K. Wyborny

Eine Episode aus dem Hundertjährigen Krieg

c 2002


Kapitel 1

Reisen, am Meer, ich lieg allein am Strand - nicht weit eine Frau in einem hellen Kleid, nein, eher schon eine ältere Dame, im Liegestuhl - dennoch ein kurzes, unklares Erkennen - dann erscheint die eigene Frau, eine Enddreißigerin - ich bade, was dann auch meine Frau tut - ich komm aus dem Wasser, die Frau im Liegestuhl hat sich erhoben - ich geh auf sie zu und es kommt zu einem kurzen Gespräch: "Das Wasser ist doch sehr kalt...", bemerkt sie. - "Ach, wenn man drin ist, ist man drin, dann geht’s ..." erwidere ich und schaue ihr ins Gesicht: "wie in der Liebe, da läufts dann auch immer irgendwie..." - Lachen ihrerseits, eine sonderbar frivole Begegnung, wobei mir unklar bleibt, wieso ich diese Bemerkung überhaupt gemacht habe, das mit dem drin ist drin und dem anzüglichen Unterton, zu dieser völlig Fremden, aber meine Frau badete noch und wie ich diese Dame so auf mich zuschreiten sah, ach, es waren kaum zwei Schritte und ich hab zwanzig gemacht, packte mich der Übermut. -- Am nächsten Tag war der Mietwagen nicht da; komisch, wenn eine Adresse nicht existiert, zu der man hinbestellt wird, Avenue de Kuweit, Nr. 2, ich las es noch einmal auf dem Voucher, den die Mietwagenfirma mir zugefaxt hatte, gleich gegenüber dem Bahnhof, wie ich feststellte (dem Bahnhof an dem Macke und Klee auf ihrer Tunesienreise in Hammamet ankamen); an der angegebenen Adresse, kein Zweifel, hier war es, befand sich leider nur eine Bank, worin man weder von dieser noch einer anderen Leihwagenfirma je gehört hatte; und wenn dann, wie sich erwies, auch die auf dem Voucher angegebene Telefonnummer nicht stimmt, fällt manchen gleich das Wort Kafka ein, wie überhaupt meine Schilderung bislang den Charakter des Traumhaften hat, es wirkt wie die Schilderung eines Traums, obwohl es sich damals keine Sekunde so angefühlt hatte, aber auch die nächste Szene wies etwas sonderbar Irreales auf, als ich nämlich am Strand per Handy mit der Mietwagenagentur telefonierte, in München, ich war völlig verblüfft, wie problemlos das von hier (während ich über das Mittelneer blickte) funktionierte, die mir diese falsche Adresse zugefaxt hatte, ich gab ihnen den Namen und die Faxnummer unseres Hotels, worauf sie versprachen zurückzurufen, was sie aber nicht taten, sie taten es erst nach einem erneuten Anruf, bei dem ich mich als Filmproduzent aufspielte, der das Auto zu Dreharbeiten benötigte, wozu ich etwas von fahrlässiger Täuschung, Schadensersatz und direkten Betrug grummelte ... und meine Frau Zeuge dieser zivilisatorischen Effizienz, mit der man am Ende zu einem Auto kommt, obwohl es nicht einmal eine Adresse gibt, bei der man es abholen kann: bald rief München nämlich mit der Nachricht zurück, morgen würde man den Wagen im Hotel anliefern, heute gings leider nicht mehr, es täte ihnen leid, dafür dürfe ich ihn einen Tag länger behalten; und genau das wollte ich eigentlich, ich hatte nämlich einen Fehler bei der Buchung gemacht und den Wagen aus Versehen einen Tag zu früh bestellt. Wie ein Glückspilz kam ich mir plötzlich vor, an diesem kraftvollen blauen Tag, wenngleich er so kafkaesk begonnen hatte. Insofern war alles prima - dann badete ich, in meiner Unterhose, was meine Frau die Stirn runzeln ließ, aber ich hatte die Badehose nun einmal nicht dabei, es war sehr windig und das Wasser in seiner kargen Bläue ohnehin ein wenig zu kühl, keiner außer uns badete, nur deshalb war es tags zuvor zum erwähnten Dialog mit jener Dame gekommen - ich schreite also in meiner Calvin Klein Unterhose ins Wasser, was mir, meine Frau ist da anders, nicht das geringste ausmachte, ich halte mich da an Robert Graves, der sich, nachdem er die Schlammschlachten des ersten Weltkriegs überlebt hatte, jederzeit das Recht zubilligte, an jedem Wegesrand bei Bedarf pinkeln zu dürfen, und der im Gegenteil all diejenigen für obszön hielt, die sich nach so einem Krieg darüber aufregten. Im übrigen beobachtet keiner einen dicken alten, halbkahlen Mann, der ins Wasser geht; und wenn schon, wird nur darüber gelacht, meinetwegen auch über die Unterhose und daß sie von Calvin Klein ist, mich schert das nicht. -- Um das folgende verständlich zu machen, vor allem das Dramatische daran, zunächst aber ein Exkurs über Zähne, der auch nicht ganz uninteressant ist. Also ich bin von Beruf Professor, das Fach tut nichts zur Sache, es ist jedenfalls nicht so was Elendes wie die Ingenieurswissenschaften, wo man den Leuten zwar zu einem gewissen Status verhilft, der sie heiratsfähig macht, was aber leider bedeutet, daß sie Häuser bauen müssen, für ihre Frauen und Kinder, inklusive kompliziertester Hypotheken, Abschreibungen und Scheidungen, eine grauenhafte, in diversen Tretmühlen, die man zu treiben hat, sich abspielende Existenz, trotz scheinbaren Erfolgs jeder ein einsam zugrunde gehender Samson, dessen Leiden indes niemand einer Geschichte für wert hält, denn es spielt sich millionenfach ab, und gilt paradoxerweise den meisten, die nicht in der Haut des Betreffenden stecken, für beneidenswert und Glück, es sei denn so ein Typ knallt durch und bringt, zum Augleich für jahrelang erduldete, in Stumpfheit erlittene Stummheit, gleich seine ganze Familie um - nein ich unterrichte arme Schlucker, die chancenlos im Berufsleben sind, und ohne Chance, auf diese Art unglücklich zu werden; Taxifahrer, zukünftige Rauschgiftsüchtige gehören dazu und einige meiner Studenten kann man an deutschen Hauptbahnhöfen besichtigen - in Momenten von Größenwahn halte ich 80 Prozent der dort versammelten Penner für ehemalige Stundenten von mir. Aber ich habe schlechte Zähne, man wagt kaum drüber zu sprechen, ein wahnsinniges Tabu, meine Frau hat es früh gemerkt, sie hat meinen Mundgeruch bemerkt und meine Schwäche ausgenutzt; nein sie war nicht meine Studentin, wie Sie vielleicht denken, sie war Assistentin eines Kollegen, ich gebe mich nie mit meinen Studentinnen ab - Frauen zählen für mich erst ab zweiunddreißig. Gut, ich bade also, oder besser gesagt, versuche zu baden, ich gehe hinein ins Wasser, es ist wirklich sehr kalt, aber wenn man ein bißchen dick ist, spürt man das weniger als die Schlanken, nun ein weiterer Schritt, und hinein in die Wellen, herrliches kaltes Naß, ja ich bade, beginne zu baden, doch plötzlich, wie es so kommt, ist -- mein Gebiß nicht mehr in meinem Mund, es ist einfach daraus verschwunden, ja es ist weg und der Oberkiefer auf einmal in entsetzlicher Weise nackt - ich tauche, tauche ein zweites Mal, einmal seh ich es kurz rosa leuchten, aber das Meer ist kräftig, es ist das Mittelmeer, eigentlich zwar nicht grade das, was man ein rauhes Meer nennt, für unschuldige Zeitgenossen von überwältigender Blauheit, aber für mich ist es an diesem Tag rauh genug, die Wellen wirbeln den Sand auf, wodurch schon in zehn Zentimeter Tiefe nichts mehr zu sehen ist -- ich tauche ein weiteres Mal, aber es gibt nichts zu sehen, mir dringt nur Wasser in die Nase, wobei ich merke, daß ich inzwischen zwanzig Meter abgetrieben bin, es gibt also eine kräftig südwärts drückende oder ziehende Strömung, das Gebiß zu finden ist hoffnungslos. Daher zurück zu meiner Frau, Waltraud; voller Scham, ein Tabu, furchtbar so ein Mund ohne Zähne im Oberkiefer, aber in so was ist sie großartig, schon mein Gebiß feierte sie als Fortschritt, weil der Mundgeruch verschwand, auch die jetzt fehlende Prothese vermag nicht, sie zu erschüttern, mehr setzen ihr die Bettler zu, diese pathetischen Handlungsreisenden hier an den Stränden, die Eingeborenen, die irgendwelche vollkommen sinnlosen Geschäfte machen wollen, und zwar mit äußerstem Aufwand, den Frauen kriecht es ans Herz, als Mann ist man da dumpfer und stumpfer, man klassifiziert, ordnet ein: es gibt offenbar sechs Typen, jeder mit jeweils der gleichen Masche, nicht grade Intelligenzbestien, könnten nicht mal als Studenten von mir durchgehen, aber phantasievoll, man kann es genießen; nicht so die Frauen. Sie sind erschüttert. Nicht hingegen von dem Verlust eines Gebisses, was für mich einer Katastrophe gleichkommt, das ist für sie wiederum ein Klacks… Gleich sagt sie, ich solle meinen Zahnarzt anrufen, vielleicht könnte er mir einen Ratschlag geben, vielleicht gäbe es Standard-Ersatzprothesen, auch hier in Tunesien, man ging hin, bekam eine verpaßt, hat drei Wochen Ruhe, und in Deutschland würde dann was Richtiges gemacht. Ich rufe also meinen Zahnarzt an, es fällt mir nicht leicht zu sprechen, es ist sogar sehr schwer, das s will nicht, das b nicht, das v und das w schon gar nicht, nur d, e und a gehen leicht und versuchen Sie mal, Ihrem Zahnarzt mit de da da de da was zu erklären, ich versuchs trotzdem, und O Wunder, die Kommunikation funktioniert prächtig, nicht nur im technischen Sinne, vom Handy zum Festnetz, nein, auch von Mensch zu Mensch, und nach einem ersten Auflachen sagt er gleich, alles im Grunde kein Problem, er würde mir ein neues Gebiß machen, größer, besser, schöner als das alte, sobald ich in Hamburg bin, und so traurig mein Fall auch wäre - es würde mir wahrscheinlich gründlich den Urlaub vermasseln -, in seiner Traurigkeit sei er nicht einzig, er hätte z.B. einen Kollegen auf Amrum, der würde sommers von verloren gegangenen Prothesen geradezu leben, aber es hätte keinen Sinn, hier in Tunesien zum Arzt gehen, selbst ein Provisorium wär eine dafür zu komplizierte Sache, nicht daß sie das in Tunesien nicht auch hinbekämen, das wolle er gar nicht sagen, grade die dritte Welt hätte da beträchtliche Fortschritte gemacht, doch danach müßte er hier in Deutschland wieder von vorn anfangen, und er wünsche mir noch einen schönen Urlaub. Mühsam versuche ich, das meiner Frau zu erklären, mit den mir zur Verfügung stehenden Lauten, und da fällt mir ein, das Gebiß könnte ja inzwischen an den Strand gespült sein -- also lauf ich zum Strand und gehe an ihm auf und ab, suche nach dem angespülten Gebiß, wegen der Strömung suche ich bald weiter im Süden, wobei ich Angst habe, daß es schon angespült sein und daß irgendwer es gefunden haben könnte, um damit zu verschwinden: gestern z.B. hatte ich meine Badehose unter eins dieser strohgedeckten Stranddächer, sie sehen ja sehr pittoresk aus, zum Trocknen gehängt und sie dann vergessen, heut morgen war sie verschwunden, ein erstes von Pech sprechendes Signal, jetzt erkenn ichs und werde immer unruhiger, schaue immer wieder aufs Wasser, wobei ich bei jeder heranrollenden Welle - stark sind sie nicht, kaum einen Meter hoch, aber schon das macht sie undurchsichtig, vollkommen undurchsichtig - erwarte, daß etwas herausgespült wird -- und sehe daß auch meine Frau nun am Strand herumsucht, ich empfinde Dankbarkeit für meine Frau, wir streichen nun beide am Ufer des Mittelmeeres auf und ab, und blicken immer wieder aufs Meer, was mich bald mit überwältigender Macht an eine Szene aus Melvilles Encantandas erinnert, wo eine gewisse Hunilla, nach erlittenem Schiffbruch auf einer der Galapagos-Inseln, mit einigen Hunden, die sich unterdes munter fortpflanzten (sie mußte dort auch eigenhändig ihren Mann begraben), nach Jahren plötzlich gerettet wird, weshalb sie ihre Hunde zurücklassen muß, keiner füttert auch noch zwanzig Hunde auf so einem Schiff durch, wenn man einen Menschen rettet - und als dann das Boot mit Hunilla in See sticht, rennen die Hunden, nicht fähig zu glauben, daß es mit ihrer Herrin von der Insel verschwinden wird, an der Küste in Panik auf und ab, das wird unglaublich schön von Melville beschrieben, in unglaublich druckvollem Rhythmus, und ich habe es von Uwe Nettelbeck so vortrefflich übersetzt gesehen*, daß man wieder an die Zukunft der deutschen Sprache glauben möchte -- und nun starre ich selber aufs Meer, aber statt nach einer entfahrenden, launischen Herrin nach meinem aus ebenso unbegreifbaren Gründen entschwundenen Gebiß, und versuche es ebenso verzweifelt dort draußen zu entdecken wie Hunillas Hunde ihre Herrin, so daß das Gebiß durch die schiere Tatsache seines Abhandenkommens gewissermaßen die Herrschaft über mich übernommen hat - aber irgendwann geben wir beide auf, erst natürlich meine Frau, doch nach zwei Stunden auch ich, in einem Zustand desorientierter Deprimiertheit, worin ich nur ein paar Scherben gefunden habe, möglicherweise antiken Ursprungs, der derjenigen dieser Hunde jener Hunilla ein wenig gleichkommen könnte. Gewiß, ich weiß, Ludwig der 14. hatte schon mit 35 keine Zähne mehr, da bin ich mit meinen sechzig besser dran. Wenn der sein Gebiß beim Baden verloren hätte, oder ein römischer Kaiser, sagen wir Commodus, dann wär hier am Strand aber was losgewesen, schon Augstein (nicht Augustinus) hätte hier eine große Nummer abgezogen, Hunderte hätten es suchen müssen, jeder einzelne seiner Journalisten mit äußerster investigativer Intelligenz: sie würden das Meer einzäunen, jede Strömung unterbinden, sowohl die drückenden als auch die ziehenden, jeden Fingerbreit Boden absuchen, und wehe, es wird nicht gefunden oder irgendwer lacht, das ist das Privileg absoluter Herrschaft, nicht daß ich dem nachtrauerte, aber am Ende hätt es sich angefunden, nach spätestens einer Woche, das liegt bei mir natürlich nicht drin. -- Im Zimmer ein Blick vor dem Spiegel, grauenhaft, wie sich der Mund ohne Zahnwerk im Oberkiefer faltet, wie die Oberlippe zum Teil von etwas Tintenfischartigen wird, ein sinnloser ungestalter, ungestalteter Lappen, der - häßlich ist, wie alles Formlose von Häßlichkeit spricht, schon vorher war ich, wenn man so will häßlich, nur meine Frau hielt es mit mir aus, und zwar nicht weil sie an mir einen Narren gefressen hatte, sondern wegen dieser sonderbaren Frauenschlauheit, aus der man nicht schlau wird.

Zum Abendessen entsetzliche Eßversuche, gestern hatte man uns zu einem anderen Paar gesetzt, mit dem mußten wir abends nun immer sitzen, was schon mal lästig war, sie kam aus den sogenannten neuen Bundesländern, nie leichte Gesprächspartner, noch unter Dreißig, und er offenbar Tunesier, ein gut aussehender junger Mann, am ersten Abend bot er meiner Frau eine Zigarette an, eine tunesische Marke, die Mars hieß, ich dachte sofort: ein Gigolo, während meine Frau etwas von romantischer Ehe flüsterte; der erste Abend ging ja noch, aber nun der zweite: ich mochte mit meinen Zähnen nicht sprechen, was bald so beklemmend wurde, sie waren grade in Tunis gewesen und wollten ganz gern erzählen, offenbar richtige Plaudertaschen, der Mann trug im linken Ohr sogar einen kleinen goldenen Ring, daß wir fortan versuchten, immer zu anderen Zeiten zu essen. In anderer Form waren wir so einer Beklemmung leider schon gestern begegnet, gleich nach dem ersten Abendessen, von dessen Qualität wir noch begeistert waren, auf dem Weg in unserer Zimmer durch den prachtvollen Garten: als wir uns nämlich noch einen Pfefferminztee bestellten, kam eine Touristin, die sich ihr Essen auf dem Tablett mitgenommen hatte, an den Nebentisch, wo ich sie bald - der Tee war leider sauschlecht, ich hatte mir eine frischere Qualität erwartet - jovial begrüßte, eine dralle, braungebrannte ziemlich große Fünfzigjährige, die so aussah, als hätte sie mal zumindest milden Kraftsport betrieben: "Sehr schön hier..." - "Ja ... eigentlich ja..." - "Sie sehen ja schön braun aus, sind Sie schon lange hier?" - "Ja, seit Januar..." - "Ach, Sie verbringen den ganzen Winter hier, darf ich fragen wie viel das kostet?" - Darauf gab sie keine Antwort, sondern fragte stattdessen: "Sind Sie auch in Block 5?" - "Wieso? ... Ach ja, wir haben ein Zimmer mit einer Fünfhunderter Nummer..." - "Ansonsten gibt es nur noch Block 6 und 8, der Rest des Hotels wird renoviert. Deshalb ist es hier so günstig..." - "Ach, und gibt es auch Zimmer mit Meerblick? Von uns aus kann man das Meer nämlich nicht sehen. Unsere Aussicht ist nicht besonders...", wobei mir meine Frau widersprach, ihr sagte nämlich grade das etwas Beschränkte daran zu, aber vor allem taten es die beiden uralten Palmen, darin sich der Wind auch bei nur geringer Stärke so geräuschvoll brach, daß man sich im Zimmer richtig geborgen fühlte. - "Nur in Block 8..." - "Und finden Sie es hier schön?" - Gequält zuckte sie mit den Schultern. - "Der Strand ist doch herrlich, und erst mal der Garten...", führte ich ihr die uns umgebende Schönheit noch einmal vor Augen, denn der Garten hatte uns bei unserer Ankunft richtig erschlagen, eine prachtvolle orientalische, aufwendig gepflegte Angelegenheit, in der manche Baumstämme im Kunstlicht wie violette Säulen aussahen, hinter einem prächtigen mehrfach gestaffelten Portal voller raffiniert gemusterter Marmorfußböden, durch die wir nachts um zwei wie im Traum eingetreten waren, eskortiert von Linien weißer Blumen, eine dicht hinter der anderen, und schwarzdüsteren Büschen, die honigsüße Düfte verströmten, mit einem von geradezu Paradies sprechenden Gefühl, das auch an unserem ersten Morgen anhielt, als wir das Ganze nur mit angehaltenen Atem zu bestaunen wagten, und dazu noch direkt am Meer gelegen - dabei hatten wir, zu faul, uns genauer zu informieren, manchmal fällt man ja grade dann auf den Bauch, nur ein billiges last minute Ticket gelöst, bei dem man nicht einmal wußte, in welchem Hotel man landete. - "Ja, der Garten..." ging sie mit einigem Zögern auf meinen Vorschlag ein. - "Und das Essen ist doch auch ganz gut..." - "Ja , das Essen..." und dann kam sie einfach zu uns an den Tisch, auf diesen Moment hatte sie gewartet: "Aber haben Sie nicht gemerkt wie es im Eßsaal riecht? Haben Sie es nicht gerochen, das Essen, ich habe mich beschwert, daß hier so ein Geruch ist, wegen der Farbe, sie streichen das ganze Hotel, ich kann den Geruch beim Essen einfach nicht ab, ich esse jetzt hier im Garten...", eine feste dralle Haut, ja eine Fünfzigerin, sehr resolut und kräftig, wie ich sie eigentlich mochte, sie kam aus Berlin, aber die Kellner wären nur nett, wurde sie noch fanatischer, wenn man ihnen Trinkgeld gäbe, usw, usw, bald hielt ich dieses Gejammer für Hypochondrie, Lagerkoller gewissermaßen, wozu auch das mit dem "Block 5" paßte, eine offenbar nicht recht ausgelastete Frau, die sich die letzten zwei Monate ausschließlich mit sich selbst beschäftigt hatte, denn wir hatten beide nichts gerochen (weder ich noch meine Frau, und meine Frau verfügt über eine sehr, sehr feine Nase), immerhin gab sie die Hälfte ihres Hühnerschenkels einer sich anschmeichelnden mageren Katze: "Mein Liebling", sagte sie zugleich zu uns, während wir uns verabschiedeten. Wie gesagt, das war gestern, heute Morgen hatte jedoch auch meine Frau die Farbe gerochen, und jetzt am Abend roch ich sie leider ebenfalls, auch das trübte die Stimmung, zusätzlich zum erfolgten Verlust meiner Zähne - am besten ging, ich komme jetzt wieder aufs Essen zurück, schließlich gekochter Fisch mit Reis, ich werde abnehmen; ... -- am nächsten Morgen noch einmal ausgedehnte Suche am Strand, vor dem Frühstück, aber wieder finde ich nur einige Tonscherben, wie alt mögen sie sein, die ich aufsammele, zwei dreimal werf ich eine ins Wasser, um zu sehn, wie und wo sie an Land gespült werden, das wurden sie aber gar nicht, sie wurden nur weiter ins Meer gezogen, und weiter draußen schlagen die Wellen immer noch so heftig, daß man vom Boden nichts sehen kann, sehr komisch so ein langer, sehr früher Morgenspaziergang am Strand, wenn man dabei nur sein Gebiß sucht, einmal kam ein Reiter vorbei, der mir einen Kamelritt anbot und natürlich zwei, drei Rentner. -- Zum Frühstück reichlich Rührei, auch das ging immerhin, aber keine Früchte, so eine Frucht kann erstaunlich widerspenstig sein, und meine Frau wurde jetzt richtig empfindlich gegen den Farbgeruch, Eintrübungen des Wohlempfindens also allerorten, was mich wiederum empfindlicher machte, als ich von Natur aus eigentlich bin - ohne diese dralle Berlinerin, von der ich, als sie so braungebrannt am Nebentisch saß, im Geheimen eine Sekunde gedacht hatte, daß ich sie nicht von der Bettkante stoßen würde (allerdings nur bis sie uns von der Farbe erzählte), hätten wir vielleicht gar nichts bemerkt -, nein, nicht einmal getoasteter Toast ging, aber um zehn bekamen wir das Auto, statt des avisierten Fiat Uno allerdings ein dunkelgrauer Peugeot 106, was mir nur recht war, denn er erinnerte mich an meinen Ford Fiesta - ja ich fahre einen Ford Fiesta, auch wenn meine Kollegen mit ihren Saabs und Volvos darüber lachen, na wenn schon, ich hab dieses Auto einst als Mietwagen liebgewonnen, als solcher war er immer sehr zuverlässig und preiswert und wenn man allein fährt erstaunlich geräumig. Im übrigen benutze ich die 5-türige Dieselversion mit Glasdach, die auf dem Gebrauchtwagenmarkt nicht leicht zu bekommen ist, schwerer jedenfalls als ein Saab oder Volvo, und neu kauft man so ein Auto nicht, auch wenn er in seinem schlichten Schwarz sehr elegant aussieht, wobei ich die 5-Türigkeit eher lästig finde, weil das Auto, es ist ein 91-ger Modell, keine Zentralverriegelung hat, und man immer kompliziert die hinteren Türen von innen öffnen muß, wenn man nur mal kurz was auf den Rücksitz legen will. Ich meine mit drei Türen ist man als Einzelwesen weit besser bedient. Daß die Halterung des Reserverads rostet und die hinteren Kotflügel ebenso, spricht wiederum nicht grade für den Rostschutz der Fordwerke, irgend jemand hat da in den späten Achtziger Jahren gewaltig gepfuscht. Ich war jedenfalls froh, daß es ein Peugeot 106 war und kein Fiat Uno, vielleicht weil ich vor dem Fiesta einen Peugeot gefahren bin, allerdings eine größere Version, den 405 Break, die Kombiversion also, die mir in Prag gestohlen wurde, übrigens eine ganz unglaubhafte Geschichte, die mich in letzter Zeit immer mehr an eine "Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten" genannte kurze Erzählung Kleists erinnert, worin unter anderem mitgeteilt wird, daß am Sachsener Königstein einmal ein mehrere Tausend Kubikfuß messender riesiger Felsblock runtergefallen sei, und durch den Druck der Luft, die er im Fallen verdrängte, einen 60 Fuß langen und 30 Fuß breiten mit Holz beladenen Elbkahn auf Land gesetzt hatte, obwohl der Stein nicht unmittelbar in die Elbe gefallen war sondern nur auf eine sandige Fläche daneben. In nicht weniger unwahrscheinlicher Art ging mein roter Peugeot 405 in Prag verloren: eines Morgens war er plötzlich aus der Parklücke, worin ich ihn abends zuvor sorgfältig geparkt hatte, kein Zentimeter Luft zwischen den Stoßstangen, verschwunden, ohne daß jemand sagen konnte, wo genau nun wieder so ein Fels herabgefallen war oder auf welche wie beschaffene Fläche, und da saß ich dann in Prag mit meinem Fahrrad, das ich auf dem Dach des Peugeots mitgenommen und aus Angst vor einem Fahrraddiebstahl in meinem Hotelzimmer angekettet hatte, und mußte im Elbtal zurückradeln, um wieder nach Deutschland zu kommen, denn im Zug zwischen Prag und Dresden durfte man kein Fahrrad mitnehmen; wenigstens ging es fast immer bergab, wobei ich den erwähnten Flecken Königstein interessanterweise bald sogar passierte, ohne daß es mir auffiel, damals kannte ich diese kurze Erzählung Kleists nämlich noch nicht, ich hatte sie zumindest nicht mehr präsent, aber das ist eine ganz andere Geschichte, und nur insofern interessant, als sie organisch in den Kauf meines Ford Fiesta mündete, an den mich dieser nun endlich angelieferte, schon ziemlich klapprige, seine Lenkung zog immer ein wenig nach links und die Bremsen waren nur la la la, Peugeot 106 erinnerte. Damit fuhren wir am gleichen Tag ein wenig gen Norden, zum Testen sozusagen, aber erst kaufte ich mir noch ein Badehose, vielleicht ergab sich ja unterwegs eine Gelegenheit zum Baden, es war nämlich sehr warm, leider gab es keine in meiner Größe, XL ist hier das äußerste Maß aller Dinge - "Mußt ausprobieren, ist besser!" sagte eine Verkäuferin, die Tunesier sind gewöhnlich offenbar schlanker, und die Dicken trauen sich nichts ins Wasser. -- Mit dieser Badehose im Peugeot also nach Norden, erst nach Nabeul, wo ich im Museum ein Mosaik mit der Schindung des Marsyas abfilmen wollte, eins meiner Lieblingsmotive, über das ich mich in dieser Erzählung trotzdem nicht weiter auslassen will, doch das Museum wurde grade renoviert, ich gab einem Arbeiter zehn Dinar, damit er uns aufs Gelände ließ, und bald standen wir auch vor einem Mosaik, leider nicht dem gesuchten, und ins eigentliche Museum ließ er uns nicht, wobei er uns anbot, um sieben wiederkommen, dann wär er allein, dann würde es gehen, was meine Frau freundlichst ablehnte, und so setzten wir unseren Ausflug Richtung Norden fort. In den Orten, die wir passierten, saßen ausschließlich Männer in den Cafés, im jeweiligen Zentrum gleich in dunkel beanzugten Horden, was meine Frau bedrückend fand, und am Ende so eines Bedrücktheit ausstrahlenden Ortes meinte ich in einer überraschend sich öffnenden Brackwasserlagune, die fortan kilometerlang parallel zur Küste führte, hinter einer Häuserlücke einen Vogeltyp zu erkennen, den ich aus dem tieferen Afrika in Erinnerung hatte, dort waren sie für mich Symbole von unversehrter Natur gewesen, sehr schwer zu erreichen, während hier die Lagune bloß als Abwasserareal einer heruntergekommenen Stadt, ich meine sie hieß Korda, diente, und in der Tat: es waren Flamingos. Sehr seltsam, ausgerechnet hier über sie zu stolpern, inmitten übelsten, stinkenden, primitiven, semiurbanen Abfalls, wo uns, während wir einigen Müll durchstiegen, um ihnen näher zu kommen - meine Frau kannte Flamingos bislang allein aus dem Fernsehen -, gleich ganze Mückenherden überfielen und ich in vierzig Sekunden sieben dieser Moskitos tötete, mit sieben Streichen, ohne ein einziges mal gestochen zu werden, eine Heldentat, würde ich sagen, die ich freilich allein dem Unverstand dieser Moskitohorde verdanke. Die Moskitos im Herzen Afrikas waren schlauer. Wunder über Wunder also an jenem Flamingo-See, an dessen nördlichen Ende man dann in jedem Ort Möbel verkaufte, in jedem Türeingang standen plötzlich Möbel, die fraglos auf Käufer warteten, alle mehr oder weniger gleichen Typs, die manchmal von ernst sich gebenden Männern, auch von ihnen viele in dunklen Anzügen, abgestaubt wurden. Einmal sahen wir auch Hunderte von Mädchen in sauberen, uniformartig identischen dunkelblauen sehr einfachen Kleidern, sie erinnerten ein wenig an die Kittel weiblicher amerikanischer Strafgefangener, die es sich in den Straßengräben wohl ergehen ließen, dort lagen sie, man könnte fast sagen, übereinandergestapelt und sonnten sich, was in seiner Wahrhaftigkeit ebenfalls etwas vollkommen Unwahrscheinliches darstellte, auch wie sich dann und wann zwei oder drei davon absonderten, und sich getrennt von den übrigen an einen Baum am Rand des Straßengrabens lehnten - bis man erkannte, daß daneben eine Textilfabrik lag und daß es sich bloß um die Mittagspause handelte, alles also Begebenheiten ganz nach dem Geschmack von Kleists sonderbarer kurzer Erzählung, wenn sie auch am Ende doch alle durch ein rationales Muster erklärbar wurden, aber das würde sich, und damit greife ich schon etwas voraus, bald ändern. In Kélibia philosophierte ich aber noch ganz harmlos unbeschwert darüber, ob ich in meinem Zustand Pommes frites essen könnte, Langustinos gingen jedenfalls nicht, die hatte meine Frau bestellt, im Café le Goeland, direkt am Meer, wo wir zwei tunesische Jungs beim Spielen am Meer beobachteten, der eine spielte den Souveränen, der andere den Ahnungslosen, das war sehr schön, und auch daß ich die Pommes frites schließlich tatsächlich essen konnte, irgendwann bekam ich den Trick heraus, wie es mit bloßem Gaumendruck zu bewerkstelligen war, ohne daß man dabei blutete, jetzt könnte ich ein Buch darüber schreiben, und ich sehe überhaupt schon wie diese Erzählung künftigen Generationen als Reiseführer dienen wird, ganz wie wir jetzt Mackes und Klees Spuren verfolgen. -- Ja, meine Frau bestellte Langustinos und bekam drei Stück mit einer Beilage, das sah ein wenig nach Nepp aus, aber offenbar gab es hier eine dramatische Langustinoknappheit, dennoch ein recht schöner Ort am Meer (in der Ferne wie eine dicke schwimmende Möwe ein ... Fischerboot?), der mich fast vergessen ließ, daß ich das Meer nicht mehr liebe, unterhalb einer, wie es heißt, von den Byzantinern errichteten Festung, die ihr letzter Rückzugspunkt bei der arabischen Invasion geworden war. Nach dem Essen fuhren wir hinauf, aber wir waren nicht so sehr aufs Byzantinische versessen, daß wir noch hundert Meter zu Fuß gehen wollten, daher wendeten wir am Parkplatz und fuhren zurück nach Hammamet. Dort badete meine Frau noch mal; angetan mit meiner neuen Badehose, die mir, wie vorhersehbar, nicht paßte, sie war zu eng, schloß ich mich ihr an, meiner fehlenden Zähne wegen naturgemäß ohne viel Freude, und suchte dann am Strand noch eine Weile nach meinem Gebiß, vergebens, es war nicht zu finden - dann fragte ich den Bademeister, ob er meine Badehose gesehen hätte, morgens hatte ich schon vergeblich den Kellner gefragt, aber der Bademeister, er hatte sie, für fünf Dinar Trinkgeld gab er sie mir zurück. Eine Weile überlegte ich, inwiefern ich ihn fragen könnte, ob er auch mein Gebiß gefunden hätte, aber ich traute mich nicht, einerseits reichte mein Französisch dazu nicht, andererseits hätte ich mich auf Deutsch noch weniger getraut es auszusprechen. Es klang grauenhaft, einem Bademeister einen Satz wie den folgenden zu sagen: "Hören Sie mal, mein Guter, ich habe beim Schwimmen mein Gebiß verloren, haben Sie in den letzten Tagen was gefunden, was wie ein Gebiß aussieht. Nein? Na wenn Sie eins am Strand finden sollten, oder irgend jemand anders, ich geb Ihnen zwanzig Dinar Belohnung. Außerdem wär nett, wenn Sie das für sich behalten könnten..." - Abends stellte sich dann heraus, daß ich (leider erschienen bald auch unsere Tischgenossen, die wieder in Tunis gewesen waren, offenbar hatten sie in der Tourismusbranche zu tun, sie wohnte in Leipzig und hätte uns gern noch mehr von der Medina erzählt, sie konnte sich kaum zurückhalten, es brannte ihr richtig unter den Fingern, eine Sekunde dachte ich sogar, sie wollte uns vor irgendwas warnen, etwa vor der Cholera?) auch Hackklößchen und gestückelte Leber, meine Frau bestellte Wein, ohne viel Mühe herunterbekam.