrakten, dem sich unser Jahrhundert dann - weitgehend auch im gefährlich Politischen - geradezu sklavisch unterwarf. War es wichtig, all dies zu wissen? Keine Ahnung, doch Philipp kam es ganz sicher so vor; er wäre verrückt geworden, wenn er es nicht wichtig genommen hätte.

Im übrigen hatte der von Thomas so schnell als langweilig abqualifizierte Demokrit bei Philipp inzwischen großen Eindruck hinterlassen. "Diejenigen Seelen aber", las er von ihm, "die sich in großräumigen Bewegungen befinden, sind weder gut ausbalanciert noch in guter Laune." Das bot ihm, dem Großräumigkeit in Bewegung und eigenem Denken nicht gerade fremd war, einen gewissen Trost, effektiver wenigstens als die mit rationalem, leicht paradoxen Ton, ein wenig gefühllos auch, vorgetragenen sonstigen Empfehlungen Demokrits zum Leben in guter Laune: daß man nämlich - auch Cézanne hätte diese Maxime im Umgang mit seinem Siegesberg nichts genützt - das eigene Leben am besten mit der Lebensweise derer vergleichen soll, denen es schlechter geht. Denn indem man beherzigt, was denen widerfährt, könne man sich glücklich preisen - ohne Frage dürfte, wer diesen Ratschlag befolgt, nicht nur in bessere Stimmung versetzt sein, vielmehr dürfte er zudem eine geringere Gefahr für seine Mitbürger darstellen. Doch derlei Kosmetik am eigenen Befinden war Philipps Sache nun einmal nicht, jedes wirklich tiefe Denken, soviel begriff er, sucht schließlich die Ferne, die der Zeit, die des Raumes. Es gab kein tiefes Denken über nur Naheliegendes. Reflektierte er später manchmal seine damalige Beschäftigung mit Schlachtfeldern, fragte er sich eher, ob unter seiner Hartnäckigkeit, die selbstverständlich mit den deutschen Verbrechen in Zusammenhang stand und die Hartnäckigkeit einer ganzen Generation war - nicht nur der Deutschen -, noch etwas anderes verborgen lag: manchmal drängte sich ihm nämlich der Eindruck auf, auch beim Betrachten seines Videos von jenem absurd aussehenden Schlachtfeld, in diesen Versuchen würde eine Art Fest gefeiert - ein geradezu flirrendes Fest von Wahrnehmung und investigativer Intelligenz, mit der immerfort neue Leichenhaufen aufgestöbert und zum Exerzierplatz moralischen Verhaltens erklärt werden. Es ist ja nie leicht, die Grenze zu bestimmen, wo die nähere persönliche Umgebung eines Menschen aufhört und sein Zeitalter schlechthin beginnt, doch Philipp hatte den Eindruck, und das war jede Feier wert, daß der Menschheit im Zusammenhang mit Hitlers Verbrechen die große Menge der anonymen Toten zum ersten Mal in der Geschichte etwas bedeuteten, selbst lange, nachdem sie gestorben sind - noch nach dem ersten Weltkrieg ging man darüber mit ebenso bedauerndem Schulterzucken hinweg, wie über die Millionen Grippetoten der Zivilbevölkerung. Insofern ging es bei seiner Beschäftigung mit dem an Teutonen angerichteten Massaker zwar auch um Entschuldung, vielmehr aber noch um - extrem gesagt - die Zelebration des genauen Gegenteils: selbst an Deutschen Angerichtetes konnte jetzt mit der moralischen und nicht mehr nur der nationalistischen Brille gesehen werden§§. Denn was bedeutete die Vergangenheit des Menschengeschlechts bisher schon den Menschen: die Pesttoten des Mittelalters - ha, ha! Mit Hitlers Wahnwitz hingegen war Konsequenz im Namen von Rasse und Nation unbezweifelbar zu einer Art Ende gekommen, niemals wieder würde in ihrem Sinne großräumig Geschichte betrieben werden können. Und das war fraglos jede Feier wert.

Bei seinem und Veras Verhalten während Dresslers Film brach die ein wenig zu fein und scharf in eine konkrete Richtung gezogene Spitze von Philipps Denken jedoch ab. Wohl schien es sich dabei nicht, wie von beiden befürchtet, um Flucht vor einer ihnen inzwischen zum Hals hinausstehenden Vergangenheit zu handeln, sondern ebenfalls um eine Art Feier - die Nacht danach fühlte sich fraglos so an - vielleicht darüber, daß sie die Kraft hatten, sich abzusondern. Daß sie aber anschließend im Bett etwas stellvertretend für die Menschheit überwunden hätten, so weit ging seine Anmaßung dann doch nicht. Im Grunde handelte es sich dabei ebenfalls um so eine Art von "Vereinigung durch den Feind hindurch", wie Philipp sie schon mit Sulla vollzogen hatte; vielleicht feierten sie auch bloß, daß man den Sieg der Moral nicht mehr allzu angestrengt feiern mußte, weil die Welt tatsächlich ein bisserl besser geworden war - die Veranstaltung, worin sie saßen, ja, schon die Existenz von Dresslers Film, war schließlich Beweis genug.

***

Am Morgen danach befuhr er das Terrain einer zweiten Katastrophe, der deutscher Boden Grund gegeben hatte, aufgedreht und hormondurchspült von der vergangenen Nacht: Ost-Berlin! Ort ebenfalls seltsamerweise von Cornelias Vorstellung, wie sich in ein paar Wochen herausstellen sollte, von romantisch aufregender Liebe - vor allem jedoch Denkmal einer weiteren Falle der Geschichte, der des platonischen Idealismus, wie immer mehr sagen; vielleicht stand ja auch dies Vera und Philipp, schon der anlaufenden Wiedervereinigung wegen, deutlich vor Augen. In diesem Sinne feierten sie in dieser Nacht ein doppeltes Fest, eins, worin nur das Individuum in seinen Erfahrungen zählte: nie wieder würde man sich hinter Nation oder dem Gutgemeinten einer Abstraktion verstecken dürfen. - "Kann sein, daß ich mich heute nachmittag gegen drei davonschleichen kann", hatte Vera gesagt, bevor sie frühmorgens ging. Ihn beruhigte, wie wenig sie ihn dabei mit jenem hoffnungsvollen Blick verabschiedete, der als Signal erwachender großer Liebe zu gelten hätte - nein, das konnte richtiges Lebewohl bereits gewesen sein. Wollte er sie wiedersehen? Oder war es endlich an der Zeit, sich von seinem vergangenen Leben zu verabschieden - gestern im Tiergarten, wo er sich an diesem Teich schon als gestorben wähnte, hielt er den Punkt für endlich gekommen. Hatte er Angst vor einer ihr Erleben verobjektivierenden Wiederholung? Nein, er wäre verrückt, wenn er Vera, wenn er ihre Unverstelltheit nicht noch einmal besuchte und in der Vielzahl der da zum Vorschein gekommenen Gefühle nur das schützende Zelt einer ansonsten bloß wirren Nacht sah - oder sollte er nun besser wie Monet eine Witwe mit Kindern heiraten? Ach, ist sie tatsächlich eine beachtliche Schauspielerin, können wir ja mal versuchen, eine interessante Erfahrungsallianz zu bilden, sagte er sich schließlich schlicht, als er in Ost-Berlin den Weg nach Frankfurt zu finden versuchte. Vor allem wollte er nun nämlich die Oder sehen - er kannte sie aus den Gesprächen seines Großvaters, dessen Leben von der Binnenschifferei bestimmt worden war. Schon zu dessen Zeiten befand sich dieser Fluß nur am Rand der Welt, ein paarmal hatte er mit seinem Schiff die Oder trotzdem befahren. Es war schön, nun weiter nach Osten vordringen zu können, hinter den Rand der ihm, Philipp, bislang bekannten, der wirklichen Welt.

Vorher freilich erst einmal dieses gräßliche, nun offene Berlin: zwar gab es keine Grenzkontrollen mehr, dafür aber zähe Staus, die einen den östlichen Autobahnring bloß auf Umwegen erreichen ließen. Immer wieder standen ihm dabei Bilder vor Augen, die Vera - nein, eine vergrößerte Version Veras, welche nicht nur das schützende Zelt einer Nacht sondern nun den gesamten Himmel ausfüllte und über seinem Wagen gleich einer antiken griechischen Göttin schwebte - ihm vergangene Nacht bot; beängstigender Gedanke, dieses herrliche, unmädchenhafte Geschöpf mit anderen teilen zu müssen, oder auch nur die Bilder, die von ihr ausgingen, als er über ihrem Gesicht kniete: wie sie ihm sich wichsend die Fotze entgegen schob und an diesem Fettpolster rüttelte - ja da hatten die Augen zugegriffen. Auch als dieses halb nachdenklich ungläubige 'Ich kann meine Fotze sehen ...' aus ihr hervordrang - "Ach! Brenne nur Lampe der Schande!" murmelte er und schnüffelte an den deutlichen Resten Veras an seinen Fingern: heute Nacht hatte er nicht durch jene Lampe gesehen, das war kein Kino, es war Wirklichkeit, er hatte sie sich mit eigenen Augen gegriffen, höchstens durch die dünnen Häutchen Lukrezens vermittelt. Das war nicht, wie dessen englische Übersetzer es in Anbiederung an den Zeitgeschmack übertrugen: 'Film!' Und auch nicht Schande - die Schande lag um ihn herum: in diesen Straßen Ost-Berlins, die er jetzt auf immer akrobatischeren Umleitungen durchfuhr; wodurch er, bevor er sichs versah, zu weit nach Süden in ein Industriegebiet abgedrängt wurde, wo ausgedehnte Eisenbahnanlagen die eigentliche Richtung versperrten, so daß er - er hatte versäumt, sich einen brauchbaren Stadtplan zu besorgen - wieder umkehren mußte, um irgendwo eine Brücke oder Unterführung zu finden.

Oder in dem Mann gestern im Kino, der, drei Plätze neben ihnen, so furzfreundlich tat, von dem ihm jedoch aus flüchtig gemeinsamen Zeiten an der Filmakademie bekannt war, daß er als ähnlicher Heimlichtuer wie Rousseau durchs Leben glitt, welcher, wie Philipp kürzlich las - war es nicht sogar bei diesem Benn, der Cornelias Mutter Liebesbriefe geschrieben hatte? - die Brüderlichkeit aller Menschen predigte, aber die Kinder, die er mit seiner Haushälterin hatte, ins Waisenhaus sperren ließ. Selbstverständlich lief nicht jeder als so ein Heuchler herum, und unbestreitbar gab es philosophische Leistungen - wie die des von Philipp mittlerweile bewunderten Kant -, die nur mit einer gewissen Distanz zum Geschlecht zu bewerkstelligen sind; das bedeutete allerdings nicht, daß man sie ohne Hinterfragen zu akzeptieren hatte*. Gerade Kants Biographie fehlt ja (wie leichthin gesagt wird) das Abenteuer, in einem Ausmaß, das in der Geistesgeschichte ohne Vergleich blieb - sowohl das des Geschlechts wie das der Reisen - und enthält schon wegen dieses Mangels die Aufforderung, die entstandene Leistung an der Wirklichkeit geschlechtlicher Existenz zu überprüfen. Jemand der sogar zarte Mädchenschönheit für eine Kategorie des Nützlichen hielt, muß sich das wohl gefallen lassen. Und reisen, das wollte auch er, Philipp, war es nicht angemessen nach den Abenteuern des vergangenen Tages? Gestern Nacht hatte er nämlich den Berg gefickt! Ganz wie es jenes seltsame sumerische Gedicht von Einem verlangte. War die Vielfalt so eines Erlebens denn nicht bedeutungsvoller als zum Beispiel die Beobachtung, daß er seit seiner Marokkofahrt gern aus Safi, der Stadt der Begegnung mit dem schmierigen Bordellbesitzer, exportierte Ölsardinen aß, obwohl ihn der alles durchdringende Gestank der dortigen Ölsardinenfabriken unvermindert entsetzte - komisch, wie er jetzt darauf kam, offenbar enthält der Kosmos die erstaunlichsten Blüten. Ja, er wollte endlich die Oder sehen - Brenne nur, du Lampe der Schande!

***

Stacheldrahtbekrönt streckten sich Umfassungsmauern von Fabriken und Fertigungshallen parallel zu den Straßen, hinter ihnen ragten, ein wenig finster, ist man in sich gekehrt mitunter aber auch sehr schön - nicht zuletzt, weil sie schon in Kürze aberwitzig anmuten würden -, neben den zahlreichen, hier ungewöhnlich gedrungen aussehenden Strommasten umständliche Konstruktionen empor, Wasser- und Gasreservoire, Krane, eine die Eisenbahnschienen mit nunmehr unbegreifbarem Zweck überquerende Laufbrücke. Wieder blieb er im Stau stecken, dann, allmählich verärgert, noch ein weiteres Mal - "Tyger! Tyger! - Fick den Berg!" sang er dabei: "Ach, dreimal ließ ich sie liegen!" Er überlegte, ob er, wo er bereits halb umgekehrt war, ganz in den Westen zurückkehren sollte, dieses Herumgeirre hatte er doch nicht nötig, um dort bis in den Nachmittag zu schlafen und dann Vera anzurufen - "Ich würde noch ganz gern einen Tag anhängen ..." Ja, so ließ es sich sagen, sie würde ihn kaum abweisen: Ja, "und zehn Mal lasse ich laufen!" - so hieß es doch in diesem verrückten Gedicht, oder war es nur sieben Mal? Nein, er hatte keine Angst vor einer Wiederholung, gewiß nicht, in der sich das von ihnen Erlebte auf eventuell peinliche Art objektivieren könnte. Endlich fand er, düster und auf beklemmende Weise eng, die gesuchte Unterführung, hinter der freilich weitere unübersichtlich mit Industrie verbundene Anlagen weniger auf seinen Blick als auf ihre Durchquerung warteten.

Ein paar Tage zuvor hatte er schon einmal versucht, Frankfurt zu erreichen, ganz impulsiv und, nach einer nachmittäglichen Veranstaltung an der Akademie der Künste mit den Straubs, erst gegen Abend; wie er, er hatte es in Berlin versäumt, unterwegs tanken wollte, fand er an der einzigen Tankstelle auf seiner Strecke eine Schlange von an die hundert Autos, in die er sich hätte einreihen müssen. Protagoras, demzufolge, inzwischen weiß es jedes Kind, der Mensch das Maß der Dinge ist (und nicht die Schlange, wie man in diesem Land ebenfalls denken könnte), hätte kaum Freude an ihr gehabt. Solch ausgestellter Geduld mochte Philipp sich nicht anschließen und so kehrte er um - auf der, bei nunmehr fast leerem Tank, ein wenig bangen Heimfahrt rührte eine Schleuse etwas in ihm an, in Fürstenwalde, um die herum das Terrain leider abgesperrt war; wegen der einbrechenden Dunkelheit verzichtete er darauf, die Absperrung machte es auch kompliziert, sie näher zu erkunden. An dieser Stelle mochte sich jedoch etwas von den Riffen seiner Erinnerung abgelöst haben, später erst ward es ihm bewußt, nein, nicht gleich ein Boot, aber doch mehr als eine bloß herumwirbelnde Nußschale, auf ihm entglitt er für Sekunden - bevor aber seine Erinnerung Raum und Tiefe gewann, in dieser düster und heiter sich anfühlenden Auflösung einer sonderbaren Verkrustung, war er schon wieder auf dem Weg nach Berlin, mit seinem Benzinrest in einem sich immer weiter öffnenden Meer von dunkler Weiträumigkeit, mit selten werdenden Lichtern, worin sich dieses in wirkliche Tiefe führende Gefühl - endgültig nach einer dann doch gefundenen Tankgelegenheit, die ihn heftig aufatmen ließ - schließlich verlor. Ja, Schleusen und die DDR, sie bildeten, mit irgendwas geheimnisvoll Anderem, das er jetzt nicht zu greifen wußte, ein abstrus verkrustetes Dreieck, irgendwo in ihm - eine Art Schamdreieck? Ja, es hatte mit Scham zu tun. Und die Oder, sie bildete eine Form von Grenze in dieser Empfindlichkeit. Ja, er mußte die Oder sehen . . .

Auf dem Weg dahin streckten sich die Berliner Außenbezirke, die er nach dem Durchqueren der auf östlicher Seite dieser Gleisanlagen gelegenen Industriebereiche endlich erreicht hatte. Aus dem Auto sah er in eine sich weit streckende Stadtlandschaft, die doch eigentlich keine war, es war schlimmer als ewige Vorstadt, an die hatte er sich in Hamburg gewöhnt. Hier gab es nichts, was im beruhigterem Blick in Einem zu verhallen wußte. Auch der Ausdruck 'Arbeiterbezirk' griff nicht recht, wenngleich diese Bauten fraglos für die arbeitende Bevölkerung errichtet wurden, und, wie oft in solchen, alles hier in vorläufiger Art schäbig war, in seiner Größe auf trotzige Art das Nackte der Wahrheit verkörpernd. Die Straßen fielen gerade und weit aus, wie, so direkt wollte man das hier offenkundig ausdrücken, in eine noch leere Zukunft hinein, worin sich alles zum Besten wenden würde, durch (wie er in zunehmender Verärgerung darüber, daß sich hier selbst ein simpler Ausflug zur Oder in eine widerliche Odyssee verwandelte, empfand) auf brutale Weise einerseits einfältig regelmäßige, von jeglichem künstlerischen Ausdruck (besonders dem der Eleganz) verlassene, dann aber wieder ganz unregelmäßig durcheinander gestellte, hell wirken sollende Blocks aus kaum gebaut, gleich wieder verfallenden Behausungen. Von diversen Gleisanlagen - 'Friedrichsfelde-Ost' hieß die verloren wirkende S-Bahn-Station, die er jetzt passierte, ein Schiff in einem Meer der Unglaubwürdigkeit - und (schon wieder eine Umleitung!) Straßenachsen konfus durchschnitten, die von umständlichen Fernwärmeleitungen überquert werden mußten, die dazugehörigen Kraftwerke gleich neben den Wohnblöcken - alles lieblos hingesetzt, irgendeine Funktion halbwegs erfüllend, nirgends richtig nah. Und auch diese Zukunft würde es nie geben, ihre Existenz beruhte allein auf allzu leicht geglaubten Versprechen. Hier - die Straße, auf der er jetzt eine Rampe emporfuhr, als ginge es dem Himmel entgegen, nannte sich wahrhaftig 'Allee der Kosmonauten' - lag die Notwendigkeit auf der flachen Hand, man spürte sie, auf brutalere und nacktere Art noch als bei den vorhin durchfahrenen zerfallenden Industrieanlagen, freudlos bei allem. Dies würde nie lieblich altmodisch werden. Wie bei der Landung an einem fremden Kontinent fühlte er sich hier, wo Einem alle Erscheinungen als etwas Besonderes ins Auge fielen, aber das ihm begegnende Terrain war in seiner barrierebildenden Negativität so ohne jedes Geheimnis, daß ihm schlecht wurde.

Als habe man den hier herrschenden Philosophemen unbewußt Ausdruck verleihen wollen, steuerte die 'Allee der Kosmonauten' nach dem erregenden Anstieg (wieder galt es natürlich nur, eine schmale Gleisanlage zu überqueren) direkt auf eine ausgedehnte Schreberanlage zu, als solle man als Benutzer dieser Allee auf radikale Weise begreifen, daß das Glücksversprechen des hiesigen Sozialismus aus dem Horizont des Schrebergärtners gewachsen war und dort gefälligst auch wieder hinzuführen hatte. Bevor sich Einem solch radikale Erkenntnis endlich unmißverständlich um die Ohren schmierte, hatten die Planer dieses Wohnparadieses aber doch innegehalten, um im erst nach links, dann gleich wieder nach rechts - in der hier ausgestellten gradlinigen Großspurigkeit ein bemerkenswerter Schlenker - zurückbiegenden Straßenverlauf dieser sogenannten, von keinem Baum bestandenen "Allee" eine weitere Serie monochrom hingeworfener Wohnanlagen zu offenbaren. Selbstverständlich bot auch solche Ödnis den Menschen Orientierung, unauffällig (abgesehen von den sparsamen Geschäften) irgendwelche die Gegend gliedernde Details, Vertikalen beispielsweise: die Ecke eines Hauses, hinter dem einmal die Sonne besonders schön unterging, ein alleinstehender Turm, der alle möglichen Funktionen haben mochte, Taschenausgaben der Siegessäule gewissermaßen, die man irgendwann, und sei es nur weil man darunter als Kind mal gespielt oder in einen Busch gepinkelt hatte, als vertraut im Gedächtnis sich zu bewahren wußte, Einem trotz unverbergbarer Häßlichkeit sogar lieb** - aber das war nicht der Punkt. "Ficke den Berg!" - darum ging es hier, darum war es hier gegangen: Ja, dieses Land war gefickt worden. Als Rache des nicht mehr vorhandenen Geistes am Proletariat, dessen selbsternannte, zum Teil aber auch aus raffinierten Wahlen hervorgegangene Vertreter ersteren - (den kaum noch vorhandenen Geist also) - systematisch eingeschüchtert, verjagt und in ihrer schicken Diktatur dann sogar ganz ausgerottet hatten, ja, so ließe sich das hier Geschehene mit einigem Recht beschreiben. Nur noch ästhetische Stupidität hatte sich hier erhalten. Während das Terrain allmählich offener wurde und die Vegetation und was man damit an Nützlichem anstellte, dominanter, begann Philipp einen anderen Satz des Protagoras zu bebrüten: "Sein ist gleich Jemandem Erscheinen" - dessen Prägnanz ihm bei der kürzlich endlich systematisch nachgeholten Lektüre der Vorsokratiker aufgefallen war. Wieder roch Philipp an seinen Fingern, unter deren Nägeln der Geruch Veras zweifelsohne am stärksten war - ach der Mensch ist zum Riechen da, dachte er belustigt, als er diesen Rest von ihr, in beinahe existentieller Gier, im Kopf zu verstärken suchte.

Ja: Gesehen warden die fürs Aussehen nicht nur dieser Stadt sondern eines ganzen Staates Verantwortlichen gewiß genug, dafür hatten sie Sorge getragen, in Zeitungen, die primitiv inflationär ihre Porträts druckten, und vor allem im kontrollierten Fernsehen. Selbstredend war da kein Platz mehr für Existenzen wie Philipp - am liebsten würden Staatsträger dieser Art , sogar den Geruch jetzt an seinen Fingern verbieten; und selbstverständlich jede Form von Pornographie - praktisch gesehen: etwas Künstliches, was einem Mann eine Erektion verschafft. Vielleicht war Thomas Abkanzelung der Vorsokratiker als Vorläufer eines gespenstisch naiven Marxismus ja als verdeckte Abrechnung mit dem Gespensterhaften des tatsächlichen Marxismus gemeint. Sehen und Gesehen werden, darum ging es fast immer, und beileibe nicht nur im Kleingarten. Ja, auch er war bei seinem Vortrag gesehen worden, hatte sogar gesehen, wie er Vera erschien - besonders während er sich vor ihren Augen den Schwanz wichste und den wahnsinnig flatternden Blick wahrnahm, mit dem sie die rohe Oberfläche seines Schwanzkopfes in genau dem Moment musterte, als die seltsamen Tropfen von vor-spermatischer Flüssigkeit herausleckten. Er öffnete das Fenster und hielt den Kopf in den Fahrtwind. Ha - Mann! Er war ein Mann! So war er ihr wenigstens erschienen. War doch was - Sieg, Sieg! machte es ein paarmal in ihm, sobald er, nicht die Spur ein Kosmonaut, das nächste Ziel dieser perversen Odyssee, die Autobahn, endlich erreichte. Selbst viele Liberale würden das Sexuelle am liebsten ganz aus der Öffentlichkeit verbannen und ginge es, sogar aus der Wirklichkeit, auch diesen wunderbaren Geruch nach Frau, der jetzt, bis auf winzige Reste unter den Fingernägeln, aus seinem Wagen verschwunden war: weil man nun einmal - das ist Teil ihres Wesens - jederzeit durch die Sexualität eines anderen belästigt werden kann.

Autobahn, Autobahn; an den schmalen Seitenstreifen auffällig häufig liegengebliebene Wartburgs und Trabants, die jemand zu reparieren sich bemühte. Philipp war äußerst unwohl beim Gedanken, das Grundrecht erstreben zu sollen, nirgends und von niemandem belästigt zu werden. Ein das verwirklichender Staat wird zu einer ziemlich platonischen Angelegenheit; die, um sich aufrecht zu erhalten, nach Terror und Denunziation förmlich schreit, sowie nach einem all diese Lieblichkeit gewissenhaft kontrollierenden Staatssicherheitsminister (samt aus bloßem Übermut protegierten Schwiegersohn), weil einfach zu viel unter den Tisch gekehrt werden muß. Das endete dann notwendig wie hier, in einer traurigen Verkümmerung der Oberfläche. Soll man etwa noch das Grundrecht erkämpfen, auf Straßen nicht angebettelt, in Kneipen nicht beschimpft, von Handlungsreisenden nicht behelligt zu werden? Er fühlte sich ja sogar von dieser Ost-Berliner Architektur aufs Äußerste belästigt, deshalb mußte man es ja nicht gleich abreißen. Aber er wollte herausrufen dürfen, daß Architekten, die sowas von jedweder Eleganz Verlassenes verzapft hatten (von künstlerischem Ausdruck ganz zu schweigen), Stümper waren; und obendrein dumme Säue, weil sie sich für sowas hergaben, auch wenn das ihre ausdruckslos feinen Seelen belästigte. Gerade weil er nicht die Absicht hatte, sie zu bekehren - das gehörte nämlich gleichfalls zur Freiheit! Sonst endete der nun fällige Neubeginn wie in diesem Un-Land, endete er nicht anders als in diesem Anti-Terrain.

Der Sieg darüber hatte gleichwohl gewisse Tücken: gleich zweimal verfuhr Philipp sich auf dem Autobahnring, sowas war ihm noch nie widerfahren Das Problem bildeten die Hinweisschilder, denn mehr noch als vom Geist des Hasses auf autonom schöpferische Künstlerschaft war dieser in Auflösung befindliche Staat von der Idee der Verknappung besessen, bei allem und jedem: als Hinweis sollte stets ein einziges Schild genügen. Wenn man es verpaßt, verfährt man sich eben - selber Schuld - und landet unweigerlich auf dem Abfallhaufen der Geschichte. Da Unterlegene indes naturgemäß kaum Interesse zeigen, den Siegern die Orientierung zu erleichtern, war es hier jetzt ein bißchen wie kurz nach einem wirklichen Krieg: nur Einheimisches verlor da nicht leicht die Orientierung, dahinter steckte System. Die Abfahrt, auf der er die Autobahn verlassen wollte, um sein Ziel lieber auf Landstraßen zu erreichen, war so knapp ausgeschildert, daß er sie für einen Feldweg hielt und an ihr vorbei fuhr, bevor er überhaupt in Erwägung zog, sie zu benutzen. Er wendete an der nächsten und näherte sich Frankfurt in dieser Art auf idiotischen Umwegen. Vermutlich hatte auch Benommenheit mit seiner Hilflosigkeit zu tun, ja, er war benommen, eigentlich müßte er schlafen, dürfte er gar nicht fahren. Sobald er begriff, einen wie hohen Grad Aufmerksamkeit die Richtungsschilder erforderten, ging es nur noch geradeaus, so daß er seine Erkenntnis nicht mehr benötigte. Nein, Philipp glaubte eher nicht, daß ihm ein Staat gefallen könnte, der das Recht auf Nichtbelästigung sorgfältig garantiert. Das Grelle und die Belästigung, sie bilden schließlich auch Herausforderungen, denen man sich stellen darf - und weil so etwas mitunter hilft, den eigenen Lebensweg zu konstruieren, stellen sie sogar Bereicherungen dar in einer Welt, die Verwaltungsmenschen allzu leicht etwas fad anlegen. Dem wirklich Lästigen ließ sich ja meistens ausweichen. Zum Beispiel den Photos von dem schwarzhaarigen Amerikaner, mit dem Vera drei Wochen verbracht hatte, er hatte sie neben dem Bett gesehen: Ganz schön entschlossen von ihr, diese Wichsvorlagen so rasch durch neues Erleben zu ersetzen. Philipp war nicht unzufrieden mit diesem Amerikaner, ihm gefiel, in einer Reihe mit ihm zu stehen, sah nett aus, nicht im Entferntesten fies - sucht sich nette Männer aus, billigte er ihre Wahl, eine souveräne Person diese Vera.

Ja, er wollte sie wiedersehen, wollte sich mit ihr wiedervereinigen, ihre großen Gefühle waren gewiß mehr als bloß Zelt für eine einzige Nacht - das Motto Ibn Battutas, der auf seiner in Tanger begonnenen Welterkundung eine Straße nie ein zweites Mal zu fahren gedachte, sprach ihn nicht an - manchmal zählte doch erst der zweite Blick. Ach, es war herrlich, jetzt diese Noch-DDR durchfahren zu können, als Herr eigener Wege. Es gab ihn nämlich doch noch, den Weg, so massiv er es gestern bezweifelt hatte: "Frankfurt" - wie langweilig das stets klang, selbst für das im Westen gelegene galt das, wo Cornelia einer Rolle wegen, die sie nicht einmal bekam, mit dem Liebhaber ihrer Mutter schlief; diese Stadt interessierte niemanden, eigentlich absurd, daß er jetzt auf dem Weg dorthin war. Doch auch an der Oder wohnten wohl welche, denen, was ihm selber häßlich oder gar als Belästigung erschien, wohl paradoxerweise zum Glück verhalf. Wer wollte es ihnen verbieten? Als Maß einer ordnenden Legislative kam Philipp sich lächerlich vor - schon weil er viel zu absorbiert davon war, daß die Welt seine eigene Grellheit als Bereicherung empfinden sollte.

***

Auf den Richtungsschildern waren jetzt - aus Sparsamkeit? - stets zwei Städtenamen angegeben, übereinander, und da der obere stets "Frankfurt (Oder)" lautete, schien selbst dieser Staat zur Abwechslung einmal Alternativen zu bieten: "Frankfurt oder Fürstenwalde" las man zum Beispiel, als gäbe es da was zu entscheiden. Fürstenwalde mit seiner sonderbaren Schleuse, wo neulich ein Brocken Erinnerung ihm an die Oberfläche kommen wollte, ließ er links liegen - dieses Frankfurt zog jetzt deutlicher an. Irgendwo in dieser Gegend hatten sich seine Eltern kennengelernt. Zweiundzwanzigjährig, beide, am Ende, ganz am Ende des Krieges, der Name des Ortes war ihm momentan entfallen - mit Pech hätte er gleich Vera zum Kriegsende in Berlin landen können. Stattdessen entkam seine Mutter ins Magdeburgische, in die Nähe Tangermündes, von wo es, als infolge der Potsdamer Vereinbarungen die Russen auch diesen Teil Deutschlands besetzten, in den Harz ging. Wegen der Staus in Berlin und mehr noch dieser dummen Umwege käme er erst lange nach vier zurück, es könnte sogar Abend werden, bevor er und Vera einander wieder begegneten, zwei vertriebene Engel die versuchten, sich selbst zu finden, die eigene in der anderen Person - wie würden sie sich gegenüberstehen? Bereit zu einer weltbewegenden Künstlerallianz? In der Art D'Annunzios und der Duse? Auch nicht ganz ungruselig. Sein Affekt in Richtung Cornelias schien ihm jetzt jedenfalls eine Lächerlichkeit gewesen zu sein, seine Anstrengung, diesem 'Sulla' zu literarischer Präsenz zu verhelfen, ein Alptraum. Danke, Vera! Er mußte das alles schnellstens vergessen. Was er da erfahren und, nicht nur vor sich, erlitten hatte, war zu demütigend. Weil, was er schrieb, nicht nur verquast, sondern dazu auch noch - schlecht! war. "Vergessen!" schrie es in Philipp.

Kurz vor Frankfurt ging es nochmals per Autobahn. - "Alles auf Sicht fahren!" - dieser ihm ganz fern liegende Ausdruck gefiel ihm. Zum ersten Mal vernahm er ihn von einem Politiker, der sich weigerte, einen gut durchdachten Plan zur Wiedervereinigung vorzustellen: wirklich gute Pläne könne es da gar nicht geben, man müsse das 'auf Sicht fahren'. Gar nicht dumm. Frankfurt war zur Abwechslung präzise ausgeschildert, vielleicht weil es in der DDR kein Weiter gab: "Letzte Ausfahrt in der DDR!" tönte es - danach kam polnische Grenze, in Richtung Oderbrücke kaum Verkehr. Von der Autobahn langsam in sie hineinfahrend schien Philipp die Stadt weniger verkommen als das meiste, was er sonst in diesem Un-Land gesehen hatte, er mußte sich sogar Mühe geben, wollte er hier das Gespenstische an moderner Urbanität erkennen, das ihn in den nach Osten gezogenen Vorstädten Berlins, in Friedrichsfelde und Marzahn so überdeutlich begleitete. So groß, streng und vorläufig nüchtern auch hier manches wirkte, mit Straßen, die nicht weniger gerade und weit, dabei trotzig die nackte Wahrheit verkörpernd, in eine, jawohl: noch leere Zukunft hinein zu führen versuchten, endete es doch schon nach wenigem fünfhundert Metern stets in ganz flachem Land, um dort mißmutig zu versacken. Bereits der kleinere Maßstab sorgte dafür, vielleicht hatte sich sein Ärger in seiner Verbohrtheit auch nur erschöpft und ließ ihn nun mit gesünderem Gleichmut empfinden, daß ihm in diesem Frankfurt im Grunde bloß noch eine Art Normalität empfing: in Form einer normalen, einer uninspirierten Stadt, die gar nicht mal häßlich war; in ihrem Zentrum spürte er angenehm sogar eine ihn unversehens rührende Gepflegtheit. Trotzdem verfiel Philipp, wie oft in letzter Zeit, seiner Neigung, das unmittelbar Gegenwärtige, das ihn in so einer Fremdheit Anspringende und allein wegen seiner schieren Menge halb Überwältigende, sogleich gültig interpretieren zu wollen; es mißlang vielleicht nicht jedesmal, aber . . . auch diesmal mißlang es: beim Aussteigen fühlte er sich nämlich in die Einkaufszonen mancher Ruhrgebietsstädte versetzt - 'Herne!' dachte er plötzlich; ja, da, in Herne, hatte er einmal einen ganzen Nachmittag in der Fußgängerzone verbracht, mehr als zehn Jahre her, bei Dreharbeiten zu seinem Ruhrgebietsfilm, eigentlich bloß einer Drehpause: ebenfalls ein fremder Erdteil, der ihm überraschend erschien und an dem, wie bei allem gründlich Fremden, grade ganz Unwesentliches ins Gesicht fiel, das die Eingeborenen kaum beachten. Trotz des unverkennbar vorhandenen guten Willens schien das in jener Fußgängerzone für ihn zu Tage Getretene grauenhafter als die Häßlichkeit der Friedrichsfelder und Marzahner Plattenbauten, schon weil diese ja als Ausgeburt des letztendlich bloß Bösen zu überwinden waren. Die gewissermaßen aber schon angeborene Häßlichkeit des guten Willens ist dagegen unbesiegbar - dachte er damals. Irgendwann sollte sich sein Verhältnis zum 'Guten Willen' noch einmal erheblich ändern, deo gratias, Gott sei Dank, könnte man sagen, auch dafür, daß es Philipp wenigstens hier gelang, sich zu normalisieren. Ja, dieses Herne war interessant gewesen, grübelte er vor sich hin, es sieht diesem Frankfurt sehr ähnlich - doch wo war die Oder?

Sollte er vielleicht gar kein Buch über Sulla schreiben, sondern es, wie von Cornelia bereits taktvoll empfohlen, einfach liegenlassen und stattdessen einen locker mit dem gleichen Thema sich befassenden Film machen? Darüber zum Beispiel, wie sich architektonische Häßlichkeit aus Herrscherpersönlichkeiten ergießt? - Sulla, Hitler, Stalin, Honecker: immer die gleiche, triste, größenwahnsinnige Häßlichkeit. Wie seine Erzählung könnte der Film mit einem Mann auf einer Liege beginnen, der sich mit seinem 'Fotzenheiligtum' ein Phantasiegebilde vorfaselt, das er für die Erfüllung der Welt hält - später müßte man dann in die Wirklichkeit springen, die logisch daraus hervorgeht, in die öden, die zubetonierten Vorstädte - ein solcher Film wär mal was Neues. Plötzlich könnte sogar sogar ein ganzer Bildkomplex mit Beispielen moderner Architektur aus dem antiken Zusammenhang ragen. Ja, warum sollte sich sullanische Architektur denn nicht in Industrieanlagen und Wohnblocks verwandeln dürfen? Unlogisch war der Zusammenhang schließlich nicht. Vor kurzem las er, daß Italien noch immer die Rangliste der betonierfreudigen Länder anführte, mit, war es nicht so: achthundert Kilo Zement pro Einwohner? Vielleicht gab es ja doch Nationalcharakter. Und die Betonquerschnitte aus Lamprechts Buch über die Benutzung des Betons in der Antike, über das er neulich in Köln (dem Geburtsort der Vera so faszinierenden Agrippina, Neros verrückter Mutter) gestolpert war, warum sollten nicht auch die auftauchen dürfen? Der Verlag, in dem es erschien, hieß Beton-Verlag! - sehr sinnig. Und dabei wahr. Dazu eine Einführung in die Betonbauweise, zugleich seriös und Karikatur, warum denn nicht - dann könnte man tatsächlich einmal von Fortschritt im Film reden: Homer, Dante, Joseph Conrad und dann dies, ha: diese kakophone Symphonie in Beton - auf solcher Linie macht Fortschritt Sinn! Die einzige Beschränkung, der man beim Film (außer der von Logik, drängendem Fluß und fühlbarer Kontinuität) unterlag, bestand doch in der für wirklich Komplexes stets zu kurzen Vorführdauer.

Und selbst wenn er in seiner offensichtlichen Wirrheit nicht die Kraft hätte, solches Versprechen wirklich zu füllen: immerhin würde er versuchen, in etwas Neues zu springen (mehr jedenfalls als in so einem Buch, das am Ende doch kaum mehr als nur ein weiterer Historienschinken sein konnte); und das war mehr als was man über die meisten sagen wollte. Was er seinen Zeitgenossen in der Kultur übelnahm, denen, die es darin zu etwas gebracht hatten, war dies: daß sie sich nicht genug herausforderten, daß sie sich gar nicht erst bemühten, zu springen, daß sie gar nicht um wirklichen ästhetischen Fortschritt kämpften und doch zu Ruhm kommen konnten - er haßte diese sich momentan 'postmodern' nennende, sich durchwurstelnde Selbstgefälligkeit, die morgen, das Feuilleton füllend, schon wieder anders hieße und für die Fortschritt nicht mehr existierte. Nein, er wollte jetzt zur Oder gelangen, diese Stadt interessierte nicht.

***

Auf dem Weg dahin geriet er ein paarmal in Fabrikgelände, durch die man nicht hindurchkam, bis er schließlich ein Gebäude erreichte, das, einem Verbotsschild zufolge, mit Chemie und großtechnisch organisierter chemischer Reinigung verbunden war - daneben eine Lücke in der Verbauung des Ufergeländes, eine, von ein paar Pfaden durchkreuzt, sich selbst überlassene, nunmehr verunkrautete Grünfläche. Er stand vor einer Art Nebenarm, von hier aus ließ sich nur zu Fuß weiterkommen. Er parkte, wobei er sowohl ein zweites Verbotsschild ignorierte, das ein Weitergehen untersagen wollte, als auch ein mit zwei Volkspolizisten ihm entgegen hoppelndes Geländefahrzeug, und ging zielstrebig in Richtung des eigentlichen Flusses. Mehr als eigenartig, daß man diese Volkspolizisten, vor denen man sich vor einem halben Jahr noch so fürchtete, auf einmal so lässig übersah - zwar bewegte man sich noch immer in einem selbständigen, einem eigenen Staat, im Grunde war es aber schon Niemandsland, ganz wie die verkrautete Fläche, über die er jetzt schritt. Und da war sie dann: die Oder.

Netter Fluß, dachte er: ja, nett - nicht aufdringlich. Es war sogar möglich, ganz heranzutreten, eine schmale, unten bespülte Steintreppe führte zum Wasser. Grüne Ufer, dunkles Wasser - es floß. Auf der anderen Seite ein wenig zusammengedrückt, doch nicht bloß grüner Strich wie bei wirklich breiten Flüssen, das spätnachmittag-besonnte Polen. Ein paar zufrieden aussehende Angler. Einmal hustete jemand, es drang von ganz weit zu ihm herüber, der Hustenanfall eines Polen vom anderen Ufer - da begann der ebene Osten. 'Ach,' seufzte er, 'die Polen; die sind doch glücklicher als die Deutschen.' Deutscherseits angelte niemand. Was aber auch kein Wunder war - die Uferfront hier bestand rechts, bis hin zur Brücke, aus Kaianlagen, die, wenn sie nicht sogar abgesperrt waren, deutlich weniger zum Angeln einluden als die Buhnen und Wiesen vor dem flachen Deich drüben. Dort weideten sogar Kühe; die Häuser dahinter mochte er lieber nicht allzu sorgfältig betrachteten - sonst hätte er seine Vorstellung vom glücklichen Polen wohl gleich zu beerdigen. Obwohl er nicht genau hinguckte, machten die Angler auf ihn schon einen weniger glücklichen Eindruck - glücklich war vor allem wohl er, Philipp, den es nun bis zur Oder gebracht hatte. Neben der Treppe schritt er die Böschung hinab zu den granitenen Ufersteinen, und roch dort am Wasser: ja das war Fluß, dreckiger Fluß. Es roch. Natürlich war das Wasser, wie bei allen großen Flüssen, nicht sauber, sondern deutlich verunreinigt. Aber nicht dies war es, was er roch, nicht die Chemie oder die Chemische Reinigung gleich hinter ihm, die spielten gar keine Rolle, es war der Fluß selbst. Ja, es war der Geruch, den er seinem amerikanischen Freund gegenüber einmal 'metallisch' genannt hatte. Die Flüsse seiner Erinnerung, sie waren dreckig; und das braune schwarze Wasser - floß.

Eine Weile ließ er die Hände darüber schweben, dann tauchte er sie langsam ins Wasser: 'Die Oder', dachte er: 'Ja, das Wasser!' Mit beiden Händen strich er sacht über die Oberfläche, mit sich spreizenden Fingern, auch das war schön, dann dachte er: "Nein: ich muß, während ich über das Wasser streiche, das andere Ufer betrachten." Und das tat er dann. Im Aufstehen fragte er sich, warum er das grade getan hatte: Warum muß ich das andere Ufer betrachten, wenn ich über das Wasser streiche? Seltsam - wollte er den Osten erobern? Oder nur feststellen, wo sich dessen Grenze befand? Auf einmal wußte er, daß sein Blick falsch gewesen war: er hätte nur die Oberfläche des Wassers betrachten sollen, in diesem - heiligen Moment. Nur für Geographen, Ethnologen oder, nun gut, Politiker! existierte das andere Ufer: für ihn gab es keinen Grund, es zu betrachten. Na jetzt sind meine Hände dreckig von dieser Brühe, muß aufpassen, wenn ich nachher was esse.

Aber er wollte noch nicht gehen, stattdessen setzte er sich auf die Treppenstufen. Direkt vor ihm war, erst jetzt fiel es ihm auf, von Strömung nichts wahrzunehmen. Hier stand das Wasser. Es bewegte sich - ablesbar an in der Sonne blitzenden, auf seiner Oberfläche gewissermaßen schwebenden Staubpartikeln - sogar ganz langsam entgegen der ihm bestimmten Richtung. Wohl weil sich die Oder nach der engen Stelle unter der Brücke hier wieder weitet, erklärte sich Philipp das in mechanistischer Manier. Erst ein paar Meter weiter draußen begann die fliehende Eile, die man gewöhnlich mit Strömung in Verbindung bringt: Schlieren, Streifen, Wirbel; zwischen Regionen, wo das Wasser stillstand, und dem eigentlichen Fluß Strudel, weiter hinten glänzten geschlossene, glatte Spiegel und kribbelnd ausfasernde Platten. Das alles hatte mit Schönheit zu tun, die Dreckigkeit des Wassers sprach dagegen von Realismus - seltsamerweise langweilte ihn Realismus, obwohl er doch realistisch sein wollte. Aber er zielte mehr auf das, was sich unter der realistischen Oberfläche verbarg, auch unter der Oberfläche der Menschen, der Oberfläche aller Gewässer, vielleicht könnte man es "Subrealismus" nennen; im gleichen Sinne, in dem der Surrealismus, in Träumen durchschimmernd, "über" der Wirklichkeit schwebt. Ebenso folgte der Renaissance, extrapolierte Philipp, die sich ja mit der antiken Erscheinung auseinandersetzte, vielleicht eine "Subrenaissance" - mag sein, daß sich im Bauhaus nichts anderes darstellte, warum denn nicht: weil es die Essenz der Materialien behauptete, die zur Herstellung einer Erscheinung gehören. Und dem Realismus der Literatur, in dessen Stil immerhin erzählbar ist, was mit Menschen geschieht, müßte jetzt eine Art Subrealismus folgen, welcher die Substanz untersucht, die das Geschehen in Gang setzt. Verspielter aber als das Soziologische und auch nicht so passiv wie die Psychoanalyse, wo man das unter der realistischen Oberfläche Lauernde, das die Menschen zum Leiden im Handeln treibt, ja gleichfalls beleuchtet. Ja, vor allem deutlich weniger statisch als die Psychoanalyse - schon weil die Vergangenheit nichts Festes ist, nichts zu Packendes, und dauernd sich ändert. Wie dieser Fluß, sie wabert und fließt, hat die Fähigkeit, sich um Einen herumzuschleimen - dabei kann sie Einem aber auch um den Kopf geschleudert werden, daß Einem, wies so schön heißt, Hören und Sehen vergeht. Insofern besitzt sie eher die Struktur eines organischen Wesens, ein halbwildes Tier, womit man spielen muß, damit es Einen nicht auffrißt, etwas mit eigener, sich in diesem Spiel zu eigener Größe erhebender, warum denn nicht: Intelligenz, von deren gestalterischer Kraft sich der Schöpfer dieser Welt nichts hat träumen lassen. War nicht pathetisch, diese Vergangenheit, wie die Psychotherapie es tat, zum Maßstab von bloß eigenem Wohlbefinden zu machen? Vielleicht hatte er ja mit seinem "Sulla" versucht, dem näher zu kommen; Surrealismus strebte er damit gewiß nicht an, nicht einmal im Traum! - es handelte sich wohl in der Tat um eine Art von gottlos verschrobenem Subrealismus*.

Ach, wunderbar, hier endlich einfach an einen Fluß herangehen zu können, ohne den Irrsinn der ost-westlichen Grenzmodalitäten, dazu noch an diesen, herrlich. Jeden Moment erwartete er nun, daß jenes absonderliche Tier, für welches er Vergangenheit hielt, den Strom heraufkommen würde, langsam, mit mahlenden Maschinen: das Zugschiff voran, eine lange Rauchfahne scharf über den Schleppzug legend. Doch natürlich kam da nichts; solche Schleppzüge, die ihm aus der Kindheit vertraut waren, gab es leider nicht mehr. Vera war in Berlin geboren, sie war dort sogar aufgewachsen und hatte früher, wie sie hatte wissen lassen, in Trümmern gespielt - auch davon war nichts übrig geblieben. Aber durch jene Trümmer war sie mit Berlin von Grund auf verbunden, gewissermaßen an ihnen verankert - und er bloß Wind, der sie kurz berührt hatte. Niemand verschwendet Gedanken an solch flüchtigen Wind: nimm ihn, wie er dir begegnet. Manchmal ist er ja angenehm - prima. Aber keiner folgt solchem Wind in die Welt; nur Seßhafte wissen ihn zu genießen - oder ihr genaues Gegenteil, die Seeleute, wenn sie sich davon treiben lassen. Die Oder hier vor ihm war ein ganz anderer Fluß als der Rhein: der Rhein 'strömte', hatte er nie gemocht. Es war ihm zu mächtig; da strömte Geschichte, Römer, all das, von den Alpen herab. Die Elbe dagegen war fließender Fluß. Wie diese Oder, die ihm von rechts, aus dem Süden, entgegenkam, ziemlich unansehnlich im Grunde und strömungstechnisch radikal beruhigt, trotz des süßen weichen Wassers beinah Kloake; bei den drüben ins Wasser ragenden Buhnen, die sich weit nach links hinzogen, würden sich ebenfalls Strömungswirbel bilden - bis hin zur Mündung, in die das blinde Streben des Wassers schließlich unweigerlich führte, direkt in die Namenlosigkeit, traurig, immer und unaufhaltsam, ja, ja, Fluß. Wie lebensnah.

Ganz anders der Tiber, an dessen Mündung sich die Hoffnungsvolleren unter den Menschen einst versammelten, die nicht sofort für die Hölle Bestimmten: der Tiber 'floß' nicht; dort, wo er ihn, im Schutz einer sorgfältig aus Kalksteinen gefügten Ufermauer und neben einer Brücke, einmal aufmerksamer betrachtet hatte, hatte Philipp jedenfalls nicht dieses vertraute Gefühl von Fließen verspürt. Der Tiber, obwohl bei Hochwasser vielleicht ein reißendes Tier, war in sonderbarer Weise einfach vorhanden, was immer das hieß; für (als läge unter seiner Oberfläche noch immer das zahllose dort seit jeher Gesprochene) die Menschheit vorhanden, schon seit Jahrtausenden - ganz anders als bei Oder und Elbe. So wenig objektiv es auch war, irgendwo in ihm gab es ersichtlich eine Art Resonanz, die das sanfte Vorüberströmen und -strudeln der Flüsse mitunter anders werden ließ, als bloßes Fließen 'größerer Mengen arg verschmutzter Flüssigkeit in einem geringfügig geneigten Trog mit unebenem Boden aus Geröll und Sand', wie ein ernsthafter Naturwissenschaftler es vielleicht auszudrücken hätte.

***

Doch wie Berg nicht einfach und in jedem Fall für 'Vater' stehen kann - hier liegt wohl der Grund für Philipps sophistisches, ins Nichts führende Gegrübel über die Natur des da vor ihm Fließenden - bedeutet auch Fluß nicht immer nur 'Mutter', obwohl Philipp das offensichtlich gern so gehabt hätte. Immerhin bemerkte er selbst, daß die Oberfläche so manchen Flusses sich kräuselnd gegen derlei Wollen sträubt: waren nicht die antiken Flußgötter fast immer männlichen Geschlechts, als Ableger des großen Poseidon? Die im Volksmund besungene mythische Kraft von 'Vater Rhein' dürfte ihm ebensowenig kaum verborgen geblieben sein, wie konnte sie; es stimmte aber nicht mit seinem Grundgefühl überein, daher entstand die ihm eigene Verwirrtheit. Irgendwann, so nahm er einfältig an, mußte er 'Mutter' und 'Fluß' einmal auf zwingende, wenngleich nicht recht greifbare Weise verknüpfen gelernt haben, seither schien anderes nicht 'richtig'. Darum würde er, wenn er zum Beispiel Wasser photographierte, seine Bilder stets so rahmen, das ging ganz instinktiv - bestand darin nicht sogar ein wesentlicher Teil seiner künstlerischen Substanz? - daß diese Verknüpfung darin aufbewahrt war; und mit ihr wohl sein ganz persönliches Familiendrama (gräßlicher Begriff, was aber sonst?) . - 'Fließe Fluß!' dachte Philipp besänftigt und dabei wurde ihm bewußt, in wie weitem Maß sich das gemächliche Fließen der Oder (die ihm hier so anders begegnete als die heitere, mit dem Ausdruck von Freiheit Einem entgegensprudelnde Creuze der Bilder Monets) mit einem Gefühl von Schwermut verband, die er nie wieder aus seinem Leben würde entfernen können - Badevergnügungen in der Art Cézannes mochte er sich hier nicht vorstellen.

Er wollte über die Akribie lachen, womit er vor ein paar Wochen all das untersucht und dem klugen Herrn Clerc, ohne den Schauplatz zu sehen, bei der Wahl Pourrieres für den Ort der Teutonenschlacht Recht gab, bloß weil er sich mit dem Künstlerinstinkt Stendhals in Übereinstimmung befand, dem traute Philipp in blinder Künstlersolidarität das Wissen zu, wie ein Schlachtfeld roch. Ach, dieses absurde Herumgesuche in verstiegener Fachliteratur - wegen Cornelia, die er schon beinah vergessen hatte. Und nachdem er ihren Namen mit 'Mathilde' verschlüsselte, so daß niemand sie in seiner 'Erzählung' als Urbild würde entziffern können, stellte sich heraus, daß Sullas Familienname 'Cornelius' lautete! Auch das war: 'Bingo'! Und er war so stolz auf seine Erfindung 'Mathilde' gewesen: richtig fies und stoff-fremd erschien er ihm. Daß dabei nicht nur diverse Kaisergattinnen dieses Namens in ihm herumspukten, aus ottonisch-salischer, also ganz ferner Zeit, und mehr noch eine Marktgräfin Mathilde und die nach ihr benannte 'Mathildische Schenkung', war ihm immerhin inzwischen klar. Auch diese Mathildische Schenkung (erwartete er von Cornelia ein ähnliches Geschenk?) fand in Italien statt - worum war es da gegangen? Vor fast 1000 Jahren, noch vor Hartmann von Aue; ach er hatte keine Lust, sich mit tausendjährigen Reichen herumzuschlagen (und wer auf dieser allbegangenen Welt wird Philipp je erklären, wieso er hier die schöne, ihm seit seiner Jugendzeit in Versform vertraute Matelda vergaß, jene hochbegehrenswerte Frau, die Dante aus dem Fegefeuer über den unüberwindbaren Lethefluß in den Garten Eden geleitete, ins irdische Paradies, wo sie ihm die lang ersehnte Beatrice zuführte). Ja: für Stendhal; und gegen Cézanne! so hatte er sich im Fall Pourriere schließlich entschieden, gegen Cézanne jedenfalls insofern, als er keinerlei Bezug zwischen dem Maler und diesem nach 'Fäulnis' riechenden Ort zu entdecken wußte. Insgeheim rettete Philipp damit jedoch Cézannes Badende, für sich: denn nun durfte der junge Paul in harmloserem, dem Paradies noch ähnlicheren Gewässer baden, und mußte dabei nicht perverses Vergnügen auf Schlachtfeldern finden, wie er, Philipp, ja leider selbst. Und dann hatte er selber doch noch ein Schlachtfeld gefunden, worin alles paßte.

Diese großen Männer: Cézanne, Cicero, Gauguin, Michelangelo, Monet . . . wieso geisterten sie ihm in letzter Zeit ununterbrochen im Kopf herum? Daß man als Mensch auf der zerfallenden Substanz der Einem Vorangegangenen wandelt, ja, geradezu im Buchstabensinne zu wandeln hat, galt ja nicht allein für die physische Welt, auch nicht nur für die deutsche, sondern vermehrt noch für Kultur, welche sich als immer größer werdender Berg vergangener Großartigkeit doch beinahe definiert: als Anhäufung ganz unübersichtlicher Größe, worin der sogenannte Lebensraum, den grade die Jugend so sehr für sich erwartet (und mit ihr taten es, rücksichtslos in einem Maß, das zu begreifen unserer Vernunft Grenzen gesetzt sind, im Lauf der Geschichte so viele Völker), in einen räsonnierenden Totenraum sich verwandelt. Vergangenem Scheitern und Leiden oft mühseligst abgerungen und vor zahllosen unzufrieden-unglücklich Verstorbenen nun gradezu wimmelnd, von denen im Leben - außer, ha, Heiner Müller, Goethe und Gorki - kaum einer erreicht hat, wohin es ihn so sirenenhaft zog. Dadurch haftet Kultur, so sehr man als Lebendiger auch in sie hineingeboren wird, eine Art Leichenhaftigkeit an, fast prinzipiell, die, nicht nur bei Jugendlichen - Philipp kannte es von eigenem Empfinden - leicht Aversion und Ekel auslöst: weil nicht nur Jugend schließlich erst einmal leben und nicht gleich an den Tod denken und sterben will. Welche Menge an Genies jedoch wiederum benötigt wird, damit ein junger Mensch, der, vermessen in seinem Lebensdrang und dem Moment verbunden, Kultur produzieren möchte, Grund für kurzfristiges, bei genauerem Hinsehen meist sogar falsches Räsonieren findet! Ach, da bildete Philipp, wenn er auch nicht mehr jung war, doch keinen Einzelfall.

Weshalb suchte er aber ausgerechnet jetzt, in seinen Mittvierzigern, so vermehrt Orientierung an großen Gestalten? Als junger Mann schien er das nicht nötig gehabt zu haben - da genügte als Richtschnur bescheidenere Größe. Ging es um Vater? Warum wählte er dann Väter, die überdimensioniert waren und so weit weg, daß gesunder Menschenverstand ihm sagte, daß er sie nie erreichen würde? Kannte er niemanden sonst, niemanden in der Gegenwart, der ihm Vater ersetzen könnte? Drei, vier hatte er doch kennengelernt, sogar geschafft, sich ihren kritischen Augen zu stellen, aber sie waren - so paradox es auch klang - weiter weg als Cézanne. Das galt sogar für die Straubs, trotz ihrer erhebliche Wärme spendenden Nähe. Gibt es für das Ich in seinem Streben nach Freiheit - denn um nichts anderes geht es, ums Streben nach Freiheit und ja, ja: Einsamkeit - nur ein einziges wahres Ziel von Kultur: sich mit wirklicher Größe zu konfrontieren und eine eigene Haltung dazu zu gewinnen? Teil davon ist bei jedermann gewiß die Begierde, selbst zu solcher Größe aufzusteigen, warum auch immer, was sonst soll schon Grundlage jener ästhetischen Erfahrung sein, welche man früher, bis hin zu Kant, hilflos das Erhabene nannte: Es geht um das Streben nach der Überschreitung von Grenzen. Das ihm eigene Bramarbasieren mit Großkünstlern jedoch, die Reduktion ihrer Werke auf ein paar Begriffshülsen, nichts anderes praktizierte er doch seit einigem, kam Philipp jedoch auch - krank vor: dieses Sich-mit-großen-Namen-Verbinden, bloß um 'Vater' zu besetzen. Wollte er sein eigenes Versinken auffangen, indem er sich an große Männer klammerte? An Beethoven mit seinem radikalen "Es muß sein!", an Michelangelo, Gauguin und Cézanne - lagen sie, unverschämte Frage, noch immer in seiner Reichweite? So sehr es erstaunen mag, im Geheimen glaubte er es nach wie vor.

Er benutzte diese Namen indes auch, um etwas zu vernebeln - etwas, was er im Zentrum seines Seins vermutete, im Kern, wenn man so will, seiner Seele, worauf er aber dummerweise nie wirklich zu sprechen kam. Befürchtete er, daß sich dort gar nichts befand? Daß sich bei niemandem dort etwas befand? Und daß man sich deshalb auch mit niemandem, den es betraf, darüber austauschen konnte? Hatte er genau davor Angst? Weil sich dann jede noch so schlaue Äußerung erübrigte, und das: erstaunlicherweise erst das, würde ihn seines Lebenssinns berauben - ziemlich einfach, im Grunde. Er spürte, wie dieses unter Umständen gar nicht Anwesende, bei ihm nicht und bei niemandem Anwesende, mit 'Vater' in Verbindung stehen wollte; und wenn sich hinter 'Vater' nichts außer gewöhnlicher Leere verbarg - nicht einmal Sehnsucht - dann existierte auch Beethoven nicht, Michelangelo nicht; übrig blieb dann nur noch das nervösen Lebens-Zucken Monets: die merkwürdigen Haken, sie waren so gegenwärtig, in der Pinselführung, von deren Schwung er glaubte, anhand ihrer Monets Bilder von denen Sisleys oder Pissaros mühelos unterscheiden zu können. Ja, die merkwürdigen Haken Monets, dachte Philipp plötzlich erneut besänftigt, und dann erregter: 'Toter Vater - bedeutete das nicht: Erreichbare Mutter?'

Vielleicht war ja wirklich jegliches Streben des Menschen, von sich selbst loszukommen, von seiner Körperlichkeit, ob in reiner Ästhetik, in etwas bloß Strukturellem, in Religion oder bis vor kurzem auch im Marxismus, eine zum Scheitern verurteilte Naivität. Oder wie Peter, zu dessen Geburtstag er morgen Abend erwartet wurde, neulich - auch mit Bezug auf seinen, Philipps, Südseefilm - so angriffslustig sagte: eine Art (auch bei Gauguin übrigens schon) zu Märtyrertum verurteilter Mystizismus. Derlei Streben nach Entmenschlichung, im Bereich der Ästhetik war es ihm schließlich nicht fremd, muß mit einer Vermenschlichung einhergehen, da stimmte Philipp seinem Freund Peter Steinhardt rückhaltlos zu, unbedingt, sie muß mit Haut und Haaren versehen bleiben, sonst fällt die eigene Wirklichkeit irgendwann holterdipolter zusammen und man droht in entleertem Verbalismus zu ersticken. Und fand nicht grade das momentan in ihm statt? Reine Logik und Formeln bieten vielleicht Halt, machen Einen vielleicht auch satt, aber sie geben keine Wärme. Alle darauf beruhenden Konstruktionen, die mit ihnen errichteten Gebäude, sie bleiben leer, solange nicht jemand in sie einzieht. Auf dem Rückweg nahm Philipp zwei Anhalter mit.

Zuvor hatte er sich die Oder an noch einer anderen Stelle besehen: dort angelte man, nicht weit von einem Dorf, auch deutscherseits auf den Buhnenköpfen, an denen vorbei das Wasser so nett und menschennah dem Norden entgegenstrudelt. Auch hier fuhren keine Schiffe - komisch, nach Stettin müßte es doch eigentlich Verkehr geben, dachte er, als er mit übereinandergeschlagenen Beinen eine Weile den Anglern zuschaute; oder nach Breslau. Zu gerne hätte er einen Kähne schleppenden Raddampfer vorbeistampfen sehen; ach, selbst hier würde es so etwas nicht mehr geben - so zurückgeblieben war der Osten nun doch nicht. - "Ich saß auf einem Steine / und bedeckte mein Bein mit dem Beine", sagte sich plötzlich - war es der Anfang? - eines Gedichts aus der Schulzeit in ihm auf. Darin war noch von einem Ellenbogen die Rede gewesen, und von Kinn und Wange, die sich in eine Hand schmiegten, der zart klingende mittelhochdeutsche Text war ihm entfallen. Walther von der Vogelweide? Es ging um wen, der auch einmal, gleich ihm jetzt, grübelnd irgendwo gesessen hatte, eine perfekte lyrische Frühform von Rodins 'Denker' - Gott - so lange vergessen, ausgerechnet hier an der Oder, wo jener Walther nun wirklich nicht hingeraten sein konnte, fiel es ihm wieder ein . Und damit auch die ihm mittlerweile ungeheuer vorkommende Zufriedenheit, mit der er einen Teil seiner Kindheit auf dem Dampfer jenes Großvaters verbracht hatte, meist in den Sommerferien. Und nicht hier an der Oder sondern auf der Elbe natürlich.

Ein sogenannter "Heckrad-Dampfer", sein Rumpf erschien Philipp lang und war ebenso wie das Deck mit schwarzer Farbe gestrichen; endlos, so schien es ihm jetzt, hatte er da auf dem Kesselbehälter gelegen und die Wärme des Kessels in seinen Rücken dringen lassen - vor sich das gemächlich vorbeirückende, langweilig grüne Ufer. Ja, zufrieden gelegen hatte er da, nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen die Welt zergrübelnd gesessen wie jetzt; er hatte ja gewußt, daß weder die Zartheit der Sprache noch die beschriebene Haltung des lyrischen Originals diesem Ort angemessen war - hier ging es gröber zu. Er nahm die Beine auseinander, was besser in die hiesige Gegend zu passen schien, denn nun dachte es sich tatsächlich bequemer: die Wärme, die er damals auf dem Kessel gelegen in seinem Rücken spürte, war stark - wenn er wollte, konnte er sie sogar heute noch fühlen . . . was ihn überraschte; ihre Quelle befand sich gleich unter ihm, wo ein Kohle in eine glühende Öffnung schaufelnder Heizer sich mit nacktem Oberkörper mühte, den schwarzer Rauch hervorzubringen, der, herb und erregend, schließlich aus der Öffnung des Schornsteins drang, so für Philipp damals die Logik der da ablaufenden Vorgänge. Hinter der Brücke, von wo aus sein Großvater das Schiff steuerte, offenbarte eine geöffnete Luke das wahre Ziel der heizerischen Anstrengung: unten im Rumpf die Maschine mit ihrem gewalttätigen Stampfen, zu dessen Erzeugung das im Kessel eingeschlossene Wasser erhitzt wurde - Philipp hatte selbstverständlich nicht das Geringste von den Gesetzmäßigkeiten des Dampfdrucks, die da am Wirken waren, begriffen. Glänzende Kolben tauchten in geputzte Zylinder und übertrugen die in der Maschine entstehende freie Energie in ein kompliziert stampfendes, sinnfällig ineinander verschachteltes Gestänge, mit Hilfe dessen schließlich ein Paar schwer schwingender Exentergewichte aus gelb glänzendem Metall in Gang gehalten wurde, welche die ruckartigen Stoßbewegungen in stabiles Drehen verwandelten - alles im Grunde viel zu kompliziert dafür, daß am Ende nur ein Schaufelrad angetrieben wurde. Auf allen Teilen, auch den in Philipps Augen besonders eindrucksvoll sich drehenden kraftvollen Exentergewichten, glänzte verführerisch Öl. Eine für heutige Begriffe altmodische Apparatur, schon in den Fünfziger Jahren, als er daran geschnüffelt hatte, war sie es, auch wegen ihrer großzügigen Dimensionierung. Dazu der ölverschmierte, fast in Lumpen gekleidete Maschinist, der sie bediente - ach, Wunder einer unheimlichen Maschine.

Ihm ging auf, daß er, abgesehen vom innigen Wärmegefühl in seinem Rücken, diese Zeit auf dem Dampfer und dem Fluß jetzt bloß an der Oberfläche entlang erinnerte, zu sehr eigentlich; für Tiefergehendes, in Art seines Erinnerns am Ententeich, fehlte ihm im Moment irgendeine Substanz. Das Tiefe zu erreichen ist zwar nicht schwer - wenn man an eine Stelle wie jenen Teich gleichsam geschleudert wird, beginnt das Erinnerungsspiel von ganz allein -, sich jedoch vorsätzlich in einen dies ermöglichenden Stand von Schwäche zu begeben, dazu gehörte - was eigentlich? - Mut? Er hatte zum Beispiel nie gewagt, in den Maschinenraum hinabzusteigen, das war verboten, dafür studierte er das befremdliche Durcheinander der dort stattfindenden regelmäßigen, dieser kraftvollen Bewegung häufig von oben durch ein Luk - hieß es nicht 'Skylight'? Andererseits war so eine Maschine auch der Erinnerung wert, wenn man nicht ihre tiefsten Tiefen erforscht hatte. Das Schaufelrad befand sich am Heck, ungewöhnlich, denn die meisten Dampfer, denen man begegnete, stellten ihre Radkästen in der Schiffsmitte zur Schau. Tatsächlich gab es auf der Elbe nur zwei solcher 'Heckrad-Dampfer': trafen sie einander, klang das Tuten, womit man sich auf dem Fluß mitunter mit Dampfdruck begrüßte, in Philipps Ohr einen Schlag herzlicher. Aus strömungsdynamischen Gründen wohl kostengünstiger im Betrieb als die notwendig breiteren und daher größeren Wasserwiderstand hervorrufenden Seitenraddampfer, waren die beiden dennoch die letzten radgetriebenen für den Elbverkehr konstruierten Schiffe; nach der Jahrhundertwende bevorzugte man, des höheren Wirkungsgrads wegen, bei Neubauten den mit größeren Drehzahlen arbeitenden Schraubenantrieb. Als noch effektiver erwies sich indes, die zu schleppenden Kähne selbst mit Schrauben voranzutreiben, wofür freilich Öl benötigt wurde - und da man den Kohlepreis im Deutschen Reich aus politischem Erwägen niedrig hielt, existierten all diese Antriebsweisen fast fünfzig Jahre einigermaßen ebenbürtig nebeneinander. Raddampfer waren zur Zeit von Philipps Kindheit bereits Relikte schon vergangener Zeit - den Reedereien lag nur noch daran, sie in Gang zu halten, bei kleinsten Schäden drohte die Verschrottung. Es ging gerade noch um mühsames Überleben - wie heute beim Film, dachte Philipp: merkwürdig, daß ich selbst in einem sich gerade verschrottenden Gefilde gelandet bin. Wie logisch!

Ja logisch und mehr an der Oberfläche der Erinnerung entlang geschrubbt als gedacht! So wie ich auch bei Viola nach dem Tod ihres Vaters, des in einer Vorstadtpraxis von seinen Patienten verehrten Dr. von Bock, auf die Schnelle ein vermutlich ganz falsches Modell ihres Verhaltens zusammengebastelt habe. Das stank alles nach Realismus. Wie kam man tiefer? Wahrscheinlich müßte er sich von der eleganten Pose Walther von der Vogelweides noch weiter entfernen und gewissermaßen zu, ha: wieder dem Philipp vom Ententeich werden. Und hinabgehen zum Fluß . . . wo er sich niederknien müßte, sich ganz hinunter beugen, ganz bis an die Oberfläche des Wassers, und in einem Moment großer Schwäche direkt an ihm schnüffeln, an diesem Wasser, um so die wirkliche Substanz des da vor ihm Fließenden zu spüren, das, wie Heraklit in etwa sagt, obwohl jeden Moment aus anderem Stoff, doch immer gleich war. Ja, er könnte, wollte er seiner Erinnerung wirklich zu mehr Tiefe verhelfen, einfach damit beginnen, hier an den vorbeistrudelnden Molekülen des Wassers ein wenig herum zu riechen. Länger als da in Frankfurt. Wollte er das? Ach - er saß hier ja bloß an der Oder: und mit dem Dampfer hatte er die Elbe befahren. Wieder mal war er bloß im Unsinn gestrandet. - Komisch, daß er den Spruch Heraklits, der lange vor der commedia nicht grundlos 'Der Dunkle' genannt wurde, nun genauer erinnerte - in der frischen Luft schien das Gedächtnis, seines zumindest, besser zu funktionieren: "Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und immer wieder andere Gewässer zu" hieß es richtiger, was wohl zu bedeuten hat, daß sich im Grunde nichts wiederholt, daß es "Wiederholung" nicht gibt, daß Wiederholung im strengen Sinn nicht einmal existiert, nicht einmal existieren kann, in keinerlei Form. Und daß aus der sich ständig ändernden Substanz des an Einem Vorbeifließenden nur unter dem Eindruck einer speziellen Erinnerung etwas herausholbar ist, was der Wiederholung zwar gleicht, genau genommen aber nur eine an diese Erinnerung anspielende abstrakte Gestalt ist. - So gesehen mochte selbst angehen, daß das, in was sich sein Erleben von damals verwandelt haben mochte, diese riffähnliche - ja erschien sie ihm nicht wie ein Riff? - Textur irgendwo in seinem Gedächtnis, hier an der Oder für ihn sogar besser zu spüren war als an der Elbe, schon weil Sentimentalität ihn dort leichter in die Irre führen könnte. "Panta rhei" - "Alles fließt", in dieser Version war dieser Spruch des Heraklit jetzt allbekannt, so wie sich Protagoras Satz "Aller seienden Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, und der nicht-seienden, daß sie nicht sind" in die Formel vom Menschen als dem Maß der Dinge verwandelt hat, die jeder nun für seine Zwecke zu mißbrauchen in der Lage ist. Philipp fand die das Nicht-Seiende betreffende Passage des Protagoras im übrigen ausgesprochen schwierig, nicht so sehr der negativen Logik wegen, mit solcher zu arbeiten war ihm nicht unvertraut; vielleicht war ihm aber unheimlich, daß sie sich ganz direkt auf das im Zentrum seines Seins womöglich gar nicht Vorhandene beziehen könnte, vor dem er solche Angst hatte, und das er vorhin so zaghaft mit "Vater" zu besetzen versuchte - das und die Angst davor waren selbst in der Negation heikel.

Als er sich erhob, um zum Fluß hinunterzugehen und, indem er wie ein Hund am Wasser herumschnüffelte, sich dort zum Maß sogar des 'Nicht-mehr-Seienden' zu machen, für das er momentan offensichtlich mehr Gefühl aufbrachte als für Sein oder Nicht-Sein, fehlte ihm angesichts der Lächerlichkeit, die solchen Gesten innewohnt - vor anderen, die, wie die Angler dort hinten, zuschauen würden, weit mehr aber vor Einem selbst - auf einmal die Kraft. Weniger diejenige, welche braucht, wer sich über den Eindruck eigener Lächerlichkeit hinwegsetzen will; es fehlte ihm vielmehr die Kraft, die man benötigt, um sich so weit nach unten zu begeben, daß man in einen Zustand der Schwäche gerät; einen, der seinem gestrigen am Ententeich ähnelte. Worin sich gewisse, entscheidende Komponenten des Selbstwertgefühls verlieren und man, ja, fast am Zerlaufen ist. Er verfügte über diese Kraft jetzt nicht. Das Denken, von dem man dann überwältigt wird, in dem man zuweilen sogar seine Körperzellen zu spüren vermeint, hatte zu warten. Mit oder ohne Heraklit, mit oder ohne Protagoras, dem nur das eigene Maß zur Verfügung stand - ach, er war schon froh, hier einfach sitzen zu dürfen, an dieser vorbeifließenden Welt, und überhaupt etwas erinnern zu können. Froh, daß es in all diesem Auseinanderlaufen von Wirkungen und mehr noch Ereignissen gelegentlich überhaupt eine Art Stabilität gab, die einen Zusammenhang mit der eigenen Vergangenheit vermittelt. Und Einem so eine Vorstellung von Einem selber geben kann.

Diese Vorsokratiker, sie schienen tatsächlich eine Art Koordinatensystem zu bieten, woran man sich orientieren konnte, ein lustigeres zudem als das von Auden, Arendt und Heidegger - wie Heidegger davon auszugehen, daß Philosophieren und tiefes Denken nach dem Verschwinden des Altgriechischen nur noch in Deutscher Sprache möglich wären, klang nicht nur in Philipps Ohren ein wenig hochmütig: so leicht sich Heideggers Hoffnung auf einen Sieg der Nazis damit wegerklären ließ (zu mehr als zweihundert Prozent sogar, wie Philipp sarkastisch dachte), bot es der Menschheit leider nur recht trübe Perspektiven. Heidegger wäre besser beraten gewesen, statt dessen ein wenig Dänisch zu lernen, dann hätte er schnell begriffen, daß sich im Dänischen Kierkegaards eine Kleinigkeit zum Beispiel als smÝrrebrÝt, als geschmiertes Brot, bezeichnen ließ, und daß selbst das tiefste philosophische Wissen nur aus hingeworfenen Brocken bestehen kann, die wie so ein smÝrrebrÝt zu verdauen (oder auch nicht) den Individuen und ihren subjektiven Bedürfnissen überlassen bleibt, seien diese aus 'objektiver' Sicht noch so lächerlich oder vermessen oder verstiegen; und daß grade im quicksilbrigen Hüpfen des Dänischen und grade aus Dänischer Perspektive eine weitaus gültigere Beschreibung des Lebendig-Seins und der Zeit formulierbar war, als im schwerfällig alles fixieren wollenden Deutschen, in dem das tastende Werden immer so leicht unter den peinlichen Druck des Seins gerät. Und daß jener Kierkegaard sogar meinte, daß im Reich der Philosophie das schöne dänische Wort "gentagelse" das moderne Gegenstück zur altgriechischen "Erinnerung" bilden könne, und daß er die dänische Sprache zu diesem Wort beglückwünsche, das er hiermit in die Philosophie eingeführt habe, und das im großartigen Deutsch Heideggers nur so unzulänglich mit "Wiederholung" übersetzt werden kann; denn es sei mitunter zwar möglich, etwas mittels der Erinnerung an der Wurzel zu fassen, um es zu verstehen (wie es die Griechen gern taten), aber besser wäre es, ihm wiederholt zu begegnen, denn das eine tauche bloß passiv hinab in die Vergangenheit, während das andere in überlegener Weise aktiv der lebendigen Gegenwart verhaftet ist und klar in die Zukunft weist .

***

Die hinter dem Schiff von den Schaufelrädern erzeugten Wellen waren aber auch von Kierkegaard oder den Vorsokratikern her gesehen hocheigenartig, gar nicht wie Wellen sonst zerlaufend, sondern streng parallel und auf eigentümliche Weise 'stehend' - ja, auf diese Weise stabil müßte Erinnerung sein - bis sie sich am ersten Kahn brachen und dahinter verloren, zwischen geschleppten Schiffen, die von außen stattlich aussahen, kleiner natürlich als die Seeschiffe, die er im Hamburger Hafen gesehen hatte, zum Aufbruch in große Weiten bereit, immerhin aber doch ebenso wie diese und der Dampfer in schwarzer Farbe gestrichen, die an den Schiffsflanken trotz der da baumelnden Gummireifen an vielen Stellen abgeschabt war, was energisch wirkende Streifen von Rost durchscheinen ließ; an manchen Stellen, wo das diese Streifen verursachende Anlegemanöver erst vor kurzem erfolgte, sogar noch von frischem Metall. Manchmal flatterte Wäsche auf den Kähnen; wenn sich der Qualm aus dem Schlot des Dampfers bei ungünstigem Wind über den Schleppzug legte, sah man dort Frauen die Wäsche schimpfend einsammeln, gelegentlich sah man auch Kinder. Mit denen mochte Philipp nicht tauschen. Auf dem Dampfer belästigte der Qualm weniger, auch wenn man abends selbstverständlich immer dreckig war - außer bei Brückendurchfahrten, wenn der Schornstein vom Bootsmann gekippt wurde und auf einmal Ruß und das ganze Aroma verbrannter Kohle, es schmeckte eigentümlich und süß, sich stumpf um das Schiff legte. Philipp freute sich auf Brücken, freute sich auf das dann notwendig stattfindende Spektakel von Umlegen und Kippen des Schornsteins, ein erstaunliches Ereignis. Er wollte den Schornstein immer gern selber zum Kippen bringen, war jedoch nicht schwer genug, um ihn mit seinem Gewicht an dem Tau zu halten, mit dem das bewerkstelligt wurde. Manchmal durfte er dem Bootsmann dabei helfen, ein großer Moment. Nein, Rauch und Teer störten Philipps Nase nicht, auch heute nicht, er mochte sie gern, aber er begriff, daß man das auf dem geschleppten Teil des Zuges weniger gern sah, daß man das Scharfe, Herbe, Erregende daran nicht sah und darüber schimpfte.

Ja, die Wellen, die nach dort hinten liefen, sahen entschieden anders aus als am Bug; vorn, wo der Anker an einer Art Bugspriet hing, schob sich das Wasser schräg in Richtung Ufer zur Seite, nein es wurde geschoben, wo die Wellen dann brachen und in schlappen Reflexionen verendeten; manchmal schaukelten sich die Wellen beim Reflektieren freilich auch auf, überlang schaukelten dann die kleineren Boote, die man beim Fahren zurückließ, das war sehr rätselhaft. Aber am geheimnisvollsten ging es direkt hinter dem Heck zu, dort blieben die Wellen tatsächlich irgendwie stehen, wie Magie kam ihm das oft vor. Und obwohl die Maschine auf immer gleiche Art stampfte und sich ihre Teile ewig gleich bewegten, sahen diese, obgleich 'stehenden', Wellen immer anders aus - ja das war "Schiff", etwas, das lebte, mit warmen, unheimlichen Stellen; dem Abstieg in den Kesselraum mit dem Heizer zum Beispiel, der zuweilen an Deck kam, um dort, mit leerem Blick aufs vorbeigleitende Ufer, eine Zigarette zu rauchen, und der ihn danach zuweilen mit sich nach unten nahm. Was mochte dieser Heizer, wenn er an Deck war, so denken? Und dann die enorme Verschiedenheit zwischen Tal- und Bergfahrt: stromabwärts war man Teil eines einzigen langen, ständig sich ändernden Bildes, eines sich streckenden Panoramas, das sich in unaufhörlich zügigem Gleiten zusehends auftat - in ihm gab es einen geradezu übermäßigen Verbrauch an vielen, streng genommen sogar zahllosen Einzelheiten. Vielleicht kamen ihm, weil für ihn solche Bewegung seither vertraut und selbstverständlich war, die Filmmacher immer ein wenig naiv vor, als kindlich zurückgeblieben gewissermaßen, welche die Essenz der Filmkunst in langen Kamerafahrten, dieser primitivsten Feier des euklidischen Raums, zu entdecken meinten. Ihm selbst schien, zumindest da war er ein wenig erwachsener geworden, der durch Film dargestellten Gegenwart ein etwas rabiateres Vorgehen angemessen zu sein, eines, das nicht auf solch klassisch-naiver Kontinuität beruhte, die er inzwischen als Teil eines mittlerweile vergangenen, sich freilich immer noch warm anfühlenden Traums, wenn nicht sogar Märchens begriff. Mag sein, daß sich das schließlich auch in der Form seiner 'Flackerfilme' niederschlug, die auf widersinnige Weise gleichzeitig ruhig und gehetzt wirkten, voranschreitend und doch auf der Stelle tretend, kontinuierlich nur im Sinn einer Folge rasch aufeinanderfolgender kurzer Sprünge, da fühlte er sich ganz im Einvernehmen mit den Ideengebäuden der Quantentheorie.

In das Radgehäuse eingebaut war das Klo, da pinkelte man aufs Schaufelrad; das war interessant, wenn es sich drehte, in diesem Krach - sonderbar aber auch, wenn es stillstand. Dann entstand, sobald man die Tür schloß, ein sonderbar hohl klingender, sonderbar groß wirkender leerer Raum. Das Geräusch der Räder in den Radkästen war bei der Talfahrt anders, ein rasches Hacken, das funktioneller mit dem Fortkommen zusammenhing, als das mühselige Mahlen der Bergfahrt, auf welcher man Teil eines Zähigkeit verlangenden, langsamen Eindringens war, einer gegen Widerstand erkämpften Veränderung, die so spät oft erst ein wahrnehmbares Resultat ergab, daß man mitunter lange zu stehen meinte. Auch - und auf die dem zugrunde liegende Ökonomie konnte sich Philipp noch heute keinen Reim machen - fuhr das Schiff auf der Talfahrt fast immer allein, ohne einen Schleppzug im Gehänge, und peilte daher den Zielpunkt aus eigenem Gesetz heraus an, ein gefährliches Tier, vor dem sich die Ufer in Acht zu nehmen hatten. Die Wellen, die man verursachte, waren dann natürlich größer. Philipp gefiel die Bergfahrt mehr, als so ein gefährliches Tier wollte er offenbar nicht so gern angesehen werden. Und über allem: der Großvater auf der Kommandobrücke.

Natürlich gehörte der Dampfer nicht seinem Großvater, er war bloß Angestellter einer das Schiff betreibenden Reederei aus Hamburg; da er das Kommando darüber aber schon vor dem ersten Weltkrieg annahm, gehörte es, wenn nicht ihm, so doch zu ihm - als sei er unausreißbarer Teil davon. Dazu gehörte allerdings ebenso, daß er es auf seiner letzten Fahrt zu begleiten hatte, der Fahrt in die Verschrottung - das war Anfang der sechziger Jahre, wo es, so die Familienlegende, mit Beton gefüllt und versenkt zu einem Bestandteil des niederländischen Zuidersee-Abschluß-Damms wurde. Ja: mit Beton gefüllt und versenkt! - Ach, auch aus all dem sprach bloß jener Realismus, traurig und auf durchsichtige Weise wahr - einmal fuhr Philipp auf dem Weg nach Amsterdam darüber hinweg; mit dem Dichter Gerard Malanga, den er kurz zuvor die Schönheit der commedia hatte preisen hören , die in ihm selbst längst verschüttet war - Gerard rief sie ihm wieder ins Gedächtnis, in zwar gedankenlos kitschiger Weise, aber zufällig nicht weit von jenem das Schiff des Großvaters enthaltenden Abschlußdamm, wo Philipp die genaue Lage der mit Magie versehenen Stelle freilich unbekannt war: ein ganz eigenes, sich seltsam streckendes Gefühl, da der Dampfer des Großvaters beim Hinüberfahren schier endlose Länge annahm - Ausdruck einer paradoxen, die Heisenbergsche auf den Kopf stellenden, Unschärferelation, in welcher die Abwesenheit genauen Wissens die erweiterte Präsenz eines Phänomens extrapoliert - ganz wie unsere Unwissenheit über die wahre Natur Gottes dazu geführt haben mochte, daß man ihn lange überall (und nicht, wie jeglicher gesunder Menschenverstand es nahelegen würde: nirgends) vermutete, sogar in der sogenannten Natur.

Auch auf die Kommandobrücke durfte Philipp manchmal, dort oben befand sich das Steuerrad, neben dem langen, im Schiffsinneren vielfach sinnvoll gekrümmten Messingrohr, durch welches der Maschinist die Kommandos empfing: "Langsame Fahrt voraus!" - genau jene Worte hatte er einmal hindurchrufen dürfen, worauf die Maschine auf energische Weise zu mahlen begann; zunächst trieb das Schiff hilflos zur Seite, rückwärts sogar, was Einen erschreckte, erst dann bekam es die erwünschte Richtung: "Ganz langsame Fahrt voraus!" Als Philipp sich all das (schon lange nicht mehr in der Pose Walther von der Vogelweides) an der Oder wieder zu vergegenwärtigen suchte, trat ihm, mit ihn durchschießendem Blutschwall, seine gerade mal überwundene Sehnsucht nach dem großen sozialistischen Steuermann in den Sinn, von der ihm auf einmal klar wurde, wie sehr sie sich mit dem Bild seines Großvaters verknüpft hatte; und mit einem konkreten Bild von sich selbst, nicht nur einer Vision, denn damals war er ja, obgleich nur ein Zwerg, selbst einmal so ein Steuermann gewesen: "Ganz langsame Fahrt voraus" hatte er als ein solcher durch so ein Sprachrohr in den bedrohlichen Maschinenschlund hinabgerufen, und - Ja, sie hatten Richtung auf diesem Schiff! Und auf dem Kessel warm wie an Frauenbrust - trotzdem ging es irgendwohin. 'Männer ohne Frauen' - so könnte man diesen Bereich seiner Erinnerung vielleicht einigermaßen treffend nennen; waren nicht dennoch immer Frauen an Bord? Großmutter, seine Tante? Doch daß der Vater nicht da war - das war wohl Teil der Freude. "Großvater" statt "Vater" wäre dementsprechend die Formel. Auf Elbe und Oder gab es viele solcher Schiffe, auch auf dem Rhein; und kleine Jungs, die sich an den Kesseln wärmten; wie manche Katzen heutzutage auf Fernsehgeräten - die beiden Jungs, die jetzt im Auto mitfuhren, kannten das wohl nicht mehr - sie waren vielleicht an die sechzehn - aber sie kannten gewiß Ähnliches, derlei Bedürfnisse schufen sich immer Platz.

Sie kamen aus einem Ort nördlich von Frankfurt, hatten in Schwarze Pumpe - "das kennen Sie, nich?" - Fußball gespielt. Eine Zeitlang fuhren sie wie über der Landschaft, an einer weiten Senke vorbei, die Philipp wie eine sich erst in weiter Ferne verlierende Schüssel erschien, ein immenses sonnenbeschienenes, durchhängendes grünes Laken, Panorama als begeisterndes persönliches Privileg. Irgendwo rechts lag die Gegend, in welcher seine Eltern einander kennengelernt hatten, Bad Freienwalde, jetzt trat ihm der Name wieder ins Bewußtsein - gar nicht so unangemessen für einen Ort, an dem er vermutlich gezeugt wurde. Philipp kannte Photos, hier begegnete seinen Eltern, womöglich das einzige Mal in jenem Krieg, so etwas wie Glück - sein Vater war da noch erstaunlich jung, gerade mal zwanzig, und kam als Soldat direkt von der höchst bösartigen Ostfront - Lungenschuß plus Genesungsurlaub: sie waren frei, hatten viel gebadet, und vielleicht geschah es sogar im Walde . . . fand er es deshalb hier schön? Was jene Zeit betraf, zeigte der Vater sich stets - nicht wortkarg, sondern geradezu wort-zäh, müßte man sagen, so daß Philipp sich daraus kein über das Triviale hinausgehendes Bild zu machen verstand: Obergefreiter, seit einer Verwundung im Jahr dreiundvierzig in der Gegend rund um Berlin - ein arg großer Verbrecher kann er kaum gewesen sein, zumal er aus allereinfachsten österreichischen Verhältnissen kam. Doch ganz genau hörte Philipp, war von jener Zeit zufällig die Rede, nie hin: mit seinen Ohren stimmte in diesem Zusammenhang einiges nicht, und er, der sonst feinste Nuancen zu interpretieren verstand, das geradezu zwanghaft oft sogar tun mußte, wurde da gewissermaßen wort-taub. Nein, er hatte nie genau nachgefragt, was die Eltern hier taten. Wenn man beim Betrachten der Photoalben drauf kam, spürte er ihrerseits stets eine merkwürdige Mischung von erlebtem Glück und damit verbundener Scham, die ihnen das Sprechen und ihm das Hören unmöglich machte.

Nein, lieber wollte er jetzt das Gefühl, den Sieg über den Sozialismus feiern zu dürfen, dies hatte, da war er nun sicher, viel mehr mit seiner plötzlich so emphatischen Begeisterung für die sie umgebende Gegend zu tun, mit seinen Mitfahrern teilen. Er ließ sie wissen, daß er die Landschaft hier schön fände: wohl wegen der klar in die Ferne führenden Linien, aber auch wegen der seltsamen Deutlichkeit der durch die tiefstehende Sonne herausmodellierten Flächen. - "Das war auch vorher schon so", sagte der Gesprächigere der beiden. - "Vorher?" fragte Philipp, in seinem Bemühen, sie an seiner Begeisterung teilhaben zu lassen, durch die schlichte Lakonie dieser Bemerkung ein wenig düpiert. - "Vor der Vereinigung." - "Und was wollen Sie werden, jetzt - danach?" - "Betriebsmechaniker." Philipp wollte gerade nachfragen, was für ein Beruf das eigentlich war, da fuhr der Junge schon von allein fort: "Ich weiß auch nicht, was man da machen muß." Auf einmal überkam Philipp das Gefühl, daß die Wiedervereinigung selbst für die Jüngeren nicht gar so einfach werden würde: 'Betriebsmechaniker', das klang nach 'Kombinat', nach schon im Vornherein überholter Ausbildung - Klempner, Schlosser, das hätte in seinen Augen eine klarere Zukunftsperspektive. Er begriff immerhin, daß nicht jedem wie ihm hier zum Feiern zumute war. In ihrem Dorf ließ er sie heraus; der Sonne entgegen lag hinter der Senke dieses Berlin.


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