K. Wyborny

7 TAGE EIFERSUCHT

V.

AUS DEM SCHLAUCHBOOT DER EINNERUNG


C. EIFERSUCHT!

 

"So nun kommt der zweite Teil des Abends", fuhr Carl an jenem Abend im Künstlerhaus fort: "Er heißt 'Famos gewaschen' und besteht aus einen Werbefilm, den ich neulich auf dem Flohmarkt gefunden hab: er wirbt für ein Waschmittel aus den fünfziger Jahren, wobei seine Beziehung zum Thema Eifersucht so klar wird, daß man es nicht kommentieren muß, statt dessen kann ich die Zeit nutzen, um noch was für den nächsten Teil aufzubauen."

Für Carl lag die Pointe darin, daß man dieses 'FAMOS' genannte Waschmittel - im Film verfolgte man nun dessen Herstellung - einst in Düsseldorf produzierte und daß es schrecklich "modern" tat, denn es wurde mit dem Brustton der Überzeugung verkündet, wie man richtig zu waschen hat. Dabei muteten diese Bilder von Frauen an ihren Waschbottichen und wie sie darin mit jenem famosen Waschmittel wuschen, heute geradezu vorsintflutlich an - offenbar gab es 1953 in Deutschland kaum Waschmaschinen -, was dem Fortschrittspathos, worin sich, um sein Produkt zu preisen, der Filmkommentar wiegte (als neuer, besser, reinigender als alle Waschmittel zuvor) den Charakter des Komisch-Grotesken verlieh. Wobei Carl zugleich das vage Gefühl nicht verließ, es war mehr jedenfalls als bloß eine Hoffnung, dieser Kunst aus Düsseldorf würde es bald ebenso ergehen. Denn im Grunde war er gar nicht eifersüchtig auf seine malenden Künstlerkollegen: eigentlich verhielt er sich ganz objektiv, war er ganz Weltgeist! Im Geheimen sah er indes noch etwas anderes in diesem Film, erinnerte er ihn doch direkt an seine Tante und seine Mutter, und wie sie früher an ihren Waschbottichen standen, jede Woche und stundenlang. Ihm war nämlich, als müsse er das, wovon er gleich sprechen sollte, solide in der Kindheit verankern, sonst wäre ihm dieser Abend haltlos vorgekommen. Und Haltlosigkeit hatte er in den letzten Tagen fürchten gelernt.

Zuerst pumpte er jedoch das Schlauchboot auf, dessen Erscheinung diesen Abend bestimmen würde, seit dem Abend mit Lilly - Barcelona, Madrid, Mailand, Saloniki! - verband er damit wieder süße Erinnerung. Doch warum veranstaltete er überhaupt diese "Show", als die dieses Ereignis angekündigt war, warum hatte er dafür, er bewegte sich doch im Kunstbereich, einen Text geschrieben? Meinte er, alles, was ihm in letzter Zeit zugestoßen war, würde sonst einfach verschwinden? Bedauerte er das? Dachte er, davon ließe sich nur etwas aufbewahren, wenn man es darstellte? Nicht zuletzt, weil das Leben und wie es sich ereignet, in seinem Kern fragwürdig, unbestimmt ist? Doch auch diese Show würde man bald vergessen: er hatte nicht einmal eine Videoaufzeichnung veranlaßt. Nein, auf das Vergessen kam es nicht an, er würde es nicht vergessen. Aber Lillys Geschichte hatte ihn wieder ins Leben gezerrt; das "Knacksen", das er verspürte, war, selbst wenn es nur auf Einbildung beruhte, der Beginn einer Genesung. Vielleicht versuchte er nur herauszufinden, wieso ihre im Grunde doch sehr traurige Geschichte so viel weniger traurig war als seine eigene bisher eigentlich noch gar nicht so traurige. Und so fing er statt weiter zu malen, plötzlich damit an, einen Text für seine "Show" zu schreiben. Mag sein, weil er, ohne es zu wissen, zu denen gehörte, welche nur die Fügung unseres Lebens in eine ausdrucktragende ästhetische Form als wirklich empfinden, seine Verwandlung in eine ästhetische Geste. Und auf verrückte Weise war die Suche von Lillys Ex-Mann so eine ästhetische Geste gewesen, die der dahinter liegenden Traurigkeit den Biß nahm, trotz ihrer unbezweifelbar niederschmetternden Wirklichkeit. Ja, auch er, Carl, wollte seine Verwirrtheit in so eine Geste verwandeln, das hatte er sich überlegt.

Es gab indes noch ein weiteres, ein viel direkteres Motiv: Er hoffte, durch diese Show Roberta wiedererobern zu können. So seltsam es klang, erwartete er wirklich, Roberta würde die Fähigkeit bewundern, in der er all das, was sie in letzter Zeit erlebt hatten, gemeinsam erlebt, in eine Form brachte, und sich nicht scheute, sie der Welt mitzuteilen: das war modern. Und zudem originell - er kannte nichts, was dem, was er hier veranstaltete, auch nur entfernt ähnelte. Er hatte wirklich keine Ahnung von Frauen. Aber nach den mühsamen Antastversuchen bei der fruchtbaren Uta wollte er seine Roberta jetzt endlich zurückhaben. Und so stürzte er sich mutig in den letzten, in den eigentlichen Teil dieses Abends - alles davor war nur Aufwärmen gewesen, eine Übung, kaum mehr als die mechanische Anwendung ästhetischer Intelligenz, seiner und der des Publikums - jetzt, wo der Film zu Ende war, ging es in der Tat um die Wurst:

"OK, wir kommen also zum dritten Teil unserer 'EIFERSUCHT!'-Show" begann er, nach wie vor mit Pumpen beschäftigt und in einer Weise, als nähme er all das hier nicht weiter ernst: "Es gibt leider ein Problem mit der Luft hier im Boot, es hat nämlich ein kleines Leck ... Könntest du mal n bißchen weggehen..." unterbrach er sich - jemand hatte einen Teil seines Ensembles umgestoßen - allerdings gleich nervös: "Jetzt ist das Bild hier zerstört, wartet, ich muß es erst wieder aufbauen..." Froh, daß sich der Anfang noch einmal verzögerte, wandte er sich dabei plappernd einer anderen Zuschauerguppe zu: "Die Leinwände da und wie sie an der Wand stehen, sollen nämlich noch eine wichtige Rolle spielen - vielleicht könntet auch Ihr deshalb ein bißchen zurücktreten..." Dann stellte er, vorher pumpte er noch ein bißchen, als müsse er sich von Neuem aufladen - er sprach in ein von Roland geliehenes Mikrophon über einen kürzlich erworbenen Übungsverstärker (der flamencoliebende Jean hatte ihm ja im Ganz eröffnet, wie preiswert sie mittlerweile waren) - sein Ensemble erst einmal vor:

"Also - dieses Bild hier in der Ecke heißt 'Sieben Tage Eifersucht!' Man sieht, es besteht aus fünf solchen Dingern, die hintereinander an der Wand lehnen, insofern ist es gar kein Bild. Ich nenne es trotzdem so, weil es immerhin irgendwie an der Wand ist, jedenfalls noch einen Bezug dazu hat. Ich weiß leider nicht, wie man die Einzelteile nun nennen soll - hingen sie einzeln an der Wand, würden sie aussehen wie Bilder, insofern müßte man sie dann wohl auch als Bilder bezeichnen. Doch so hintereinander sind sie eigentlich nichts, und so nenne ich sie diesen Abend provisorisch einfach mal 'Dinger'. Aus dem Titel 'Sieben Tage Eifersucht!' läßt sich natürlich schließen, daß das irgendwie mit dem Titel dieser Show zu tun hat: Weil, wenn die Show 'Eifersucht' heißt und dieses Bild '7 Tage Eifersucht!', denkt man 'Eifersucht' und 'Eifersucht', das hängt irgendwie zusammen. Mag sein. Mag sein."

So eröffnete Carl diesen für ihn lebenswichtigen Teil. Denn, abgesehen vom Wunsch, sein Erleben in eine ästhetische Geste zu verwandeln, oder der Hoffnung, Roberta dadurch wiederzuerlangen, gab es noch einen Grund, warum er so sprach: Ich glaube, es ging ihm ums Sprechen selbst. Er hatte genug von dieser Sprachlosigkeit, mit der man sein eigenes Tun begleitet und sich die irrsinnigsten Sachen antat, ohne zu wissen, was eigentlich mit einem geschah. Er wollte - sich verständlich machen. Vielleicht erklärt das auch die Empfindlichkeit seiner Reaktion auf Roberta, als sich herausstellte, daß die interessanteren Passagen ihres an ihn gerichteten Briefes von Aragon abgeschrieben waren. Tief im Inneren erkannte er an seiner Kunst, sei es als Filmmacher oder nun auch als angehender Maler, den Ausdruck eines Mangels, dessen Kern aus dieser Sprachunfähigkeit bestand, mit der seine Familie ihn, jawohl: in die Welt entließ. Beim Lesen von Robertas Brief hatte er gehofft, jemand so Sprachfähigem begegnet zu sein, wie er selbst es gern gewesen wäre. Daß er jetzt von den Bildern, die, wie wir wissen, buchstäblich mit seinem Herzblut gemalt wurden, so achtlos als 'Dingern' redete, ganz als seien es vollkommen leb- und aussagelose Objekte, die kaum einen Namen verdienten, hing vielleicht ebenfalls damit zusammen, mit jener unverbindlichen dumpf-dinglichen Sprachlosigkeit, die sie für ihn letzten Endes doch ausstrahlten. Nun, sprachfähig oder nicht: an diesem Abend immerhin sprach er, und oh Wunder, manche seiner Zuhörer, viele davon wußten natürlich bereits recht genau, was sich zwischen ihm und Roberta abgespielt hatte, hörten und verstanden eine ganze Menge. Und so höre auch ich ihn auf seine eigentümliche Weise weitersprechen:

"Das Bild, das hier an der Wand lehnt, heißt 'Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom Teil 1'. Und dies Bild hier daneben, das genauso an der Wand lehnt, heißt 'Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom Teil 2'. Das erste besteht aus fünf von diesen hintereinander gestellten bemalten Dingern, und das zweite aus 7 Dingern hintereinander, eins davon ist jeweils das Deckblatt. Ihr seht: Die 'Dinger' sind überall."

"Dann dieses hier: es heißt 'Deutschland im Herbst' und besteht aus drei dieser hintereinander stehenden Dinger - man sieht, die Titel erinnern an die Titel momentan mehr oder weniger bekannter Filme, und irgendwie erinnert auch der Aufbau dieser Bilder an Film. Im Film sind Bilder ja ebenfalls gewissermaßen hintereinander gestapelt, sie kommen jedenfalls erst in der Projektion zum Vorschein. Deshalb stehen sie hier auch unter der Leinwand, wo der Film gerade lief. Dieses Bild", - er tat ein paar Schritte nach links, wo das hier im Künstlerhaus erst gemalte und dann eigenwillig zusammengestellte Ensemble mit der Stahlschiene aufgebaut war: "Dieses Bild hier erinnert dagegen mehr an einen Roman, auch wenn das vielleicht nicht so ohne weiteres verständlich ist. Die Arbeit an den vorigen, an diesen hintereinander gestellten Dingern, war nämlich wirklich wie beim Film: man stößt mit einer gewissen, einer maschinenhaften Gleichgültigkeit nach einem bestimmten Verfahren eine große Menge Bilder aus. Dagegen habe ich mir bei diesem Ensemble hier, wovon ich sagte, es ließe mich an einen Roman denken, echt Mühe gegeben. Wirklich wie bei einem Roman, oder so wie ich mir das vorstelle, ich hab ja noch keinen geschrieben. Er hat aber keinen Titel und besteht aus den Phasen eines Prozesses, der von einem Anfang bis hin zu einer fertigen Form führt; so wie auch unsere Biographie aus Phasen besteht, ausgehend von einem Anfang, wo wir noch nichts sind. Dieser Zustand sollte ursprünglich durch eine nur grundierte Leinwand ganz links in der Reihe symbolisiert werden (die hab ich aber weggelassen, weil man "nichts" eigentlich nicht zeigen sollte); nun seht ihr dieses unbemalte Bild dafür links um die Ecke, allerdings nur von hinten, also nur den Keilrahmen und die Art wie ich im Augenblick meine Leinwände mit dem Tacker spanne - von einem Anfang also, wo wir noch nichts sind, bis hin zu einer gerahmten Form, von der man drei an dieser Stahlschiene übereinandergestellt (das vierte hatte er, weil es so besser aussah, weggelassen) am rechten Ende dieses Roman-Bildes sieht: als ebenfalls wie am Fließband, wenn man so will, hergestelltes Endprodukt."

Carl atmete durch: "Dann aber gibt es natürlich noch die Komödie - die ist weder Bild noch Roman, die hab ich deshalb hier hinten ausgestellt, ein bißchen abseits, an einer Ecke, noch hinter der nur von hinten zu sehenden ganz unbemalten, allein ihr Format ausstellenden Leinwand. Diese Komödie, wie ich sie nenne, besteht aus vier bemalten Brettchen und heißt 'Anarchistische Junggesellin vor dem Betreten von Bürokratischer Parkanlage mit Springbrunnen'. Davon ist das erste Brett, hier schräg an die Wand gelehnt, die Heldin dieser Komödie, die anarchistische Junggesellin; die beiden flach übereinander auf der Erde liegenden bilden die bürokratische Parkanlage; und über das letzte, das sich zwischen der stehenden Anarchistischen Junggesellin und der bürokratischen Parkanlage befindet, müßte sie hinüberspringen, wenn sie in die Parkanlage wollte, deswegen auch Springbrunnen. Heute Nachmittag stand die Junggesellin noch auf diesem den Springbrunnen darstellenden Brettchen, als wollte sie es als Sprungbrett benutzten, aber das leuchtete mir plötzlich nicht mehr ein. Im übrigen seht Ihr, daß alle vier Brettchen nach dem gleichen Muster bemalt sind und sie sich nur in den Farben unterscheiden, und damit ähneln sie wirklich den Anarchisten, Bürokraten, Parkanlagen und Springbrunnen der wirklichen Welt!"

Nach dieser Anstrengung, bloße Beschreibung ist ja immer entsetzlich anstrengend, weil so gar kein rechtes Erleben darin ist, pumpte er wieder an dem Schlauchboot herum, um seinen Zuschauern, aber mehr noch sich selbst, ein Gefühl für wirkliche Körperlichkeit wiederzugeben. Es schien natürlich ein wenig riskant, Anarchisten und Bürokraten als nach dem gleichen Strickmuster hergestellt zu bezeichnen, und das, nachdem er gerade den Film 'Deutschland im Herbst' ansprach, worin die Anarchisten, von denen er ein paar als wirklich wahnsinnig Gewordene kannte, zu Heiligen verklärt wurden . Den Anwesenden schien es indes nicht besonders aufzufallen, und so fuhr er ähnlich verwegen fort:

"Dann dieses, was hinter Euch steht und eigentlich als einziges aussieht wie ein richtiges Bild: das ist überhaupt kein Bild, sondern es steht einfach nur dumm in der Gegend herum. Und zwar aus sentimentalen Gründen, es ist nämlich der eigentliche Grund dieser Show. Der Gedanke für diese Show entstand, nachdem mir dieses jetzt bloß dumm rumstehende Bild, ich habe es für die Show 'BLOND' in Hilkas Laden gemacht, danach so gut gefiel, daß ich gleich mehr in der Art machen wollte. Deshalb rief ich Boris an, ob er mir den Raum hier zum Malen gibt, zu Hause habe ich ja nur Teppichboden. Boris stimmte unter der Bedingung zu, daß ich nicht nur malte, sondern in diesem Raum auch eine Show mache. Eigentlich wollte ich hier in vierzehn Tagen zwölf Bilder malen, mit also zwei Ruhetagen, dann hab ich den Raum aber nur sieben Tage gekriegt, und da dachte ich: dann muß ich eben vorher anfangen - und so sind, schon zu Hause, diese filmartigen Bilder entstanden, auf meiner Maldecke; und als ich schließlich hier war, hatte ich mich irgendwie schon ausgemalt und keine rechte Kraft mehr, oder wie man das nennen soll - so wurden nur fünf halbwegs fertig, obwohl ich zehn Leinwände spannte, zwei davon sind sogar noch völlig unbemalt, sie sind nur grundiert und drei nur irgendwie angefangen, in einer frühen Arbeitsphase steckengeblieben. Das Ganze bildet nun aber in Verbindung mit dieser Stahlschiene dieses Bild hier, was ich eher einen Roman nannte."

"Nun könnt Ihr natürlich nun fragen: Wieso gerade diese Formate? Wieso sind die Bilder nicht größer? Warum sind sie nicht so groß wie die von den anderen Malern, die momentan malen? Der Grund ist ganz einfach: Ich hab diese Format gewählt, damit sie ins Schlauchboot passen. Das sogenannte Bild zum Beispiel, was hinter Euch steht, 'BLOND', es sieht ja eher wie der heutigen Zeit entstammend aus, gehört nicht zu dieser Ausstellung, weil es nicht ins Schlauchboot paßt - deshalb ist es kein Bild im Sinne des heutigen Abends. Ich kann es sogar beweisen..." - rief er, bevor er federnd zu 'BLOND' hinüberschritt, um die fast 2 mal 2 Meter große Leinwand zu ergreifen (ganz wie Roberta sich ihre großen Bilder beim Transport von Alidas durch den Hauptbahnhof in ihre neue Wohnung gegriffen haben mußte), die er dann vorsichtig aufs Schlauchboot legte: "Ihr seht, es paßt nicht hinein. Und wenn wir so ein Objekt hier so einfach drauflegen und es nicht hineingeht, können schlimme Sachen passieren, die nicht im Sinn der Idee dieser Show sind. Man kann diese bemalte Leinwand wohl mit dem Schlauchboot verbinden", - nun stellte er das Bild, da es horizontal nicht hineinpaßte, senkrecht auf - "aber Ihr seht, daß sie jetzt wie ein Segel aussieht, mit dem ich auf meinem Boot die sieben Weltmeere befahre. Das liegt aber nicht in den Intentionen dieser Show und entspricht so gar nicht dem Gemütszustand, worin ich mich befinde. In dem möchte ich nämlich alles in dieses Boot reinpacken, und nicht im mindesten die Welt und noch weniger die sieben Meere befahren... " Nach dieser Erläuterung, von der er hoffte, daß sie einleuchtete, brachte er das nun für sogar den Dümmsten erkenntlich zu groß geratene Objekt an seinen alten Platz zurück und erklärte: "Dieses Bild gehört also nicht zu unserer Show, alle anderen aber tun es, und jetzt könnt Ihr fragen: Warum so viele? Und warum gerade diese Zahl? Die Antwort ist: Weil sie alle gerade so in das Boot reinpassen, ich hoffe es jedenfalls. Mehr gehen nicht rein. Ich hab es allerdings noch nicht probiert, außerdem muß ich selbst reinpassen, auch ich gehöre schließlich zu dieser Show und damit in dieses Schlauchboot. Dann könnt Ihr natürlich weiter fragen: Warum überhaupt Bilder, warum nimmst du keine Ytong-Steine mit in dein Boot? Darüber habe ich lange nachgedacht. Dann bin ich draufgekommen, daß ich an den Bildern einfach gut finde, daß sie bunt sind, und die Ytong-Steine, so wie sie kommen, sind nicht bunt, und ich hatte keine Lust, Ytong-Steine zu bemalen."

Und nachdem er so auch die Bauarbeiten in Robertas neuer Wohnung und seine Weigerung, sich daran zu beteiligen, angesprochen und seine Haltung ganz ohne dialektischen Un- und Hintersinn ausgedrückt hatte, gelangte er - auf die einsam abseits stehenden 'Säulen des Hercules' ging er nicht ein - zu den weniger deskriptiven Teilen des Abends:

"Der Titel dieser Show heißt zwar 'EIFERSUCHT', aber eigentlich sollte er anders heißen, nämlich 'ALLES NICHTS', das war jedenfalls der Titel, den ich Boris vorschlug. Unter diesem Titel habe ich angefangen, den Text, den Ihr gerade hört, zu verfassen. Und damit wir das, es ist nämlich wichtig, nicht vergessen, werd ich diesen Titel jetzt auf das Boot schreiben. Ihr seht, das Schlauchboot hat schon von Fabrik aus einen Namen; es heißt 'ATLANTIC', wie deutlich darauf zu lesen ist." Niederkniend zog er einen schwarzen Filzstift aus der Brusttasche, mit dem er, in durch mehrmaliges Übermalen verdickten Buchstaben, nun vorsichtig das Wort 'ALLES' auf die äußere Bordwand schrieb, was er mit dem Wort 'NICHTS' an der Innenseite wiederholte, dann sagte er: "Wenn man das jetzt liest, heißt dieses Boot von außen 'ALLES ATLANTIC', von innen aber schlicht 'NICHTS'. - Wenn man genauer hinschaut, genau wie Ihr es jetzt tut, stellt sich aber heraus, daß es überhaupt kein Schlauchboot mehr ist, sondern eine Karte - und auf dieser Karte befindet sich ein Ort, der ALLES heißt, gleich neben dem Atlantic, und hier, an der anderen Seite ein Ort namens NICHTS. ALLES, das könnte zum Beispiel Amerika sein, und NICHTS vielleicht Europa, oder umgekehrt, vielleicht ändert sich das auch sekundenschnell, wer will das wissen - bei den schnellen Flugzeugen jetzt; damit ist man ja im Nu drüben, da kann schon mal passieren, daß man Europa und Amerika verwechselt, oder Liebe mit Haß, sie sind ja nur noch in unserem Bewußtsein getrennt, physisch gibt es da ja gar keine Trennung mehr." Leider gelang ihm wieder nicht, die Rede auf 'Die Säulen des Hercules' zu bringen; obwohl es gerade hier nicht besonders schwierig gewesen wäre: denn ganz wie dies nach ihnen benannte Bildpaar , das bei der Entwicklung seines Malens eine ähnlich erhebliche Rolle spielte wie jene Säulen einst für die Erkundung des großen Atlantik, standen sie bloß noch im gefälligen Abseits, war ihnen in der weitergeführten Welt nur noch eine abseitige, allenfalls gefällige Existenz beschieden.

"Schaut man jedoch weiter genau hin, noch genauer meine ich, merkt man, daß das Schlauchboot, eigentlich doch keine einfache Karte ist: Denn Karten, das kennt man, sind zweidimensional, hier handelt es sich aber um etwas Dreidimensionales, es kann sich daher nicht um eine Mercatorprojektion von unserem Globus handeln, aber auch um keine Zentralprojektion (wie vorhin bei der Projektion des Films) oder eine Lambertprojektion oder eine wie auch immer zustandegebrachte Mischprojektion unseres Erdballs auf die Ebene dieses Fußbodens, die ja alle bekanntlich zweidimensional sind - sondern es handelt sich um eine irgendwie kompliziertere Projektion, die Projektion des Erdballs nämlich auf ein Schlauchboot: insofern ist es so etwas wie eine Torusprojektion. Ein weiterer Unterschied zu einer normalen Landkarte besteht in dem, was im Schlauchboot passiert. Das verleiht ihm eine Art dritter Dimension, in der es ähnlich sonderbar zugeht, wie in der vierten Dimension unserer wirklichen Welt - und wenn Ihr das nicht glauben wollt, dann sagt mir bitte: wo befinden sich denn die Orte ALLES und NICHTS auf einer normalen Landkarte? - Also, und um es zusammenzufassen: irgendwie geht es bei dem, was Ihr hier vor Euch habt, ein bißchen anders zu als bei einer normalen Landkarte, aber wenn wir uns daran erinnern, daß sich die Worte ALLES und NICHTS in unserem Bewußtsein aufhalten, dann begreifen wir auch, worum es sich hier vielleicht handeln könnte: es handelt sich um nichts anderes als eine Landkarte unseres Bewußtseins, und darin finden wir ja mühelos die Kategorien des ALLES ODER NICHTS - ja: genau genommen spielt sich alles in unseren Leben zwischen genau diesen Worten ab. Aber nun werden wir dieses Schlauchboot unseres Bewußtseins mit Ereignissen füllen und sehen, was infolgedessen passiert." Carl wußte noch, wie sehr er sich im Filmseminar neulich mit dem Wort Zeitmaschine blamiert hatte: mittlerweile begriff er den Zustand, worin er sich da befand, nicht mehr als hochangestrengte gesegnete Geistesleistung, sondern er merkte, daß er ein wenig neben sich gestanden und gerade noch rechtzeitig wieder in die Welt zurückgefunden hatte; tatsächlich gelang ihm dies erst in den letzten Tagen, als er den Text für den heutigen Abend niederschrieb. Dementsprechend knapp ging er auf seine kurzzeitige Geistesverwirrung ein und behauptete: "Dieses Schlauchboot ist natürlich keine Zeitmaschine oder irgendein weitsichtiges Wesen, das einem bei der Kunstproduktion behilflich ist, es handelt sich selbstverständlich um ein ganz natürliches physisches Objekt. Seine Metamorphose zu einer Landkarte des Bewußtseins wird es trotzdem in üblen Gewässern segeln lassen. Und das alles unter der Flagge der Eifersucht. Zwar bleibt es dabei ein Schlauchboot, jederzeit, aber es ist zugleich eine Karte unseres Bewußtseins. Dieses Schlauchboot wird also den Atlantik unter der Flagge der Eifersucht besegeln - wobei es stürmisch und wild zugehen wird, denn in unserem Bewußtsein geht es ja ebenfalls stürmisch und wild zu, und zu irgendeinem Zeitpunkt, wenn es nämlich zu stürmisch werden sollte, werde ich diese grüne Decke neben das Schlauchboot legen, so daß es etwas Halt hat. Es ist eigentlich meine Maldecke, daher ist ihre eine Seite sehr dreckig, die andere aber, die Ihr jetzt seht, ist noch einigermaßen sauber. Diese Decke ist natürlich auch nicht einfach nur eine Decke sondern sie symbolisiert eine konventionelle Landkarte. Und dann, wenn es ganz kritisch wird, wird es einen Moment geben, wo Decke und Schlauchboot sich berühren, und in diesem Moment der Berührung von Schlauchboot und Decke werden wir uns daran erinnern, daß das Schlauchboot kein Schlauchboot ist, sondern eine Karte unseres Bewußtseins, und daß dieses dann fest in einer konventionellen Karte verankert ist. Dann, in diesem Moment, wird vielleicht so was wie ein elektrischer Funken fliegen - metaphysisch gesprochen erleben wir mit der Berührung von Schlauchboot und Decke nämlich die Kollision zweier Ideengebäude, von denen jedes in sich abgeschmackt ist. Durch die gegenseitige Berührung aber bekommen sie zumindest für die nächsten zwanzig Minuten eine elektrisierende Kraft, und es wird sich eine Art Metamorphose ereignen. Vielleicht aber auch nicht, ich kann das noch nicht sagen, wir müssen warten, bis wir soweit sind. Ich lege die Decke daher erst mal wieder zur Seite. Und dies hier, der Schlauch dieser Pumpe, ist, weil das damit Aufgepumpte ein Schlauchboot des Bewußtseins sein sollte, natürlich sowas, wie, wie heißt das noch mal, Bauchnabel, Gebärmutterschlauch oder Nabelschnur - ja Nabelschnur, denn wir brauchen natürlich Energie, um so eine Landkarte des Bewußtseins in ihrer Dreidimensionalität aufrecht zu erhalten, das geht nicht so ohne weiteres und von allein."

Er rhythmisierte seine Sätze immer wieder mit neuen Pumpanstrengungen, unter denen sich das Schlauchboot nun Zug um Zug mit Luft füllte, hielt aber, als es schließlich fast aufgeblasen war, plötzlich inne und erklärte: "Das ist natürlich, tut mir leid, alles eine Sackgasse, weil die Show ja, wie Ihr gelesen habt, gar nicht 'ALLES NICHTS' heißt, sondern sie heißt 'EIFERSUCHT!' - aber sie fing eben als 'ALLES NICHTS' an und ich kann Euch jetzt ja mal vorlesen, wie die Grundidee von 'ALLES NICHTS' aussah. Doch bevor ich das tue, fang ich schon mal an, die Zeit ist knapp, das Schlauchboot zu beladen." Damit schritt er zur Wand, wo er das erste "Ding" von 'Pasolini verfilmt 100 Tage von Sodom' ergriff, um es nun so hochzuhalten, daß das Bild für die ringsum verteilten Zuschauern gut sichtbar wurde, dann warf er es, mit einer Geste äußerster Achtlosigkeit, ins Schlauchboot. Diese Prozedur wiederholte er mit dem nächsten Bild der Serie und dann auch dem dritten - ein von Hand arbeitender, lachhaft langsamer Projektor, der bedächtig bewerkstelligte, was im Kino eine technische Apparatur, sowohl gedanken- als auch wohltuend mühelos, im Nähmaschinentempo zustandebrachte: einem Zuschauer nämlich erst etwas präsentieren und dies dann zur Wieder- oder Weiterverwendung in irgendeiner Struktur verschwinden lassen. In diesem Fall einem Schlauchboot, worin es einen sich aufbauenden Haufen von gerade Gesehenen vermehrt - am Ende sollte dieser Haufen aus all seinen hier ausgestellten Bildern bestehen; der hier im Laufe dieses Abends projizierte "Film" wurde also, anstatt (wie im Kino) einer Spule, von einem schlauchbootförmigen Eimer aufgefangen, der gewissermaßen unser Gedächtnis symbolisierte.

Nein, er wußte nicht, was in den nächsten Wochen geschehen würde, aber ebenso wenig wußte er, was er da eigentlich tat, als er jene hintereinander gestellten "Dinger", gelegentlich unterbrochen von weiterem Pumpen, emporhob und in sein Schlauchboot manchmal warf und dann wieder liebevoll legte - aber da deutete sich bereits an, daß er mit dem Malen aufhören würde, um es noch einmal mit Film zu versuchen. Und die Flagge der Eifersucht war nicht, wie er glaubte und gleich behaupten würde, die weiße Flagge der Vernunft, es war ganz schlicht die weiße Flagge der Kapitulation: er hatte vor diesen Malern und ihrer Kunst kapituliert und würde ihnen nicht mehr ins Gehege pfuschen, wenn er seine Roberta wiederbekam. Wohl hatte er es ihnen gezeigt - aber sie hatten es gar nicht wahrgenommen, und das war schon fast komisch. Er war tatsächlich auf famose Weise, wenn man so will: 'FAMOS' besiegt. Doch auch Carl war komisch, und genau diese Komik rettete ihn vermutlich damals aus einer Situation, in der andere vielleicht nicht zu retten gewesen wären:

"ALLES NICHTS sollte eigentlich ganz locker und improvisiert anfangen", ließ er sein Publikum nämlich wissen: "Aber leider läuft unsere Show bislang noch nicht besonders, so will ich lieber textgetreu arbeiten und ablesen - Also: Erwartet nicht zuviel; ich werde jetzt alles so vorlesen, wie es hier aufgeschrieben steht." Damit legte er das Manuskript auf den Boden und las dann doch nicht ab, als er sprach: "Das Stück beginnt mit einem Mikrophon und einem Verstärker. Hier also", - er wies auf den Verstärker: - "haben wir ein Mikrophon. Und dort..." - dabei zeigte er auf das Mikrophon -: "...einen Verstärker. Hier haben wir Euch..." - unterdessen richtete er die Finger auf sich - "... und hier haben wir mich!" wobei er in einer Bewegung endete, als wolle er nicht nur sein Publikum, sondern gleich die ganze Welt in ihrer banalen Kugelgestalt umfassen: "Das Mikrophon erwartet was von mir, ich erwarte was von mir, und Ihr erwartet was von mir. - Ich weiß nicht, was das Mikrophon erwartet; ich weiß nicht, was ich erwarte; und erst recht weiß ich nicht, was Ihr erwartet!" Er zögerte, um das fundamentale Dilemma dieses Gedankens wirklich einsickern zu lassen, der von der Herausforderung des Menschen durch die sich immer weiter entwicklende Technik sprach (von einem offenbar unaufhaltsamen Prozeß, der das Naturverfaßte des Menschen in immer radikalerer Weise in Frage zog), bevor er fortfuhr: "Dem Mikrophon ist es jedenfalls egal, und Euch ist es egal, und mir ist es egal - aber...", dann verlor er sich in einer längeren Pause, wonach er in abrupt geändertem, um vieles weicheren Tonfall sagte: "Als ich noch ein kleiner Junge war...", dabei schaltete er, in die Hocke gehend, die beiden Scheinwerfer aus, die ihn und den Raum beleuchteten, und blitzte mit einem Blitzlichtgerät erst das Mikrophon, dann das Publikum und schließlich sich selbst an. Um anschließend, noch immer im Dunklen, worin das Publikum die Nachbilder dieser Blitze im Dunkeln in sich wirken sah, leiser fortzufahren: "Und dann, als ich 25 war..." - wieder folgte eine gestisch gemeinte Pause, nach welcher er die Scheinwerfer wieder einschaltete, von deren grellen Licht von Neuem beleuchtet er nun mit einem Dosenöffner eine Thunfischdose öffnete, um daraus ein wenig zu essen. Dabei konzentrierte er sich in Gedanken auf seinen ersten Aufenthalt in New York, auf diese Zeit wollte er jetzt jedenfalls hinweisen, monatelang hatte er da von solchen Konserven gelebt - wie selbständig er sich da vorkam! dann aber, schon um die Sentimentalität dieses Gedanken zu trivialisieren, erklärte er: "Die ist vom TOOM-Markt, 89 Pfennig, sehr billig, und von außerordentlich schlechter Qualität." Und das stimmte: nach Deutschland zurückgekehrt, begriff er nicht nur nicht, wieso Dosenthunfisch hier so viel schlechter sein mußte, so viel weniger schmackhaft, er begriff auch nicht recht, was 1968 in diesem Land geschehen war - dann stellte er die Dose zur Seite und wandte sich wieder dem Manuskript auf dem Boden zu, aus dem er die nächsten Sätze nun zügig ablas: "Und dann als ich fünfundvierzig war, saß ich mit Katie und einem Picknick-Korb auf einer Wiese, und träumte, ich wäre wieder zweiundvierzig, und der Wind blies in ihr Haar und unser Helikopter parkte neben uns und sie lachte..." und wie er nun endlich Gelächter aus dem Publikum vernahm, hielt er diesen Teil des Abends für schon von Grund auf gelungen und wurde wieder platt sachlich: "Ja soweit bin ich gekommen mit ALLES NICHTS", erklärte er und stand dann überraschend energisch auf: "Das Thema der Stunde aber heißt: EIFERSUCHT!"

Ja, das glaubte Carl tatsächlich: daß er mit fünfundvierzig erfolgreich sein würde, so erfolgreich, daß er mit einem Helikopter zu einem Picknick fliegen könnte; so ironisch es gemeint war, hielt er einen solchen Aufstieg, viele seiner malenden Alterskollegen würden ihn erleben, durchaus für möglich. Aber er täuschte sich: er wurde nicht wohlhabend; vielleicht unterschätzte er die Langsamkeit der Mühlen des Kulturbetriebes, oder ihm war nie klar, daß durchaus nicht alles Originelle schon seines Verdienstes wegen nach oben gespült wurde - mit anderen Worten, wie bereits die Village Voice zu Carolas Photographien anmerken wollte: 'New is not always the best!' Es gab Zensuren für das, was man tat, und Originalität war nur ein Bewertungskriterium unter vielena.

Trotzdem hätte Carl seine weitere Erfolglosigkeit kaum überrascht: von all dem, was damals in ihm ablief, war ihm zu viel unheimlich, als daß er sich ernstlich über irgendetwas hätte wundern können. Er war auf alles Mögliche vorbereitet. Hätte man ihm indes gesagt, er würde sich einmal ein Ohr abschneiden wie van Gogh, hätte sich wohl doch gewundert: "Unmöglich!" hätte er geantwortet, das wäre nicht originell, das läge nicht in seiner Natur - jemanden nachzumachen! Und es stimmte: Natürlich schnitt er sich kein Ohr ab, aber irgendwann landete er trotzdem in einer Art Irrenanstalt, weil man seiner Mitwelt seine Gegenwart nicht mehr zumuten mochte , nicht einmal lange, kaum drei ganze Monate; aber so etwas geht nicht immer spurlos vorbei. Danach war er, wie sich leicht vorstellen läßt, ein wenig - verändert. Doch immer noch nagte in ihm eine, sagen wir ruhig: "kreative" Wut, die sich nicht bändigen lassen wollte: während und gleich nach dieser Zeit schrieb er drei Romane, mit freilich so verrücktem Inhalt und Stil, daß man ihn bei einer Veröffentlichung wohl gleich wieder in eine Anstalt gesperrt hätte. Gott sei Dank fand sich kein Verlag, der das verantworten wollte, und diese neue Niederlage veränderte unseren Carl erneut und noch einmal entscheidend; und wieder wurde er, in einer Reihe schmerzhaft robuster Häutungen, zu etwas anderem, er wurde zu - mir; warum soll ich es jetzt verheimlichen: er wurde zu mir, der ich all dies nun aufschreibe, mit mitunter leider schon eisigem Atem, um all das zu verstehen, was damals mit mir geschah. Dabei war es inzwischen weit weg, so weit sogar, daß selbst das Schlimme daran kaum noch schmerzte. Ich hatte es nämlich so gut wie vergessen.

Nur seine Filme habe ich nicht vergessen, ich habe sie in der Zwischenzeit so oft vorgeführt, daß sie weiter zu mir gehören. Ja, diese Filme gehören nun mir, obwohl sie einst jener Carl machte. In ihrem objektiven Vorhandensein bilden sie sonderbar ruhende Pakete aus der Vergangenheit, das denke ich jedenfalls oft und kann, da sie sich (anders als die Erinnerung) nicht mehr verändern, in aller Gelassenheit überlegen, worin ihre Bedeutung einmal bestanden haben mag; ich könnte sie umschneiden oder sogar vernichten, ohne daß es mir jemand verbieten kann. Auch mit den von ihm hinterlassenen Bildern könnte ich dies tun: Ich bin in einem jeglichen Sinne ihr Besitzer. Carl dagegen gehört mir nicht, er gehört sich selbst, und da er sich selbst damals kaum begriffen hat, begreife auch ich ihn nichtb.

"Eifersucht ist das, was die Trennungen aufhebt", fuhr Carl in seiner für diesen Abend charakteristischen Schlichtheit fort: "Die Trennung zwischen Mir und Dir, zwischen Uns und Euch, zwischen Allen und den Anderen, zwischen Sonne und Mond und selbst zwischen diesem Mikrophon hier und dem dazugehörigen Verstärker. Eifersucht ist sozial. Der Mond ist eifersüchtig auf die Sonne, die ihn hält, und läßt die Erde im Gezeitenwechsel vibrieren. Eifersucht hält die Welt zusammen."

"Was aber ist Eifersucht? Eifersucht geht an die Substanz. Ihr alle seid eifersüchtig auf mein Schlauchboot, aber das nützt Euch nichts, Ihr könnt Euch so ein Schlauchboot nicht mal mehr kaufen - den Typ gibt es nämlich nicht mehr im Handel. Und ich bin natürlich eifersüchtig auf jeden von Euch, aus Gründen, die Ihr wahrscheinlich selber am genauesten kennt. Eifersucht basiert auf Unsicherheit, und Unsicherheit macht uns zu sozialen Wesen. Wir treten heraus aus den Schranken des Ichs und sagen Du, und wir meinen alle. Die Eifersucht sprengt die Ketten des Ichs und über das Du das Gefängnis des Ich und Du."

Nur mein maximaler Erfolg, die angestrebte Lehrexistenz, will sich, trotz zum Teil entwürdigender Bemühungen - lohnt überhaupt, sich darüber zu beklagen? -, nicht recht einstellen: es begann bei jenem Bettenbinder in Braunschweig und setzte sich in einer Kette viertklassiger Demütigungen fort: Offenbach, Köln, Stuttgart, Düsseldorf, Weimar und Dortmund . . . und so werde ichxxx, um nicht unterzugehen, wohl weiter mein Unwesen in dieser Kultur treiben müssen. Dafür braucht man sich, Gott seis gelobt, ja nicht mehr zu entschuldigen - und vielleicht lebe ich ja noch lang genug und gewinne dabei soviel Weisheit und Selbstvertrauen, daß ich diese entsetzlichen drei Romane, die Carl in seiner Verwirrtheit schrieb, so umzuarbeiten verstehe, bis sie meiner Mitmenschheit zumutbar sind. Und doch gehört dieses Buch nicht mir, es gehört Carl; dem jungen Carl und seiner Zeit und seinen Gefährten, dem Vierunddreißigjährigen mit der Seele eines Siebzehnjährigen, der - ein Kind noch - seiner Umgebung von seiner Weisheit etwas mitteilen wollte:

"Auf der anderen Seite ist Eifersucht nicht modern. Liebe ist modern - aber was ist Liebe? Liebe geht an die Substanz. Ihr alle liebt wahrscheinlich mein Schlauchboot, und in Euch allen gibt es etwas, was ich liebe, Ihr selbst wißt wahrscheinlich am genauesten, was es ist. Liebe macht uns zu sozialen Wesen. Liebe läßt uns heraustreten aus den Schranken des Ichs und wir sagen Du. Du bist schön, du bist dick, du bist modern! Liebe ist modern! Eifersucht ist nicht modern. Aber was ist Eifersucht, und was ist Liebe. So kommen wir nicht weiter."

Nein, Carl kam so nicht weiter. Er hatte sich zu sehr in seine Filme verbohrt. Um von ihnen, dem Unmenschlich-Technischen daran loszukommen, hätte er sie verleugnen oder vernichten müssen. Dazu hatte er aber, weil er schon so weit mit ihnen gelangt war, nicht das Zeugs. Da aber kaum jemand sie damals sah, kann wenigstens ich heute so tun, als hätten sie nie existiert, als hätte er, als hätte nun ich sie mir bloß irgendwann vorgestellt. Das macht sie auf sonderbare Weise zu einem Gegenstand der - - Belletristik und als solche nehmen sie in diesem Text mitunter größere Lebendigkeit an, als ihnen vielleicht einst innewohnte; ja, in einem ganz realen Sinne wurden sie so für mich - und durch mein Schreiben vielleicht nun für andere - wirklicher als das eigene, sich vergessende Leben. Wer hätte das gedacht? c

"Es gibt natürlich auch die Musik!" rief Carl nun überraschend aus, indem er eine Schallplatte auflegte, was wiederum nicht zuletzt andeuten wollte, daß ihn die Musik in seiner Filmarbeit an einer entscheidenden Stelle aus der Sackgasse half: "Dies ist Musik! Musik ist der Kampf der Liebe mit der Eifersucht. Dies zum Beispiel ist Bruckners Achte Symphonie, dirigiert von Furtwängler, 1944 in Berlin, als die Bomben der Alliierten vom Himmel tropften. Die Alliierten waren eifersüchtig auf Furtwängler und seine Musik, die er liebte, so jedenfalls steht es in den Geschichtsbüchern, aber ist das auch die ganze Wahrheit? Man muß sich das einmal vorstellen, 1944 Berlin - Bomben prasselten runter, Furtwängler will mit den Philharmonikern Musik machen. Die Bomben fallen, machen unheimlich Krach, und Furtwängler denkt natürlich: Warum machen die solchen Krach, ich will meine Musik machen, die haben was gegen meine Musik, die sind eifersüchtig auf meine Musik. Und er sagt: Wenn die Krach machen, gut, dann mach ich eben auch Krach, ich mache meine Musik! Also fängt er an, den Taktstock zu heben, schon spielen die Philharmoniker zum Beispiel Bruckners achte Symphonie, und hier an dieser langsamen Stelle, hört Ihr sie, die Bomben? Gut zu hören - aber wenn man sich überlegt, was das bedeutet, eine solche Situation: Furtwängler eifersüchtig auf die Alliierten, weil sie mehr Krach machten als er je können würde, sehr viel mehr. Vielleicht liebte er seine Musik plötzlich nur noch, weil die Alliierten durch ihre Bomben so lautstark ihre Überlegenheit über seine Kultur kundtaten, und Musik hin, Bomben her, Musik ist ja nun einmal zunächst auch bloß Geräusch. War also Furtwängler nur eifersüchtig auf die Geräusche der Alliierten, und die Alliierten nur besessen von ihrer Liebe zu Bomben? Ja, obwohl er seine Musik in dieser Zeit vielleicht gar nicht mehr lieben konnte, geht dieser Furtwängler noch mal ganz hartnäckig an ihre Essenz, man kann es richtig hören, aber auch, wie die Alliierten da ihre Bomben runterwarfen und Krach machten, ja, da spielte er weiter diese Musik, jedenfalls kann man es so sehen."

Was war, wo grade die Sprache auf Bomben kam, aus Carls "Angst" geworden? Sie hatte sich verwandelt. Jetzt hatte er abends keine Angst mehr; aber er fühlte sich nicht gut, er war enttäuscht - in einigen Jahren würde sich seine Angst in Enttäuschung verwandeln. Was als Angst vor würgender Leere begann, worin immer diese bestand - Angst vor der Kälte, der Leere des die Erde umschließenden Vakuums, die berechtigste vielleicht von allen, war es kaum - irgendwann würde er es als Angst vor dieser Enttäuschung bezeichnen, obwohl oder weil er deren Ausmaß nicht ahnte.d

"Aber das steht natürlich nicht in den Geschichtsbüchern, und wird wahrscheinlich nie drinstehen", verkündete er - und wer will das schon bestreiten -, um dann fortzufahren: "Ihr könnt natürlich fragen, Was geht uns das an, das ist lange her, das kann man nicht beweisen - Und was man da gerade hört oder gehört hat, das wäre ohnehin nicht Bruckners Achte von Furtwängler 1944 eingespielte Symphonie, sondern bloß die Siebente, zwar auch von Furtwängler dirigiert, aber in einer Aufnahme von 1951 für den Rundfunk in Cairo: und damit hättet Ihr selbstverständlich recht."

Und während er, um die Gedanken zu sammeln, wieder etwas Luft in sein Boot pumpte, denke ich (hier zaghaft einen Ausdruck verbessernd, dort vorsichtig einen unklaren Bezug verdeutlichend, ab und an ein in der Leere sich suchend drehendes "irgendwie" sang- und klanglos verschwinden lassend) an meine inzwischen schon Jahre dauernde eigene Verwicklung mit diesem Stoff. In was verwickele ich mich da, wenn ich immer wieder daran arbeite? Was versuche ich zu verstehen? Geht es darum, daß ich mich nur noch ungern heute im Spiegel sehe? Aber auch Carl sah sich nicht gern im Spiegel, obwohl er das Licht der grell auf ihn gerichteten Scheinwerfer, die jede physische Nuance an ihm für die Zuschauer sichtbar machten, jetzt genoß - wie in der unsere Erzählung einleitenden Szene vor der widersinnig heulenden Laterne wollte er sich zwar nicht selbst sehen, aber er wollte - wie damals von der im Café wartenden Roberta - gesehen werden. Heute begreife ich jedoch, wenn ich es tue - es geschieht eigentlich nur beim Rasieren -, daß diese sonderbare Figur, die mich da in ihrer Spiegelverkehrtheit meist mißmutig anschaut, diese zusammengefallene, nicht mehr besonders attraktive Erscheinung (die aber wenigstens durch die Rasur kurzfristig gewinnt), eigentlich die einzige Person ist, die noch Verständnis für mich aufbringt. Versuche ich, dieser richtungslos gewordenen Erscheinung durch die Wiederbegegnung mit Carl, der ich schließlich einmal gewesen bin, zu etwas mehr Glanz zu verhelfen, zu etwas mehr von gerichteter Energie sprechender Selbstgewißheit? Erwarte ich, daß das, ja: Heldenhafte seines Charakters ein letztes Mal auf mich abfärbt? Wäre insofern nicht besser gewesen, die in diesem Buch auftauchenden Nebengestalten zu vielleicht drei, vier künstlichen Personen zu komprimieren, mit infolgedessen genug tiefgängiger Substanz, so daß sich damit die üblichen belletristischen Bande schnüren ließen, die Heldentum im Grunde erst sichtbar machen? Jene uns so lieben Verknotungen und Verschlingungen, wozwischen wir so gern den Glanz eines sonderbaren Verstehens zu spüren meinen, in mehr als nur Umrissen, als sei es darin verpackt. Andererseits sprachen wir bereits von jenem nervösen Künstlergas, worin unsere kleine Geschichte nun einmal spielt und das sich so weder verpacken noch packen läßt, schon weil es eine weit höhere Mindestzahl mitspielender Charaktere zum flutschenden Funktionieren verlangt. Das mit jenen marionettenhaften Verknotungen und Verschlingungen leider nicht einmal annähernd zu fassen ist, wie wir sie in der Belletristik oder im Film so mögen - deren Heldenhaftigkeit verkündende Simplizität ist von der Wirklichkeit so eines Künstlergases kaum weniger weit entfernt wie die Valenztheorie der klassischen Chemie mit ihren klassischen Wertigkeiten (nach deren Muster Carl zu Beginn dieser Erzählung die Welt der Bilder zu klassifizieren suchte) von der quantenmechanischen Wirklichkeit eines entarteten Elektronengases, dem wir das Brennen nicht nur der Glühbirnen verdanken. Von solch simplem Klassifizieren war Carl längst abgekommen.e

"So, ich muß jetzt mal die Decke auslegen", sprach er jedenfalls damals: "Ach, ich hab ganz vergessen, den Himmel darüber zu legen..." und bedeckte nun das Schlauchboot mit seinem Bettlaken, aus dem ihn das geschwungene Blumenmuster, im Morgenlicht hing es noch vor seinem Fenster, freundlich anleuchtete. Dieses Laken hatte er aus Columbus mitgebracht und sich oft über die Feinheit der darauf gezogenen Linien gewundert, ihre wunderschöne rot-blau-grün geschwungene Klarheit schien viel zu schade zum bloßen Drauf-Schlafen. Daß er es neulich verstümmelte, indem er brutal eine rechteckige Öffnung hineinschnitt, um in "BLOND!" dadurch seinen Italienfilm auf sein gespachteltes Wandbild zu projizieren, hatte er als enormes persönliches Opfer betrachtet. "Dieses Bettlaken stellt den Himmel über dem Schlauchboot unseres Bewußtseins dar: Wie Ihr seht ist es etwas zerrissen. Wenn Ihr genau hinschaut, werdet ihr sogar ein Loch in diesem Himmel entdecken - und durch genau dieses Loch kann man die Bilder nun hineinschieben, rein in das Schlauchboot des Bewußtseins, und außerdem berührt der Himmel die grüne Decke." Er sagte das traurig, ohne daß ich noch weiß, ob er in seiner Traurigkeit in diesem Moment wirklich aufrichtig gewesen ist: Es blieb in ihm immer eine Art Versteck, das er um keinen Preis verlassen wollte.

"Also das mit der Musik ist, glaube ich, irgendwie auch nur eine Sackgasse. Aber nun stellt Euch mal vor, es ist Herbst, Spätherbst und Ihr seid in Deutschland. Ihr werdet sagen: Ziemlich schwer sich das vorzustellen, aber wenn Ihr Euch anstrengt, geht es vielleicht. Und nun kommt der leichte Teil." Ach, mich überkommen, warum soll ich es nicht zugeben, zärtliche Gefühle, wenn ich ihn so sprechen höre, in seinem sonderbaren Vorantasten, obwohl er nicht grade liebenswert ist. Will es mir wer verdenken? Nein es ist nicht das Heldenhafte das mich da rührt, es ist die Selbstverständlichkeit, in der er mit seinem Wesen die Zeit füllt:

"Stellt Euch vor, Ihr seid das letzte Blatt auf einem Baum, ich glaub, das ist nicht so furchtbar schwer: Herbst, die Blätter alle abgefallen, und Ihr seid das letzte Blatt, auf so einer Linde, oder irgendsowas, etwas angewelkt, ansonsten aber noch ganz gut in Schuß. Und es ist ein windstiller Sonntagnachmittag. Und nun frage ich Euch: Würdet Ihr da eifersüchtig sein? Worauf denn? Worauf denn? Auf die Sonne, die Euch wärmt, den Baum, der Euch trägt, die Erde, die Euch ernährt? Natürlich nicht. Auf den Wind, der Euch streichelt - manchmal hat man natürlich Angst vor dem Wind. Oder doch auf die Sonne, weil sie einen hat verwelken lassen oder kann man doch eifersüchtig sein auf ein anderes Blatt auf einem anderen Baum? Aber dieser andere Baum ist so weit weg, so weit, und um Euch herum ist es leer, könnt Ihr Euch das vorstellen? Da macht Eifersucht doch keinen Sinn."

Nun, auf einmal sehe ich Carl vor mir, wie er am Telefon sitzt und versucht, jenen Walter Dahms anzurufen, irgendwie der furchtbarste Moment dieses Buches, dieser kindliche Versuch, mit seinem Gegner zu einer Verständigung zu gelangen, in Art einer polnischen Teilung - wie entsetzlich! Aber so ist Polen einmal aufgeteilt worden! Und Hitler besiegt! - "Ich hab gesagt, daß das Schlauchboot des Bewußtseins unter der Flagge der Eifersucht segeln wird, und wenn Ihr jetzt guckt, seht Ihr zwar nicht die Flagge der Eifersucht, aber Ihr seht den Fahnenmast, an dem die Flagge der Eifersucht weht. Die Flagge der Eifersucht, die den meisten, die sie nicht sehen wollen, unsichtbar ist, aber das Rot an diesem Masten erkennt man natürlich; und das Grün. Und da werdet Ihr natürlich sagen, das Rot, das ist das Blut der Künstler; und Grün, das ist das Leben, das sie nicht verstehn."

Ja, jetzt wollen mir sogar ohne Musik Tränen kommen, wenn ich ihn über die winzigen Farbflecken am Ende der Stahlschiene sprechen höre, die seinem Boot nun als Fahnenmast diente - stumpfrot einer, neben, kaum sichtbar, einem grünen - in diesem Brustton der Überzeugung, da er doch gar nichts von dem wußte, was ihm und der Welt geschehen würde - aber er hatte Recht, auf seltsame Weise und unmißverständlich, oder wie Susan Sontag über eine gewisse Künstlerarroganz gegenüber der Welt schrieb: "He was right - because he was the real thing." - in dieser Welt, worin alles drunter und drüber geht, in der immer absurdere Verstelltheiten der Vernünftigen zu immer neuen Kalte-Kriegsabsurditäten führten, wo neue Ost- und Westpolitiken entstanden, deren Resultate den Bemühungen der sie Betreibenden immer mehr widerliefen, bis ihnen ihre Staaten schließlich um die Ohren geschleudert wurden: verglichen mit jenem Irrsinn, darin man die Zukunft von Milliarden auf Spiel setzte und geopfert hatte, war Carl ein hochvernünftiger Mann, der eigentlich nur seine eigene Katastrophe verantworten mußte, und auch die war nicht so total, daß er nicht jetzt noch sprechen könnte, in einem gewissem Sinne kann man sogar sagen: er war einer der wenigen, deren Lebensplan ohne große Verstellung aufging.

"Und nun noch ein anderes Beispiel", sprach er: "Stellt Euch wieder vor, es ist Herbst, Spätherbst, und Ihr seid in Deutschland, Ihr habt das ja schon geübt; und nun stellt Euch vor, Ihr kommt zu einer Show, die 'EIFERSUCHT!' heißt, es ist natürlich schwer, sich sowas vorzustellen, aber wenn Ihr Euch unheimlich anstrengt, schafft Ihr es vielleicht. Und nun nehmt einmal an, Ihr hättet bestimmte Erwartungen an die Show gehabt, und diese Erwartungen werden blutig enttäuscht. Denn was Euch vorgesetzt wird, wäre nichts als ein inkohärentes Mischmasch, eine Kette von Schwachsinn und unzusammenhängenden Sätzen von erbärmlicher logischer Struktur, mit einer Art Mickerlogik, in der kein Zusammenhang zu entdecken ist, und Ihr seid extra hergekommen und habt eigentlich was besseres zu tun gehabt, und nun frage ich Euch wieder: Gibt es da einen Grund zur Eifersucht? Und wenn - ist diese Eifersucht sozial? Oder, sind die Italiener eifersüchtiger als die Deutschen? Oder sind die Deutschen eifersüchtig auf die Italiener?"

Es stellte sich heraus, daß Roberta ihn gar nicht an jenem Tag betrogen hatte, als Carl annahm, sie würde sich, zwei Tage nach ihrer Rückkehr aus Bochum, nun (als "Frau von Welt") dafür rächen, daß er sie von Walters Ausstellung ferngehalten hatte. Sie gab es jedenfalls nie zu. Aber er hatte Recht damit, daß etwas im Busch lag: Roberta betrog ihn nach seiner Veranstaltung im Metropolis, gleich nach dem Filmseminar, für das sie sich wieder so aufgedonnert hatte, und zwar mit Volker; daß dieser es war, der ihm erst kürzlich anbot, ihm in jedweder Hinsicht behilflich zu sein, hätte Carl, obschon ihm eine gewisse von Volker ausgehende Kühle ja nicht verborgen blieb, nie gedacht. Auf solche Hilfe konnte er in der Tat verzichten. Damit hatte ihn Roberta wirklich getroffen. Und natürlich mußte sie es Carl irgendwann mitteilen - sonst wärs ja sinnlos gewesen. So traurig es war und auch blieb, tat er gut daran, sich darüber nicht allzusehr zu erregen. Letztendlich spielte es keine Rolle, weil nämlich noch zwei Jahre vor ihnen lagen, eine gute Strecke davon in Düsseldorf, wo sie dann doch noch die von Carl erträumte winzige Wohnung bewohnten - so toll wars natürlich nicht, mit einer Hortensie im Hinterhof, aber das war auch nicht zu erwarten - und er in aller Ruhe seinen Ruhrgebietsfilm machen konnte, mit Hilfe seiner den brutal linearen Verlauf der Zeit anhaltenden Anhaltemaschine, der schließlich in Hilkas Buchhandlung uraufgeführt wurde . Fuhr Roberta in jener Zeit sein Auto, überfiel ihn oft eine unbestimmbare Angst, für seinen Geschmack fuhr sie immer zu schnell, gerade wenn’s übers Land ging, und einmal zeigte sie ihm im Spätherbst in Kappes ein interessant aussehendes Feld mit reifenden Kohlköpfen, das man, wie sie sagte, erst im Dezember abernten würde. Darin kannte sie sich komischerweise aus. Manchmal besuchten sie auch Robertas Mutter, wo sich aber, trotz einer gewissen weiter zwischen ihnen schwelenden Geilheit, nie etwas ergab. Einmal durfte er in ihrer Gegenwart sogar rauchen: "Na, gefällt es Ihnen?" fragte sie anzüglich, als Roberta einmal kurz im Nebenzimmer verschwunden war, "soll ich meine Beine für Sie mal ein wenig übereinanderschlagen? Würde Ihnen das gefallen?" - "Ja, das würde es." - "Na, dann mach ich das doch mal, Sie sollen doch hier auf Ihre Kosten kommen. Ja, rauchen Sie nur, und genießen Sie, was das Leben manchmal so bietet, das erinnert mich nämlich an meinen Mann..." - Abends gingen sie in den Ratinger Hof, wo sie sich, als hübsches Paar, einem ein wenig anders gearteten Künstlergas aussetzen konnten, er gegenüber früher ein wenig gelassener, als bloßer Gast in einer weniger angreifbaren Position, aus der er sogar einigen seiner allmählich einen Namen erlangenden Malerkollegen, Thomas Schütte oder wieder dem guten Kippi (der Berlin inzwischen den Rücken gekehrt hatte und von dem es ein Ensemble von auf irrsinnige Weisen verbogenen Laternen und Beleuchtungskörpern gibt, manche als Selbstporträts tituliert, und jener verwandt, an deren Wesen Carl zu Beginn dieser Erzählung herumrätselte) ein wenig näher kam, gelegentlich im Geist skeptisch heiterer Freundschaft (was hieß, daß man in Kneipen länger nebeneinander stand und dann und wann ein paar Worte wechselte), ganz anders, als es im kriegerischen Hamburg der Fall gewesen war. Zwei Jahre, worin Roberta und er sich weiter viel stritten und nie recht sich vergeben konnten, was sie einander angetan hatten, aber immerhin erlebten sie auch so manches beachtliche Glück, das anderen ihr Leblang verwehrt war. Und wenn er von all dem nicht wußte, es weder wissen konnte noch wollte, so ahnte er doch schon, daß er zumindest diesen Abend und wahrscheinlich noch viel mehr strahlend überstehen würde und kam endlich zu einem Schluß:

"Jetzt müssen wir mal das Schlauchboot die grüne Decke berühren lassen", fuhr er fort, denn nun war das Schlauchboot aufgeblasen und mit seinen Bildern - auch 'Die Säulen des Hercules' fanden inzwischen stumm ihren Weg hinein - beladen: "Ich hoffe daß jetzt was passiert. Aber das tut es offenbar nicht. Nicht so richtig."

Zwei Jahre, werden Sie sagen: Was sind schon zwei Jahre, warum so viel Aufsehens! Da hätte er sich die Mühe sparen und sich gleich mit jemand anderem abgeben können. Gewiß, gewiß waren es nur zwei Jahre, doch für jemanden, der mit so hoher Flamme brennt wie Carl es damals tat, stellen zwei Jahre eine Ewigkeit dar, die er ohne seine Roberta wohl kaum so relativ wohlbehalten überstanden hätte. Vielleicht nicht einmal eine einzige weitere traurige Nacht.

"Vielleicht sollte ich ein bißchen nachhelfen", sagte er, kann sein im Wissen darum: "Der elektrische Funken ist irgendwie nicht übergesprungen, da prallen ja jetzt zwei Welten aufeinander: einmal so eine altmodisch zweidimensionale Landkarte und dann dieses komplexe Schlauchboot des Bewußtseins, in das sich diese Dinger reingezwirbelt haben, da muß ich mal mit einem kleinen Feuer nachhelfen."

Ja, ich muß, wenn ich ihn so reden höre, weinen, merke aber zugleich, daß sich in mir etwas heftig dagegen sträubt. Worüber weine ich überhaupt? Wieder sind fünf Jahre vergangen, worin das Niedergeschriebene größere Stabilität erhielt. Stabilität wofür? Sogar ein neues Jahrtausend, man mag es kaum aussprechen, hat begonnen - das alte, das, wie viele sagen, der Kunst, ist sang- und klanglos zu Ende gegangen. Inzwischen ist klar, daß es mit der Zierlichkeit romanischer Skulpturen begann , mit viel zu großen, schlichten Köpfen auf klein gehaltenen, kaum verstandenen, penibel gemeißelten Leibern, die allem, was Gott ihnen bescheren würde, in post-stoischer Demut entgegenblickten. Genau der Ausdruck dieser Gesichter war diesem Jahrtausend angemessen, mehr jedenfalls als die Schreie der Verdammten oder das realistische Leiden, das aus so vielem, vor allem nun dem photographischen Bildwerk spricht; angemessen gewiß angesichts der Summe, dieser Unzahl dieses Leidens, das dieses Jahrtausend beschert hat; aber auch angesichts der Erfindungen von übergroßen Köpfen für übergroße Köpfe auf noch immer kaum verstandenen Leibern, deren gesetzmäßig brutales Verschwinden aus unserer Welt, schließt es doch jedermann ein, ein Skandal geblieben ist. Vielleicht wäre auch uns ein wenig mehr dieser post-stoische Miene angemessen, bei all dem, was unweigerlich kommen wird. Darf ich, lohnt sich wirklich zu weinen, nur weil ich einen jungen Mann so reden höre? Oder beweine ich bloß den Untergang der Kunst? Zehntausende haben wie er geredet, ohne ihn aufhalten zu können - Gewiß erkenne ich ihn, erkenne ich mich in ihm wieder, wenn ich auch anders geworden bin. Obwohl seine Vierunddreißig ihn sich bereits oft "uralt" vorkommen ließen, besaß er, ich wiederhole es (auf den Photos ist es ja nicht zu erkennen), die Seele (oder kommt es mir nur so vor?) eines Siebzehnjährigen, verhielt er sich weiterhin wie ein Kind, das glaubt, daß man mit Aufrichtigkeit zu etwas kommen könne, in dieser Welt, ganz ohne jede Verstellung. Ja, trotz der zahlreichen Abenteuer in fremden Betten, war er ein Kind geblieben - und sehnte sich wohl einfach danach, in den Arm genommen zu werden, und als das nicht mehr gegeben schien, lief er bockig Amok. Ja, und natürlich verließ ihn Roberta, als sie das begriff; sie suchte an einem Mann kein kleines Kind. Aber auch sie hat unter ihm nicht wirklich gelitten; was er ihr antat, gab sie mit gleicher Münze zurück. Auch sie hatte mit ihm nur einiges ausprobiert, um sich irgendwie zu bewegen, an den Rand von etwas zu bewegen, den Rand des ihr Möglichen vermutlich: Danach probierte sie es mit anderen aus. Zielstrebig ließ es sich beinah nennen, warum denn nicht, und wahrscheinlich erreichte sie so schließlich auch das, was sie wollte, was sie seit dem von ihr erkämpften Ballettunterricht wollte; sie blieb wenigstens nicht, wie so viele, unter ihrem Niveau und erreichte das ihr Mögliche - genau das hatte sie als Realistin nämlich gewollt. Carl, auch darin noch Kind, wenn nicht seines Zeitalters so doch seiner Epoche, zündete indes erst mal ein kleines Feuer an:

"Was hier brennt, sind die Keile für die Keilrahmen, die habe ich aber nicht benutzt, deswegen sind die Bilder etwas schief, das ist aber nur gut. Und das, was hier ebenfalls brennt, ist der Flugzettel einer Show, die 'EIFERSUCHT!' heißen sollte - Na ja, das muß alles gut ins Feuer gehalten werden, sonst brennt es nicht, hier ist schlechte Luft, ich muß ein bißchen Luft machen." Mit diesen Worten ergriff er den nutzlos gewordenen Blasebalg, um damit die Mickrigkeit der verkümmernden Flammen anzufachen, aber nachdem das Flugblatt bereits verkohlt war, wollte das Feuer die Holzsubstanz der kleinen Keile, sie war von erstaunlicher Festigkeit, die er da aufgehäuft hatte, nicht mehr recht angreifen. Als Geste reichte es indes, das Feuer war angezündet, keiner hatte es übersehen. Nein, dies ist nicht meine Stunde - sie gehört jenem Carl, verglichen mit ihm hab ich (hier zaghaft einen Ausdruck verbessernd, dort vorsichtig einen unklaren Bezug verdeutlichend, dann und wann ein in der Leere sich suchend drehendes "irgendwie" sang- und klanglos verschwinden lassend) das Leben verloren, an dem er so brennend teilhatte; ich bin nicht mehr das wirkliche Ding und kann nur noch klagend von ihm berichten:

"Ich nehme jetzt den Himmel ab, aber wenn das Feuer nicht brennt, wird das alles nichts, es kokelt nur ... An sich schönes, brennbares Holz, aber man kann das offenbar gar nicht mehr, so ein kleines Feuer anmachen, mit all den Zentralheizungen zu Hause, ich glaub die Luft ist hier zu schlecht, liegt gar nicht an meiner Technik, ist kein Sauerstoff, braucht Sauerstoff, ohne Sauerstoff brennen diese Keile nicht", verlor er brabbelnd nun den bisher doch ganz nett gespannten Faden seines Vorgehens, und öffnete die Ventile seines Bootes, aus denen zischend die Luft entwich:

"Ein bißchen hilft natürlich dies Glimmen, Ihr seht ja, daß sich hier was mit dem Schlauchboot unseres Bewußtseins tut: Es sieht zwar aus wie ein ganz normales Luftablassen, und das ist es ja auch, aber in Wirklichkeit ist es, wie Ihr längst wißt, etwas ganz anderes. Denn während es die Gestalt verliert", fuhr Carl in das Bettlaken sich wickelnd fort, bevor er sich darin auf den Boden hockte, um von dort aus genau zu beobachten, wie die Luft langsam dem Boot entwich: "beobachten wir nämlich den Übertritt dieses Schlauchboots des Bewußtseins ins Schlauchboot der Erinnerung - ganz allmählich nähert sich seine Form derjenigen der grünen Decke an, und es wird zu einer Karte unseres Bewußtseins, ja, seht ihr, das Schlauchboot der Erinnerung gleicht allmählich in der Tat einer Karte, es ist schon beinahe wieder zweidimensional, dem Wunsch nach zumindest, denn die Leinwände und all die Falten bilden auf dieser zerknitterten Ebene noch einen dreidimensional räumlichen Rest", und jetzt richtete er sich, in seinen Bilder kniend, noch einmal auf und streckte sich, in das mit leuchtend zarten Blumenmustern versehene Bettlaken gehüllt längst selbst ein seltsames Gebilde geworden - hatte seine Tante nicht immer gesagt, alle Bilder mit Blumen seien schön? - eine Halbstatue, ein mit einem Kopf versehener Torso, der aus einem Durcheinander, einem Chaos, heraus noch einmal die Stimme erhob: "Auf einer Landkarte irgendwo zwischen einem Platz, der 'ALLES' heißt, und einem Platz namens 'NICHTS', es wird zu sowas wie einem Schlauchboot unserer Erinnerung. Wir, ich wiederhole es, beobachten also in diesem Moment, und in diesem Luftablassen, die Metamorphose des Schlauchboots unseres Bewußtseins zum Schlauchboot unserer Erinnerung. Und dieses Schlauchboot unserer Erinnerung, es reist zwischen einem Ort, der 'ALLES' heißt, zu einem Ort namens 'NICHTS', hin und her, umspült von den silbernen Wellen des Atlantic - Und das tut es unter der Flagge der Eifersucht, und die Piraten aller Länder werden auf ihren Tankern mit ihren Infrarotfeldstechern nach ihm Ausschau halten, auf dem früher mal grenzenlosen Atlantik, nach dem Schlauchboot des Bewußtseins, aber alles was sie finden, was sie finden werden, ist das Schlauchboot der Erinnerung, und nicht mal das, ALLES, was sie entdecken werden, ist die FLAGGE DER EIFERSUCHT, die ganz oben an einem Fahnenmast über dem Schlauchboot unserer Erinnerung flattert, nein eigentlich sogar über dem Fahnenmast, die Flagge der Eifersucht sehen sie, und sonst NICHTS."

"Sonst nichts."

"Danke schön, das ist alles. Guten Abend."

(Ab)


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