K. Wyborny

7 TAGE EIFERSUCHT

I.

AUS EINEM KÜNSTLERLEBEN




- 9 -


"Sag mal Carl, ich brauch noch ein paar Einstellungen für meinen neuen Film", sagte Joachim ein paar Tage später beim Frühstück: "Meinst du, ich könnte was in deinem Zimmer drehen? Ich habe schon was mit Acco-Acconci gemacht, ging eigentlich ganz gut." - "Kein Problem. Wart ihr gestern bei Roland?" - "Ja", verkündete Regine, "er ist aufgewacht, endlich. Nach zwei Tagen. Nicole war auch da - uns wollte er gar nicht sehen." - "Ich fahr vielleicht am Nachmittag hin", erklärte Carl. - "Krieg ich heut nochmal das Auto?" fragte Roberta. - "Wie weit seid ihr denn mit der Wohnung?" - "Mit zwei Männern geht es viel schneller, zwei Wände stehen bereits." - "Wer ist denn dieser Michael?" wollte Regine wissen. - "Nett und süß, ganz harmlos." - "Ich wußte gar nicht, daß Hessler mit Kathrin zusammen ist", wunderte sich Joachim. - "Ja, anders als Carl hilft er uns, wirklich ganz süß, hätte ich nie gedacht. Aber wir brauchen noch Steine, und ich hab so wenig für die Wohnung getan." - "Ich kann leider nicht helfen", sagte Carl, "ich muß meinen Vortrag vorbereiten." So sehr dies auch stimmte, war es eine Ausrede, er hatte einfach keine Lust zu handwerklicher Tätigkeit, sein Vater hatte sie ihm gründlich ausgetrieben. - "Na gut, nimm ruhig den Wagen", sagte er schlechten Gewissens; und nach dem Studium des Fernsehprogramms: 'Kommst du zum 'Boulevard der Dämmerung?' Nach dem Fußballspiel?" - "Ja, bis dahin sollten wir fertig sein."

Als sie weg war, telefonierte er mit einem gewissen Stumms vom ZDF. Der fand sein Projekt wohl weiterhin "sehr interessant", er habe aber keinen Koproduzenten gefunden und müsse das nun erst mal im Redaktionskreis klären; er sei indes bereit, ihm eine Reise nach Mainz zu spendieren, um darüber zu sprechen - ob ihm gleich morgen passe? Da sei ein Termin geplatzt. Morgen früh um zehn? - "Whow", jubelte er, als ihn Regine in die HfBK fuhr, wo Gretas Diavortrag nicht erst am Abend stattfinden sollte, sondern, wie sie von Joachim erfuhren, schon mittags; eine gute Gelegenheit, dort ein schöneres Plakat für seinen Vortrag aufzuhängen, das andere war zu schlicht und der Titel stimmte nicht mehr: "Puh, ich flieg morgen zum ZDF, wär doch irre, wenns klappt." - "Ich glaube, Greta bleibt nur wegen Volker länger in Hamburg", sagte Regine. - "Und Volker?" - "Ach, der weiß nicht, was er will." - "Aber hör mal. Findest du nicht, daß du übertreibst?" - "Ich glaube, er möchte nochmal mit seinem Studium anfangen. Es halbwegs zu Ende bringen. Dieses Technische, was er hier für Dieter macht, reicht doch nicht. Er sieht keine Perspektive." Da war natürlich nicht falsch. Volker hatte eine Art Assistentenstatus bei Dieter, da aber Dieters Position an der HfBK in der Schwebe lag, galt dies vermehrt noch für diese Assistenz, Volker erhielt keinen richtigen Vertrag und wurde nur immer mal wieder aus irgendwelchen Vortragstöpfen bezahlt, obwohl er die Filmapparaturen in Schuß hielt und den Studenten mitunter zeigte, wie man sie bediente. Was ihn - hübsch, schlank und mit dichtem schwarzen Haar, immer ein bißchen unsicher wirkend oder nervös - nicht recht befriedigte. Abends im Ganz eine auf viele geheimnisvoll wirkende Gestalt, der Schwarm nicht nur Gretas (wie Carl mehr vermutete als wirklich wußte, aber er fühlte sich selber zu Volker und seiner sauberen, leicht pomadisierten Schwarzhaarigkeit hingezogen, dieser Kombination von Technik, einigermaßen Verstand und riechender Schönheit), wollte er lieber selber Filme machen, am liebsten längere, wozu er jedoch nicht recht Gelegenheit fand, vielleicht hatte er dazu aber auch, anders als die ein wenig jüngere Regine, nicht das richtige Talent. Schwierige Sache. - "Hast du das mit Roland geahnt?" wechselte Carl das Thema. - "Ich mochte ihn eigentlich nie richtig, und das mit, wie heißt seine Freundin nochmal, ich vergeß ihren Namen immer wieder?" - "Nicole." - "Die ist doch erst sechzehn, das versteh ich überhaupt nicht." - "Du bist ja schon fünfundzwanzig", sagte Carl. - "Und nicht mehr Jungfrau, ja, ja: Stimmt."

Bevor er in der Mensa sein neues Plakat aufhängen konnte, sah er Greta mit ein paar Mädchen an einem Tisch. - "Warum seid ihr denn nicht gekommen?" fragte sie gleich deutlich beleidigt. - "Wie, der Vortrag ist vorbei? Ich dachte, er finge erst nach dem Essen an." - "Er ist gerade zu Ende." - "Ja, wirklich schade, es war nämlich gut, endlich erfährt man mal was über Japan", erklärte wichtigtuerisch eins der Mädchen. - "Ach, und wer bist du?" fragte Carl, während er sein Plakat mit Tesafilm an der Wand direkt über ihnen anbrachte. - "Das ist Uta", sagte Greta: "aus der Bühnenbildklasse." - "Ach, wahrscheinlich hätte ich sowieso nur Zwischenbemerkungen und Witze über die kurzen Beine der Japaner gemacht und auf diese Weise versucht, mit dir zu flirten." - "Trotzdem schade, ich hab nicht mal ein Manuskript. Und wieso flirten? Ist was mit dir und Roberta?" - "Ach, sie telefoniert zu viel!" setzte er sich zwischen sie: "Gestern hielt ich es nicht mehr aus und fragte, mit wem sie gerade telefoniert hat", log er sie an - daß das ZDF ihn ernstnahm, hatte sein Selbstwertgefühl beflügelt: "Du wirst es nicht glauben, die Antwort war: Ich weiß es nicht. Hast du verstanden? Sie sagte: Ich weiß es nicht. Was soll man nur davon halten?" - "Sie wußte es eben nicht", sagte Greta in kraftloser Solidarität: "Das gibt es doch." - "Ja, ja, sie wußte es nicht, die Frau - das ist das Wesen der Frau, sie 'Weiß nicht!'" Doch als er seinen komisch gemeinten Ausfall mit einem "Da bleibt einem doch nur übrig, sich permanent einen abzuwichsen" noch krönte, meinte Greta bloß: "Nicht schon wieder." Sie war wirklich von ihm enttäuscht. Immerhin reagierten andere richtig und riefen amateurhaft im Chor: "Das hast du doch gar nicht nötig." - "Wieso?" Wozu Uta erklärte, dabei zog sie die Augen unter seinem frischangebrachten Plakat ironisch nach oben, als müsse sie überlegen: "Ich kenne mindestens - warte mal - fünf Frauen, die gern mit dir schlafen würden." - "Wo sind sie denn?" - "Hm, Hm", machte sie geheimnisvoll. - "Ach, das hätte sowieso keinen Sinn, ich bin ja fast impotent; das Alter, all das, du weißt." - "Das kann ich nicht glauben, dann wär Roberta doch nicht mit dir zusammen", sagte Uta. Weil sich die anderen gelangweilt abgewandt hatten, um wieder über Gretas Vortrag und die mögliche Bedeutung Japans für die heutige Kunst zu diskutieren, fragte Carl sie nach ihren Absichten für die Zukunft - natürlich nur ein Füllsel von erbärmlichster Qualität, besaß er doch überhaupt kein Organ für solche Pläne und keinen Blick für die Perspektive einer bühnenbildnerischen Karriere. Uta erklärte sofort sehr temperamentvoll, daß sie auf keinen Fall eine Lehramtsprüfung machen und Lehrerin werden wolle: "Das hieße ja kapitulieren!" - "Greta, kannst du mich an der Kaffeestube absetzen, wenn du fährst?" brachte er dieses Kindergartengerede zu einem Schluß. Er mußte raus aus diesem Künstlergefängnis, unter normale Leute.

In der Kaffeestube sah er Holger mit einer abgebrochenen Stuhllehne zwischen den Tischen herumgehen, was leider schon mal nicht besonders normal war. Die beiden Mittelsprossen oder vielmehr die Art, wie Holger sie bei seinem Suchen bewegte, verliehen ihr den Charakter einer Wünschelrute, von der Holger nun behauptete, sie sei ein Intelligenz-Suchgerät - solchen Spaß war man von Holger gewohnt; wie Carl hatte auch er einmal Filme gemacht, beachtliche sogar, dann war er ein Jahr in einer Art Irrenanstalt, weil er sich für Christus hielt - Carl bekam es erst mit, als sein Freund wieder herauskam: das Gesicht sonderbar aufgedunsen, unter den Augen bläuliche Tränensäcke, die ihn nicht mehr verlassen sollten. Kaum hatte sich Carl gesetzt, lieh ein untersetzter Typ sich einen Stift bei ihm aus, womit er, über einem blauen Tabellenwerk und zu den Geräuschen der am Nebentisch hastig gedrückten Schachuhr - man war in einen aggressiven Franzosen verwickelt - unter Murmeln begrübelte, ob er, um seinen Schadensfreiheitsrabatt zu behalten, die Reparaturkosten eines von ihm verursachten Autounfalls selbst bezahlen oder das der Versicherung überlassen solle. Carl spielte hier häufig Blitzschach. Bei dieser Art Schach blieb der Gewinner einer Partie, jeder hatte insgesamt fünf Minuten Bedenkzeit, am Brett, indes der Verlierer dem nächsten Platz machen mußte. Manchmal schaffte es Carl - mit den schwarzen Figuren begegnete er dem Königsbauern gewöhnlich sizilianisch, der Damenbauer eines starken Gegners konnte mit nimzo-indischen Verteidigungen rechnen - acht oder zehn solcher Partien sitzen zu bleiben; so erschöpfend dies sein mochte, auf diese Erschöpftheit kam es an, auf sie und das große Gefühl beim kleinen Gewinnen. - "Willst du mitspielen?" rief ein gewisser Mahler herüber, weil er grade verloren hatte. - "Später", erklärte Carl, dem auffiel, daß Mahler heute ohne seine Krücken hier war. - "Wieder alles in Ordnung mit dem Bein?" fragte der Mann mit dem Kugelschreiber. - "Leider nicht", gesellte Mahler sich ihnen zu: Nach seinem Beinbruch müsse er jetzt hinken; die Heilgymnastin habe ihn angeschnauzt, er solle nicht gehen, wie es sich für ihn im Moment am bequemsten anfühlte, sondern so, daß sich die Muskeln richtig bildeten. Dabei habe er eine Sehnenentzündung bekommen - seither ginge er hochvorsichtig durch die Welt, äußerst bewußt und überlegte, ob er nicht sein Leben ändern müsse, es sei ohnehin Zeit.

Auf der Suche nach Intelligenz schwebte Holgers Suchgerät mittlerweile über dem Schachtisch und, offenbar auch dort nicht fündig geworden, hin- und hertastend weiter durch den Raum, um dann, Carl hatte es befürchtet, zu ihnen zu kommen, wo es sich zögernd, aber mit immer größerer Gewißheit, jedoch nicht auf ihn, sondern das vor seinem Gegenüber stehende Cognac-Glas einstimmte: "Geballte Intelligenz!" verkündete Holger. - "Genau!" rief der Typ: "Hier steckt die Intelligenz!" und trank das Glas aus. Nein, die Gaben des Geistes wurden hier nicht gehaßt, aber allzu Hervorstechendes wirkte monströs, nicht weniger als Holgers Suchgerät, es machte unbeliebt, als sei es die Demonstration einer gegen den üblichen schleppenden Gang der Welt gerichteten Gesinnung. - "Tag, Holger", rief Carl: "Wie siehts aus?" Doch bevor Holger zu antworten wußte, packte sein Gegenüber, von Schnaps deutlich beflügelt, sein sonderbares Tabellenwerk samt Abendblatt und Morgenpost in einen Aktenkoffer und verabschiedete sich mit einem: "Vielen Dank für den Schreiber - Ich muß in die Schule!" - "Was für eine Schule?" fragte Mahler. - "Zur Trinkerschule, ha, ha, ha!" - "Guck mal nicht deinen Mitschülerinnen unter den Rock", rief Bach, ein etwas ruppiger Spieler, der grade leicht gegen einen als schwach bekannten Gegner gewann, vom Schachtisch herüber. - "Das tue ich nur bei den Krankenschwestern, ha, ha, ha!" Vor einem Jahr erst, hatte dieser Typ Carl neulich erzählt, habe er sich das Rauchen angewöhnt, jetzt wolle er es sich abgewöhnen, indem er seine erste Marlboro jeden Tag eine Stunde später anzündete. - "Das werde ich alles den Leuten in der Schule erzählen!" rief er mit rotem Gesicht energisch in seinem Abschied. - "Komischer Typ!" sagte Holger: "Neulich hat er mir einen Reiseleiter-Paß verkaufen wollen." - "Vollalkoholiker!" verkündete Mahler, "er macht eine Entziehungskur, das meint er mit Schule." Solcherlei Einsichten hatte hier mancher, sie wurden aber, trotz allen Polterns, nur zaghaft zur Schau gestellt, fast überhaupt nicht sprach man dagegen über Gesinnungen oder den eigenen Charakter - an sich nicht weiter erstaunlich, so ist das nun mal unter den Menschen: Was tiefer geht, ist und macht nicht beliebt, an so einem Ort, über dem dennoch eine eigentümliche Zärtlichkeit schwebte, ein zärtliches Rücksicht-Nehmen, muß es im Nebenbei erreicht werden. - "Ist mir gar nicht aufgefallen." - "Vorsicht!" lief plötzlich wer mit einem Wassereimer vorbei: "Hinten brennt es! Aber keine Panik, ist nicht so schlimm" - "Wolltest du nicht eine Videoanlage kaufen?" fragte Carl zu Holger: "Caspar will seine loswerden, sie hat Zehntausend gekostet." - "Ich weiß nicht. Spielst du heute kein Schach?" - "Ich bin schon so mit den Nerven am Ende." Im Nebenraum wurde es lauter, zwei weitere Leute eilten mit Eimern vorbei. Neugierig folgten sie, und tatsächlich, im hintersten Raum des Cafés brannte es unter dicht weißem Rauch, eigentlich schwelte es eher; Kellner und Gäste bildeten daher nun eine Kette oder Kolonne, in der jeder dritte oder vierte wassergefüllte Eimer in Händen hielt, ohne recht zu wissen, was damit anzustellen war: Einerseits sollte das Feuer gelöscht werden, andererseits eine unnötige Überschwemmung vermieden. Der Feuerlöscher des Cafés habe nur kurz geploppt und nicht funktioniert, teilte jemand aufgeregt mit, da näherten sich bereits Feuerwehrsirenen. Und als eine saubere blaue Uniform durch den Gang stürzte, mit eigenem Feuerlöscher eifrig suchend voran, als könne er gar nicht abwarten seinen Seinszweck zu erfüllen, hörten selbst die Blitzschachspieler mit ihrem Gespiele auf. Unter den staunenden Augen der Eimerkolonne löschte der Feuerwehrmann den Schwelbrand mit einem kurzen, energischen weißen Zischen so mühelos, daß es komisch war und Carl die drei Feuerwehrautos, die nun vor der Tür warteten, wie unverhältnismäßiger Aufwand vorkamen - Typisch für diesen Staat, dachte er, aber im Nachherein ist man ja stets schlauer. Wie bei Filmproduktionen: auch da steht eine Unzahl potentieller Helfer die meiste Zeit scheinbar ganz unsinnig herum. Aber wahrscheinlich war es nicht nur sinnvoller so, sondern letzten Endes auch billiger und effizienter - irgendwann lief immer was schief, und dann brauchte man sie auf einmal, all diese angeblich überflüssigen Leutlein.

Auf den Tischen hatte sich Feuerlöschstaub verteilt, auch in den Räumen, wo nicht gelöscht worden war, ganz dünn, eine feine weiß ölig wirkende cremige Schicht; der erstickende Geruch verbrannten Plastiks stach jetzt in den Lungen, wovon sich die Blitzschachrunde indes nicht mehr beeindrucken ließ, man hatte wieder begonnen, das Lokal mit dem angestrengten Klackern der Schachuhr zu unterhalten. Auch von den übrigen Kunden befanden sich die meisten bereits wieder an ihren Plätzen, manche mit leichten Kopfschmerzen, aber was solls! Was sonst gabs an so einem Mittwoch schon zu tun. Von außen sah das traurig aus, nicht sehr gesund - Ach, sagte sich Carl, während er das Café verließ, von außen! Was sieht von außen schon gesund aus. Fährt man lange in einem Zug, kommt einem nur das Leben darin einigermaßen vernünftig vor. Und von Stunde zu Stunde immer unbegreifbarer, was die Menschen dort draußen alles so anstellen und machen, ihr Verhalten erscheint oft geradezu widersinnig. Die Schranken zum Beispiel, die man sieht, sie sind immer geschlossen: als Reisender müßte man sich eigentlich fragen, warum die Leute mit ihren Autos so idiotisch davorstehen. Was haben sie nur davon? Aber man fragt nicht und nimmt statt dessen an, sie hätten alle ihren eigenen guten Grund, ihr Leben lang mit ihren Autos vor diesen Schranken zu warten, die sich nie öffnen würden. Und perverserweise stimmte das auch, sogar im metaphysischen Sinn. Er überlegte, ob er Roland im Krankenhaus besuchen sollte. Als Reflexion in einem Schaufensterspiegel, also von außen, machte sein Gesicht einen zerknitterten Eindruck. Wäre er gezwungen, es dauernd zu sehen, würde er mit einer attraktiven Frau (was immer das sein mochte, ja: worin bestand für ihn eigentlich die Attraktivität einer Frau?) nicht mehr reden können. So gesehen wunderte er sich, daß attraktive Frauen überhaupt mit ihm sprachen - Roberta war schließlich attraktiv.

Nach dem Krankenhaus fand er Joachim mit einer Kamera und einer Lampe zum Ausleuchten in seinem Zimmer. - "Das ging ja schnell", wunderte sich Carl: "Was nimmst du überhaupt auf?" - "Na, die Unordnung, worin du lebst, das lohnt doch." - "Ich dachte, du wolltest Bilder von mir machen?" - "Ich dachte erst mal das Zimmer, oder hast du was dagegen?" - "Nein, nein, mach nur, aber ich muß noch was tun." - "Eigentlich bin ich fertig." Carl fiel auf, wie unangenehm Joachim schien, beim Drehen überrascht worden zu sein. "Warst du bei Roland?" wurde er von ihm gefragt. - "Ja, schönen Gruß." - "Seine Mutter hat angerufen, ich hab ihr nichts erzählt, war doch richtig, oder?" - "Ich denke schon. Fast komisch, wie er zwischen den Lebenserhaltungsgeräten lag. Er schien richtig ein schlechtes Gewissen zu haben, daß ihm sein Selbstmord nicht gelungen ist." - "Oder daß er es überhaupt probierte." - "Vielleicht beides", gab Carl ihm Recht: "Er war so bleich zwischen diesen Apparaten. Es gibt ein Schumann-Lied: 'Sei meiner Schwester nicht böse, du blasser, fremder Mann' - daran mußte ich denken. Ich fand diese Zeilen immer geheimnisvoll." An der Art, wie Joachim unterdessen die Kamera wegpackte, an den hastigen Bewegungen, erkannte Carl, daß sein Mitbewohner unter mehr als nur einer Spur schlechten Gewissens litt. Diese Aufnahmen waren ein Versuch, ihn, Carl, zu demaskieren, er kannte das, er hatte auch einmal Bilder von einem älteren, schon ein wenig berühmten Freund gemacht, offenbar machen müssen, der für ihn damals eine ähnliche Funktion haben mochte, wie er sie jetzt für Joachim ausfüllte. Es erinnerte an Magie - jemanden auf einem Bild haben, ihn zur Verfügung zu haben, vor allem, wenn man das Bild selbst gemacht hatte, hieß Besitz von ihm ergreifen. Und indem man es in ein eigenes Gefüge einschneidet, einen eigenen Film, macht man sich zum Herrn dieser Person, gerade wenn man sich ihr unterlegen fühlt; eine vielschichtig verschachtelte Sache, anscheinend gehörte so ein Sich-Abstoßen zum Heranwachsen. Und wahrscheinlich sogar zum Filmmachen, eine Art Vatermord; komisch war freilich, daß er nie das Bedürfnis verspürt hatte, Bilder von seinen eigenen Vater zu machen. Im übrigen muß mich Joachim im Moment für total verrückt halten, schoß Carl dann durch den Kopf: kaum war die Kamera eingepackt, war er aus dem Zimmer geflüchtet, ohne ein Wort zu sagen. Dahinter steckte mehr als getarnter Vatermord, fast schon Angst vor Verrücktheit; Carl waren solche Momente, in denen man die ganze Welt für irrsinnig erklären will, nicht grade unvertraut. Nach diesem Selbstmordversuch muß Joachim die Situation hier in der Tat ziemlich verrückt vorkommen - vor allem, daß er sich selber darin befand! Flucht! Kaum an mehr als bloß Flucht wird er jetzt denken, dachte Carl; und trotzdem schnell noch ein paar Bilder mitnehmen, soviel hatte Joachim mittlerweile gelernt: daß man sich der Welt in der Kunst nämlich aussetzen muß und nicht immer weglaufen kann, nur weil einem was nicht gefällt - wer Bilder aus einer schwierigen Situation mitbringt, kann immerhin behaupten, nicht zuletzt vor sich selbst, es hätte sich vielleicht doch gelohnt, sich dem auszusetzen.

Nachdem Joachim verschwunden war, arbeitete Carl an seinem Topologievortrag und sah anschließend einen schönen 5:1 Erfolg der deutschen Mannschaft über die Schweiz. Roberta kam pünktlich zu Billy Wilder, um zehn, und erklärte, sie habe den ganzen Tag an den Wänden herumgegipst. Er sah sie richtig vor sich, in ihrem grauen Overall auf einer Aluminiumleiter herumbalancierend, den Spachtel in der Hand, an einer glatter und, wegen der Feuchtigkeit des Gipses, zugleich fleckiger werdenden Wand. Wieder regte sich der süße Besitzerstolz, den er in Cannero empfand, in ihren glücklichen Momenten, nicht nur als sie in ihrer herumspringend glatten Nacktheit Mücken jagte, nein, nie und nimmer hatte dieser Stolz den Charakter des Bösen. - "Ja, anstrengend", feierte sie ihren Tag: "Erst mit dem Auto Baumaterialien und Gips gekauft und dann die ganze Zeit, puh, gearbeitet!" - "Ah, Gips, wie riecht das eigentlich?" fragte Carl. Aus seiner Kindheit war ihm wohl der Geruch feuchten Zements vertraut, sehr sogar, nicht aber der von Gips. Woraus bestand überhaupt Gips? Calzium-, Natriumsulfat? Man benutzte ihn - wußte er wirklich nicht mehr? - bei Knochenbrüchen: "Komm laß mich mal riechen?" Erst wollte sie es nicht zulassen, doch als er sie schnell an den Händen packte und an dem weißen Zeugs herumschnüffelte, das unter ihren Fingernägeln eingeschmiert war, da roch er den Gips: "Ja, Gips, so riecht also Gips", lachte er, bis er auf einmal stutzte: "Ich glaub ich bin verrückt. Sag mal, was ist das für ein lustiger Gips, der riecht ja wie Sperma", und dabei dachte er: Ich hab nicht alle Tassen im Schrank. - "Was, du spinnst", sagte sie, und er: "Ich mach ja nur Spaß, aber wenn ich was kenne, ist es der Geruch von Sperma." - "Du spinnst!" lachte nun sie, ihrem Atmen merkte er aber an, daß etwas Seltsames an ihrem Lachen war. - "Aber ich rieche es doch", tat er überzogen zornig. - "Na gut!" sagte sie plötzlich und ließ eine unklare Pause folgen, in der sich ihrer beider Stimmung zu drehen begann, und gerade, als er weiter sticheln wollte, kam es heraus: "Na gut, ich habe heute abend mit Walter geschlafen." - "Was? - Du bist verrückt." - "Ja, vielleicht", sagte sie: "aber es stimmt." - "Ich glaube es nicht!" - "Doch, hör zu: Ich bin mit Walter zusammen gewesen, und wir haben miteinander geschlafen!" - "Ich glaube dir nicht", wiederholte er, und auf einmal wurde sie wütend: "Dann riech noch mal, hier riech, was du da riechst ist das Sperma von Walter!"

Vom Sessel neben dem Bett steckte sie sie ihm ins Gesicht, diese Hände, voller Empörung kamen sie ihm jetzt entgegen, wie zornig darüber, daß er ihr nun, da sie endlich die Wahrheit sagte und ehrlich war, nicht glauben wollte. - "Riech, riech, riech!" drangen gemeine neue Wortbrocken aus ihr heraus. - "Das kann doch nicht wahr sein", rief er: "Ich habe neulich doch mit Walter gesprochen. Du bist verrückt! Sag, daß du verrückt bist." - "Na gut, ich bin eben verrückt, und was willst du jetzt tun?" - "Dich ficken", sagte er leise, obwohl ihm das noch verrückter erschien. - "Dann mach doch", sagte sie, "einer mehr oder weniger macht doch nichts aus." - "Du bist wirklich verrückt", wiederholte er, umnebelt von plötzlich würgendem Zorn. - "Oder willst du dich lieber wie Roland umbringen?" fragte sie. - "Du dumme Sau!" rief er und stürzte sich auf sie, er mußte sich einfach auf sie stürzen und sie irgendwie schlagen. Aber er schlug sie nicht oder jedenfalls nicht richtig, und ganz falsch fühlte sich an, daß er sie jetzt aufs Bett zerrte, aber da spürte er eine gierige Umarmung, die ihn nicht weniger gierig ihr die Hose hinunterzerren ließ, jetzt wollte er die Nacktheit dieser Schenkel und die Schenkel spüren. Ja, und er spürte sie und drang gleich in sie ein, fast sofort hatte er einen Samenerguß, alles in wenigen Augenblicken und in einer Wüste, wenn man so will, wütenden und zugleich in den Körper des anderen sich krallenden Schweigens, das seine Kraft aber jetzt erst noch auszuprobieren gedachte. Anschließend blieben sie aufeinander liegen, blieben sie ineinander liegen, ohne sich zu rühren, erschöpft, völlig erschöpft durch die Plötzlichkeit, vielleicht auch die Gewaltsamkeit dieser im Grunde sinnlosen Aktion nach diesem ebenso sinnlosen Bekenntnis; nein, nicht völlig erschöpft, eher völlig erschöpft tuend, spürte er in sich doch deutlich die Hoffnung klirren, diese Art Vergewaltigung, die da von ihm in Gang gesetzt worden war, und es war doch eine Vergewaltigung, wobei ihn allerdings unbegreifbar blieb, mit welcher Heftigkeit sich dabei ihre Fingernägel in seinem Rücken verkrallten, stärker und schmerzhafter als je zuvor, hätte den Körper Walters aus Robertas Körper hinausgetrieben und sein Samen den Samen, den Walter in ihr hinterlassen hatte, weggewaschen. Noch während er mit geschlossenen Augen, als wäre er eingenickt, auf ihrem Körper ruhte, versuchte er, dieses seltsame Gefühl von Auslöschung und Reinigen, das in ihm am Wirken war, zu analysieren und es sich, während sein Rücken von ihren Fingernägeln noch immer leicht schmerzte, zumindest begreifbar zu machen. Er faßte ihr von neuem zwischen die Beine und roch an seinen Fingern. Es roch noch immer nach Sperma. Warum empfand er jetzt nicht mehr die rasende Eifersucht, die ihn dazu getrieben hatte, genau das zu wiederholen, was sein Rivale, sein Konkurrent getan hatte? - "Riech mal!" sagte er und lachte, als sie den Mund verzog. Über wessen Sperma verzieht sie jetzt wohl den schönen Mund, überlegte er, aber er merkte, daß er noch gar nicht richtig verstanden hatte, was eigentlich vorgefallen war, daß er noch nicht einmal verstanden hatte, daß überhaupt etwas vorgefallen war. - "Nicht schlecht", bemerkte er sinnlos und fühlte, daß seine Gesichtszüge, oder genauer gesagt: ihre Ausdrucksmuskeln, seinen Empfindungen nicht mehr gehorchten, und nichts wiederzugeben vermochten, keine Furcht, keine Wut, und schon gar nicht Verachtung, sie waren erstarrt. - "Warum hast du es getan?" schluchzte er plötzlich auf. - "Ich weiß es nicht", sagte sie gequält: "Ich glaube, es ist bloß meine Selbstzerstörungssucht." - "Was meinst du denn damit?" - "Ach, ich weiß nicht." - Nein, nein dachte er, das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein, und doch war die Untreue tatsächlich vorgefallen und nicht nur im sentimentalen Sinn nie wieder gutzumachen. Und dann bestätigte Roberta, ohne es zu wollen, seine verqueren Überlegungen mit derselben rohen, wörtlichen Aufrichtigkeit, mit der sie kurz zuvor ihre Untreue zugegeben hatte: "Jetzt gehöre ich nicht mehr Walter, ich gehöre wieder zu dir."

Das erfüllte ihn so voller Zorn, daß er sie noch einmal fickte, aber da erschien es ihm schon ganz sinnlos - nur dieses erste Mal hatte etwas zu reinigen vermocht, es reinigte aber nur kurz. Beim darauffolgenden Mal war es noch schlimmer. In der Nacht bekam er Heulkrämpfe. Irgendwann wachte sie davon nicht einmal mehr auf. Besonders ungerecht schien ihm, daß er nach all seinem Mißtrauen gerade an ihr gemeinsames Glück zu glauben begonnen hatte. Er hatte so sehr geglaubt, daß sie diesen Film zusammen machen konnten: nach dem Anruf des ZDF schien alles perfekt zu verlaufen. Er hatte Roberta noch gar nicht davon erzählt. Nein, durch nichts war er auf diesen Betrug vorbereitet, völlig unverständlich kam er ihm vor. Wie sollte er, in solchem Zustand, morgen beim ZDF sein Projekt präsentieren? - er würde währenddessen zu schluchzen beginnen; auslachen würde man ihn, auslachen und immer wieder auslachen. Sie hatten doch heute morgen noch miteinander geschlafen, sie waren sogar zusammen gekommen - Sie hatte doch schon, was sie braucht, für heute, dachte er wieder eher gekränkt als wirklich wütend, wie konnte sie ihn da betrügen? Oder betrog sie ihn gerade deswegen - verachtet die Frau den Mann, der sie befriedigt? Weil er sich so viel im Grunde lächerliche Mühe mit ihr gegeben hatte? In den Büchern stand es anders. Es gab Männer, die ihre Frauen verachteten, weil sie beim Ficken die Kontrolle über sich verloren und gewissermaßen schlimmer als Tiere wurden, davon hatte er gehört, aber konnte das auch anders herum wahr sein? Das machte doch keinen Sinn - Ach, wer will schon wissen, was genau in den Menschen vor sich geht, grübelte er im Halbschlaf noch und merkte, daß ihn solches Grübeln immerhin ein wenig beruhigte, daß ihn das Suchen nach einer Art Wahrheit dahinter ein wenig gefaßter machte - ihn jedenfalls hatte weibliche Erregtheit bislang immer erregt, wahrscheinlich gerade, weil die Frau die Kontrolle über sich verlor. Nein, alles andere macht doch gar keinen Sinn. Und morgen Mainz! Nein, er würde sich mit Roberta irgendwie wieder zuammenraufen müssen. Er atmete noch einmal heftig, als ahnte er, daß das nicht so leicht werden würde, dann schlief er ein.



K. Wyborny

7 TAGE EIFERSUCHT

II.

UNTER DER WEISSEN FLAGGE DER VERNUNFT


1. Tag

 

Der Wecker klingelte um 5 Uhr 20, ein paar Minuten später war Carl wach. Wie ihm klar ward, was gestern geschah, schob er ihr nochmal den Schwanz rein - Vielleicht das letzte Mal, dachte er, bevor er sich ankleidete. - "Was ist los?" fragte sie. - "Ich muß nach Mainz, zum ZDF." - "Jetzt?" - "Ja, heute." - "Wieso hast du mir das nicht gesagt?" - "Es gab ja ne Menge anderes zu bereden." - "Nichts von dem, was wichtig ist, sagst du mir." - "Dafür hast du mir ja gestern eine Menge gesagt!" - "Es tut mir leid", sagte sie, als hätte sie etwas vom Ausmaß seiner Enttäuschung begriffen: "Glaub mir, ich habe das nicht gewollt." Es war dunkel und naß, wie er zum Flughafen fuhr. Die 7 Uhr Maschine, für die er gestern gebucht hatte, fiel wegen Nebels in Frankfurt aus, so war er froh, einen Platz um halb neun zugewiesen zu bekommen. Carl empfand das Warten unter all den Geschäftsleuten in ihren Mänteln und Plänen als deprimierend - Wie viele von ihnen mochten gestern Abend wie er betrogen worden sein, heiterte er sich auf. Hier saßen sie nun zusammen unter der Flagge der gemeinsamen Vernunft. Es schien grauenhaft, sich als Einzelner in dieser Geschäftswelt behaupten zu müssen, jeder Einzelne von ihnen mußte das. Und er mußte es auch, sonst säße er gar nicht hier. Ach Roberta, dachte er, warum hast du es gerade jetzt machen müssen?

Selbstverständlich wußte er, daß es für Betrug nie einen guten Zeitpunkt gibt. In den meisten Fällen überrascht es nicht allein den Betrogenen, nicht selten staunt auch der Betrüger über den Zeitpunkt - oft zerstört er ja das eigene Leben in viel größerem Umfang als das des Betrogenen: Ich war hilflos, hört man dann, ich hab es nicht gewollt, und der Witz war, es stimmte! Sie haben es nicht gewollt. Einer von Robertas merkwürdigeren Zügen, jetzt beim Warten wurde es ihm klar, bestand in einer Art Reflex - oder war es ein Bedürfnis? - dasjenige zu realisieren, was andere über sie dachten. Das beruhte nicht auf Überlegung, sie exzerzierte es einfach. Vielleicht blieb ihr nichts anderes übrig. Vor seiner Amerikafahrt gab er ihr zu verstehen, sie solle ruhig mal mit Leuten ihres eigenen Alters ficken - sonst verlöre man nämlich das Gefühl für das Einzigartige am Leben, das spiele sich nur (schon als er es aussprach, fühlte er, daß das kaum stimmen konnte, er vergaß aber, es ihr mitzuteilen) in der eigenen Generation ab. Und gleich zwei Wochen nach seiner Abfahrt hatte sie, wie er von Volker erfuhr, mit drei Gleichaltrigen gefickt - Volker mußte es wissen, als einer davon hatte er unter den anderen gelitten. Nicht weniger gefährlich war, sie vor etwas zu warnen, das brachte sie auf Ideen. Daran erkennt man die Phantasielosen, folgerte Carl, während er die phantasielos gleich ihm stoisch wartenden Handlungsreisenden betrachtete: Gib ihnen eine Idee, und sie werden sie ohne Rücksicht auf ihre Mitwelt realisieren, koste es was es wolle. Und zwar nicht, das war der Witz, um damit Geld zu verdienen, sondern bloß, weil ihnen nichts besseres einfiel. Selbst Robertas Sache mit Walter folgte diesem Muster: seine idiotischen Telefonate nach Mettmann - gar nicht mal weit von diesem Neanderthal, einmal hatten sie es sogar zusammen besucht, eine erstaunlich liebliche Angelegenheit - machten ihr klar, daß er mit Betrug rechnete, in irgendeiner Form, und da hatte sie ihn eben betrogen, so einfach war es im Grunde. Und dann gab es den Hanns in Köln, in Berlin Werner und diesen Harald aus München, lauter halboffene Geschichten, immer mit irgendwie aufstrebenden Künstlern - nein, er mußte Schluß machen, mit ihr, ihre Biographie bestand aus solch halboffenen, schlauerweise nie ganz beendeten Geschichten, sie würde wieder damit anfangen, wenn sie sich damit etwas beweisen könnte, oder auch nur einfach so. Ja, 'Einfach so', wie Leif so schön in einem seiner Lieder singt.

Viertel vor zehn Frankfurt. Sein Gesprächstermin war für zehn angesetzt, und so fragte er beim ZDF an, ob er, um der Verspätung willen, ein Taxi nehmen dürfe. Frl. Ehlers gab die Erlaubnis, Nebel sei höhere Gewalt, das könne man bei jeder Finanzprüfung begründen. Bei so einem Betrug ging das natürlich nicht, dachte Carl. Das neue ZDF-Gelände auf dem Lärchenberg bei Mainz war ihm noch unbekannt. Trotz ihrer Größe wirkten die neuen Gebäude außerhalb der Stadt irgendwie verloren, als hätte sie jemand wirklich Großes achtlos hierhin gestreut. Das Taxi durfte nicht auf das Gelände, Angst vor den Terroristen, Carl mußte am Eingang den Paß vorlegen und sich beim Pförtner registrieren lassen. Er bezahlte fünfundfünfzig Mark für das Taxi - hoffentlich bekam er es wieder, für ihn viel Geld - und ging mit seinen Filmen und dem Projektor die sechshundert Meter zum Hauptgebäude. In einer so weitläufigen Anlage zu Fuß gehen, mit so viel Gepäck, fühlte sich widersinnig an, das Ganze war für Autofahrer konzipiert; und bloß wegen der Terroristen. Unterwegs mußte er an die Zartheit von Robertas Armen denken und wie sich ihre Hände in einen nackten Rücken krallten, in Walters Rücken, der Moment, worin sie ihn betrog - der ewige Moment! dachte er und setzte sich, vor dem anstehenden Treffen mußte er sich erstmal beruhigen, auf den Kantstein, wohin denn sonst, und beobachtete zwei Männer, wie sie aus einem Hydranten Wasser auf die Straße spritzten, um irgendwelchen Dreck, der sich in eine dünn glänzende Matschschicht verwandelte, vom Asphalt zu spülen. Die Anlage sollte sauber sein. Ja, dieser Moment, der ewige Moment, dachte er wieder, Du dumme Sau! Doch wieso hatte sie sich, heftiger als je zuvor, es schmerzte richtig, anschließend auch in seinen Rücken so verkrallt? Hatte sie die Begegnung mit Walter so enttäuscht, daß sie sich nun um so heftiger wieder an ihn, Carl, heften wollte? Ein paar Bäumchen und Büsche standen kläglich zwischen den nackten Betonbauten herum, mit braun geworden zerzaustem Blattwerk, die Begrünung der Anlage steckte noch in den Anfängen; nur die Rasenflächen hatten schon das von der Planung vorgesehene, jetzt im Oktober freilich ebenfalls unansehnlich graubraun gewordene Aussehen. Ja, Gras wuchs überall, dachte Carl - das ewige Gras!

Stumms war noch nicht im Büro, er bespräche noch etwas mit Ungureit, einem ehemaligen Filmkritiker, nun Produktionschef der Anstalt, der für Leute wie Carl mit ihren 8- und 16-Millimeter-Filmen nur noch Hohngelächter übrig hatte. - "Furchtbar, dieses Wetter. Wie geht's?" sagte Frl. Ehlers. - "Auf und ab; je nachdem, wies im Privaten läuft." Sie telefonierte mit einer Münchener Produktionsleiterin, die 20.000 Mark für ein Werbeessen haben wollte, Publicity für einen grade gedrehten Film; Carl fand interessant, wie Frl. Ehlers, deren Abteilung nur kleine Etats zu verteilen hatte, sich darüber aufregte. Vor drei Jahren war er schon einmal in Mainz - damals befand sich das Büro noch im Stadtkern, in fast einer Art Mietshaus, auch diese Abteilung wuchs; selbst Frl. Ehlers schien voller geworden, doch so genau konnte er sich nicht an sie erinnern, vielleicht war sie in ihrer Funktion gewachsen. Sie entstammte dem Ruhrgebiet und interessierte sich, wie sie gleich unmißverständlich mitteilte, vor allem deshalb für sein Filmprojekt, weil er vorhatte, es dort zu realisieren. - "Ich grüße Sie", sagte Stumms, ein moderner leitender Angestellter in Jeans und Pullover: "Bauen Sie Ihren Super 8-Projektor doch schon mal im Konferenzzimmer auf."

Es gab nicht viel aufzubauen. Anschließend sahen sie sich in einen Schneideraum erst mal sein 'Unerreichbar Heimatlos' an, in 16mm, den ersten seiner Flackerfilme, zugleich der Spektakulärste , wovon er allerdings nichts spürte, als er den Film - er hatte ihn selbst eingelegt und saß an den Bedienungsknöpfen - jetzt wahrnahm. Das Bild wirkte auf ihn entsetzlich düster, sogar für einen Schneidetisch, doch man bestand darauf, den Raum nicht abzudunkeln, denn, wie Frl. Ehlers sagte: 90 Prozent der Haushalte würden in hellen Räumen fernsehen. Neben Stumms und einer Redakteurin, deren Name ihm gleich wieder entfiel, saß sie drei Meter hinter Carl, während der Film hilflos in diesem Halbdunkel vor sich hin flackerte, obwohl darin doch die raffinierte rhythmische Struktur, um mal zu sehen, was dabei herauskam, von Beethovens letzter Klaviersonate visuell abgebildet war. Damit die visuellen Rhythmen als solche wirkten, gab es zu dem Film keinen wie auch immer gearteten Ton, so daß nur das technische Rumoren des Schneidetischs die Stille hier füllte. Sie beobachten meinen Nacken bestimmt sorgfältiger als die Bilder, hörte er bald auf, sich etwas davon zu erhoffen und merkte, daß er die Initiative bereits auf vermutlich irreversible Art verloren hatte. Für so eine Vorführung war sein Film nicht gemacht; aber jetzt lief er nun einmal hier, ein schwerer Fehler, er mußte sich - wie bei Roberta! dachte er wütend - damit abfinden. Nein, nein, er durfte sich doch nicht damit abfinden, er mußte was tun; doch als er dazu ansetzte, den Bildrhythmus mit den Händen mitzuschlagen - darin bestand ja nicht zuletzt die Idee, die er hier präsentierte: visuelle Musik mit Rhythmus und Melodie! - gelang es nicht, es war ihm im übrigen noch nie richtig gelungen, auch nicht, wenn er sich besser fühlte, irgendwie drangen Bildrhythmen nicht so intensiv in den Körper wie, sagen wir Tanzmusik; nein, es war nie gegangen, warum nur hatte er es jetzt noch mal probiert? Wollte er hier verlieren und untergehen? Es wirkte geradezu kläglich - nein, er hatte verloren. Er geriet in ein Stadium immer dumpferer Depression und spürte richtig, wie seine Schultern unter ihren Blicken zusammenschrumpften: Hier wird nichts laufen; nichts, nichts, nichts, es wurde immer klarer - warum nur hatte er sich in etwas so Demütigendes hineinbegeben? Daß sie mit seiner neuen Art Film nichts anfangen könnten, mit seiner rhythmischen Stummheit, war doch von vornherein klar. "Sei nie zu stolz, dabei zu sein!" das Motto, das ihm in solchen Situationen sonst manchmal zu Hilfe kam, schmeckte ihm auf einmal so bitter, wie es angelegt war.

Nach der Vorführung war die Freundlichkeit der Redaktion deutlich gedämpft. Stumms meinte, er könne sich das wohl ganz gut als Museumsstück vorstellen, aber wie manche Bilder, die im Museum schön wären und die man doch nicht bei sich zu Hause aufhängen wolle (- "Du Arschloch!" dachte Carl, "du könntest dir doch gar kein Bild von Museumsqualität leisten! Wahrscheinlich hängen Bierkrüge an deinen Wänden, garniert mit von deiner Frau auf euren Urlaubsreisen erworbenen Eingeborenenspeeren!"), so sei es mit diesem Film - nichts fürs Fernsehen! In Carls ästhetischem Orientierungssystem war das mit dem Museum eher ein Kompliment und nicht die verlogene Beschimpfung, als die es gemeint war, aber nach dieser miserablen Vorführung fand er den Film selber so miserabel mißraten, daß das mit dem Museum wie Spott in seinen Ohren klang: ein so schlechter Film gehört in kein Museum! Für seine Ansicht interessierte sich hier allerdings schon niemand mehr, ihr Urteil hatte sich gebildet, und so ging es wieder nach oben, ins Zimmer 551, wo Stumms verkündete, die Fernseharbeit werde immer schwieriger, mit den ganzen Medienproblemen, Privat- und Kabelfernsehen, die jetzt anstünden; es gäbe jetzt viele Nervenschäden im Haus, keiner blicke mehr durch, und seine Abteilung gerate unter immer stärkeren Beschuß.

Das schüchterte Carl weiter ein; mutlos geworden verlor seine Selbstdarstellung jede Aggressivität, er verteidigte sich kaum noch gegen ihr zusammenhangsloses Geplapper, das nichts von dem wahrhaben wollte, was in seiner Arbeit, wenn nicht bereits vorhanden, so doch in seiner Richtung so vielversprechend und klar angelegt war. Der Konferenzraum, worin er den Super 8-Projektor aufgebaut hatte, war plötzlich von einem Stern-Redakteur besetzt, der sich mehrere Folgen eines Films über Konzentrationslager ansehen wollte: "Das ist ja auch wichtiger!" tat Stumms verbittert, weil man ihn nicht um Erlaubnis gefragt hatte. Auf dem ZDF-Gelände, in all diesen großartig glänzenden, wie von Riesen hingesetzten Gebäuden, war sonst kein verdunkelbarer Raum frei - Die spinnen doch mit ihrer Verdunkelung, dachte Carl - man müsse schon nach Wiesbaden fahren: da, in einem Nebengebäude, gäbe es noch eine Möglichkeit, aber das ginge natürlich nicht, nicht wahr, es ist zu entlegen. - "Müssen wir den Super 8-Film denn überhaupt noch sehen?" fragte ihn Frl. Ehlers, um höflich zu sein, denn es war ja vereinbart. Carl zuckte die Achseln, er hatte sich aufgegeben - Freundin futsch, Film futsch, Carl futsch! dachte er und mußte einen so Mitleid erregenden Eindruck gemacht haben, daß man ihn doch nicht gleich verabschiedete. - "Es ist bloß eine Folge von Filmstücken", entschuldigte Carl sein Beharren, den Film noch zu zeigen, schon kleinlaut im Vornherein: "Jedes ist an einem einzigen Ort aufgenommen und versucht so etwas wie, sagen wir mal: seine Atmosphäre wiederzugeben, das Ganze ist eher eine Sammlung von Einzelstücken als ein zusammenhängender Film. Vielleicht ist das moderner." Schließlich fand sich neben ihrem sogenannten Flipper-Raum eine Art Abstellkammer, eher ein großer Wandschrank, worin man Besen und Putzmittel unterbrachte, das fühlte sich nun gar nicht modern an. Carl erinnerte sich an den Flipper; vor drei Jahren war er in ihren in der Stadt gelegenen Büroräumen noch der Stolz der Redaktion, der schlagende Beweis dafür, daß man hier anders war als die andren Idioten vom Fernsehen; nun ließ sich an der Art, wie der Flipper zwischen ein paar halb ausrangierten Möbelstücken herumstand, mit herausgebrochenem Münzschloß, erkennen, daß niemand mehr hierher kam. Die Abstellkammer hinter der Abstellkammer, machte es in seinem Kopf: bis hierhin habe ich es also gebracht, diesen Ort hier habe ich mir mit meiner Arbeit verdient! Aber hier fand sich tatsächlich ein Eckchen weiße Wand, in diesem Kämmerchen, in das sie, die Tür schließend und den Projektor zwischen sich, zu viert gerade sich hineinklemmen konnten. Wohl war das Bild noch kleiner als auf dem Schneidetisch, aber es strahlte und war aus sich selbst heraus vorhanden und nicht mehr Teil eines häßlich metallenen Möbelstücks - und als dann sein 'Potpourri aus Östlich von keinem Westen' zu laufen begann, nörgelte Stumms zwar gleich nach dem ersten Filmstück, wohl weil er sich zu beengt fühlte, ob sie das noch zu Ende sehen müßten, doch jetzt hatte Carl das Gefühl, sein Film sei lebendig geworden, hier in dieser Besenkammer, lebendiger jedenfalls als seine drei sich quälenden Mitgucker, und so fiel es ihm, auch in seinem miserablen Zustand, diesmal weniger schwer, sich zu verteidigen: "Na, ein Stück vielleicht noch, ein paar Minuten", bettelte er, denn nun würde das Stück aus Cleveland kommen, das er für das beste hielt, das er - es war so bitter kalt damals am Eriesee - je gemacht hatte, doch Frl. Ehlers fragte sofort, warum die Kamera so schief wäre, das mache sie ganz krank, aber vielleicht machte sie auch krank, daß sie so eingepfercht hier saßen und - (vor diesem flackernden Rechteck fast wie in ihren Katakomben die frühen Christen vorm Kreuz) - einander sogar riechen mußten; von solchen Einwänden ließ Carl sich indes nicht mehr irritieren, jetzt konnte er wieder sprechen: Der Horizont, sprach er, müsse wohl bei Storyfilmen durch die Kamera horizontal abgebildet werden, das stimme, aber nicht weil einem oder einer wie ihr sonst übel würde, sondern weil bestimmte Schnittmuster sonst ihre Logik verlören und Filme ihren Zusammenhang, und davon könne man allerdings, könnte jedermann Kopfschmerzen bekommen. Hier aber bei seinen Filmen, die ja keine Geschichten erzählten, sondern statt dessen bloß aus aneinander gereihten, nur aufeinander sich beziehenden Bildern bestünden, wäre das Axiom von der Horizontalität des Horizonts ganz sinnlos, eine unnütze Einschränkung der Bildkomposition, welche die Filme unnötig verarmen ließe, es handele sich also nicht um das Resultat einer subjektiven Sehstörung, wie man vielleicht annehmen könnte, der er da zum Opfer gefallen sei, sondern vielmehr um ein aktiveres Greifen hinein in die Welt, als es einem gewöhnlich möglich ist, aber während er so redete und dadurch das Betrachten der Schönheit eigentlich unmöglich machte, war das schöne Stück längst vorbei ... An sich muß ich jetzt aufhören, dachte er, ich kann sie ja doch nicht überzeugen, doch auf einmal sagte Stumms, er würde sehen, was Carl mit kurzen Stücken, die aufeinander folgten, meine und daß man sich das reinziehe und daß dann eine ganz andere Konzentration möglich würde, und während der Film noch lief und sie sich weiter rochen, verkündete er plötzlich sogar, sie sollten doch versuchen, zusätzlich zu den Hunderttausend, die sie für dieses Projekt anlegen könnten, noch die anderen Hundertachtzigtausend aufzutreiben, die Carl eigentlich benötigte - sie könnten es ja drei Monate offenlassen. Was? dachte Carl, was ist denn jetzt los? Überrascht durch diese unwahrscheinliche Paarung von forcierter Entschlußkraft und unvermuteter Sensibilität, sagte er, er sei nicht der richtige Mann dafür, für dieses Geld-Auftreiben, er könne das nicht, und im Moment schon gar nicht, und er wollte schon von Roberta erzählen und was sie ihm angetan hatte, schlug aber dann doch unter einem plötzlichen Schluchzen vor, es bei den Hunderttausend zu belassen und das Projekt so zu verkleinern, daß es mit diesem Geld eben ginge. - "Haben sie eben geschluchzt?" fragte Stumms. - "Nein, nein", nahm Carl sich zusammen, "es muß der Staub hier sein." - "Na gut, das können wir ja nach den drei Monaten entscheiden - oder, warum nicht? - wenn Sie nicht wollen, dann auch gleich." - "Du willst es also machen?" fragte ihn Frl. Ehlers, und Stumms sagte: "Ja! Du wohl nicht?" - "Das will ich nicht sagen." - "Na gut, ich kriege diesen Film, und du bekommst auch einen Ruhrgebietsfilm!" und zu Carl: "Ich werde jetzt versuchen, das Ja meiner Vorgesetzten zu bekommen, und dann im Dezember komme ich einen halben Tag nach Hamburg, und wir können über die reduzierte Form sprechen."

Wie perfekt geplant war damit auch der Film zu Ende. Als das Licht anging und sie sich eindeutig in einer Abstellkammer zwischen Besen und Putzeimern hocken sahen - während der Projektion konnte man das vergessen - fühlten sie sich ein wenig wie Kinder, die etwas Unerlaubtes angestellt hatten; das war peinlich, aber ebenso machte es sie auch glücklich und übermütig, daß sie sich als immerhin doch schon Erwachsene hatten darauf einlassen können, und Stumms fragte die andere Redakteurin: "Und Sie?" Sie sagte, sie könne solche Bilder endlos weiter sehen. - "Dann sind Sie also auch dafür?" Nach ihrem Nicken erhob sich Stumms, die Vorstellung war beendet. Auf dem Weg zum Zimmer 551 sagte er noch: "Dann rufen Sie noch einen Wagen für Herrn Dingsbums, ich muß jetzt nach München, auf Wiedersehen, bis bald in Hamburg!" Dann schüttelte er Carl die Hand und verschwand; Frl. Ehlers rief den versprochenen Wagen, Carl erhielt sein Filmscript zurück, unterschrieb die Reisekostenabrechnung und saß, es war genau 12 Uhr 15, wieder in einem Auto.

Auf der Fahrt schüttelte es ihn auf einmal und er bekam eine beklemmende Angst vor dem, was gerade geschehen war und dem, was jetzt kommen würde. Roberta, ich brauche dich doch! schrie etwas in ihm, wie er aus dem Taxi in einen verschleierten Himmel schaute und auf das gelegentlich durchschimmernde entzündete kleine Auge der Sonne, die mühelos mit dem Taxi mithielt, auch als dies auf der naß glänzenden Autobahn eine amerikanische Panzerkolonne überholte, deren bloße Existenz den hier waltenden Irrsinn noch eine Weile garantieren würde - gerade jetzt! ich brauche dich jetzt - in dieser furchtbaren Welt! Nur gut, daß er mit diesen Redakteuren nicht auch noch essen mußte, mit dieser Mischung von, ja, ja, bürokratischer Tatkraft und überraschend weit greifender ästhetischer Sensibilität, auf die er sich keinen Reim machen konnte, er hatte sich kaum noch zusammenhalten können. Dieses Schluchzen während der Verhandlung - jetzt würde er sich von Roberta trennen müssen. Er hatte Angst vor dem Alleinsein, vor der radikalen Leere der Einsamkeit, von der er wußte, daß und sogar wie sie ihn erwürgen würde. Wie sollte er allein einen Film für diese Verrückten machen, dachte er auf dem Flughafen, und jetzt kamen ihm die herumsitzenden Geschäftsleute wie die einzig normalen Menschen vor: sie wußten wenigstens, was sie wollten. Er hatte entsetzlichen Hunger. Vom Hinflug hatte er noch zwei der Lufthansa-Snacks, die neuerdings zum Mitnehmen, anstelle eines gereichten Frühstücks, in der Abflughalle herumhingen, nun schlang er sie gierig hinunter. Das hatte er sich redlich verdient. Der Joghurt war zerquetscht, die Sandwiches bereits matschig - Diese Wahnsinnigen im ZDF: sie hatten es ihm gezeigt; es hatte gerade noch so geklappt. Doch dabei war er auf eine so fundamentale Weise erniedrigt worden (obwohl andererseits nichts eigentlich Bösartiges daran war, so folgten nur den in ihrem Beruf nun einmal geltenden Gesetzen, und das machten sie ihm Rahmen des ihnen in dieser Anstalt Möglichen sogar bewundernswert, schon daß sie ihn einluden, war mehr als bloß beachtlich), daß es ihn schüttelte. Wie diesen Joghurt, nur viel unpersönlicher, hatten sie ihn zerquetscht, hatte er sich von ihnen zerquetschen lassen, vielleicht war es nur deshalb gut ausgegangen - Ach, gut ausgegangen, ha! Sein Leben war in Trümmer gefallen, schon vorher, diese ganze Aktion war doch nur sinnlos, all das, was ihn wenigstens ein bißchen stabilisiert hatte, war in sich zusammen gefallen - Verlassen! machte es in ihm, Verlassen, Verloren! und jetzt überkam ihn endlich der Weinanfall, den er in der Besenkammer noch zu unterdrücken vermochte - eigentlich hatte er ja damit gerechnet, schluchzte es in ihm, er erstickte fast daran; er stieß seinen Atem aus, als hätte er in einem Zug einen Liter Wasser getrunken, ihm war doch egal, was diese Mitreisenden von ihm dachten, diese übernormalen Geschäftsleute, Geschäft fürn Arsch! Dann schüttelten ihn rasch aufeinanderfolgende Weinkrämpfe, der er nur mit krampfhaft geschlossenem Mund überstand. Ja, er hatte mit so etwas gerechnet. Die ganzen letzten Tage war er schon eifersüchtig, bereits bevor etwas passiert war, das war ja der Witz. Aber schon diese zielgerichtete Art, sich vorm Ficken auszuziehen, das beiläufig Routinierte, die Flinkheit, womit es geschah, verriet ihre Lust am schnellen Abenteuer - Ach, warum gerade jetzt? Natürlich war aus ihrer Beziehung die Luft schon irgendwie raus, richtig, durch ihre lange Trennung wegen Amerika, damals hatte sie das mit Walter ja angefangen, aber sie hatten es doch irgendwie wieder hingekriegt ...

Vom Flugzeug aus lag Deutschland unter einer grauen Wand, und Carl erschien es unvorstellbar, daß dort unter dieser Wand ein so prächtig organisiertes Völkchen sein Unwesen trieb, und nicht nur das, sie betrogen sich auch noch unter diesem flachen Himmel, wo man nicht überleben konnte ohne fünf, sechs Schichten Kleider, wo Anlagen wie der ZDF-Komplex über das Land hingestreut unwirschen Mitarbeitern entwürdigende Arbeitsgelegenheiten boten - ach! zehn Schichten Kleider würde er jetzt benötigen, mindestens! wenn das mit Roberta wirklich zu Ende ginge. Mit Schrecken erinnerte er sich an seine Trennung von Angelika. Verkörperte sie für ihn nicht das Gespenst, das in Roberta bereits angelegt war? Angelika war weniger niedlich - nicht zuletzt deswegen endete es in diesem fürchterlichen Krach. Neulich warf ihn um, wie er sie besoffen im Cha-Cha sah: ihm grauste davor, daß er mit so einer noch hätte zusammen sein können. Wenigstens bekam er gestern nur Heulkrämpfe und nicht die Zitteranfälle von damals, in dieser Szene mit dem angeblichen Gips und wie sich dann alles drehte. Schon sehr seltsam, dieser Geruch fremden Spermas, nicht eigentlich von Natur widerlich, und dennoch auf unmißverständliche Weise abstoßend, fremd: Fremd wie die Neanderthaler. Auch jetzt war er eigentlich eher ruhig, zu ruhig im Grunde - für eine Krisensituation gewiß eine Art Fortschritt. Weitreichender als Angelika war aber die Trennung von Leona - der Kardinalfehler, war das nicht inzwischen ganz klar, seines Lebens - und bloß wegen dieser idiotischen Joanna Kierlam. Nichts war aus dieser Trennung von Leona herausgekommen, außer diesem idiotischen Potpourri für die Besenkammer; am Ende grade mal die zehn Bilder, die er in Columbus gemalt hatte.

Und doch war er in jenem Columbus, mitten im fernen Ohio, ganz gut mit dem Alleinleben zurechtgekommen, zum ersten Mal; er dachte gern an die Winterabende, an denen er durch den Schnee schnell noch zu Larry's gefahren, geglitten war, in seinem Ford Torino, um vielleicht was aufzureißen oder eben auch nicht - das Gefühl, das ihm sein Wagen da gab, eine komische Einheit von Sich-Bewegen und Zeit, von Selbst und ja, auch Gelassenheit, in diesem auch bei Nacht stets grell leuchtenden, endlos sich ausbreitenden Schnee, bis heute hatte er dieses in Einsamkeit ablaufende Glücksgefühl nie recht verstanden, und es hatte sich nie wieder so eingestellt. Natürlich gab es damals den Job, der Rhythmus und Prestige garantierte - Professor, das war doch was! Nein, gemessen an der Selbstverständlichkeit jener, nun freilich fernen, Glücksmomente hat die Sache mit Roberta keine Zukunft. Die Einheit von Selbst und Zeit, ha! - Quatsch! Er und Roberta ließen sich bei ihren Empfindlichkeiten doch gar keinen Spielraum zum Manövrieren, jede Kleinigkeit provozierte ein albernes Alles oder Nichts. Beleidigt, er war immer zu schnell beleidigt. Irgendwie gelang ihm nie, bei ihr diesen beharrlichen sanften Druck auszuüben, mit dem er bisher bei Frauen immer zurechtkam, mit dem er wenigstens immer das bekommen hatte, was er von ihnen wollte - das war natürlich schlecht. Sobald er in der Art etwas probierte, wich Roberta auf seltsame, schon idiotische Weise aus, jedesmal der Beginn einer Katastrophe, weil sie sich nicht genug Spielraum gaben, worin sich ihre Kindereien korrigieren ließen. So entstand eine ständige Aufgeregtheit, worin man nie zu der Ruhe fand, die für eine größere Anstrengung nötig war - im Zusammenleben mit Leona war das anders gewesen, da fand er Selbstvertrauen und sogar den Mut, eine Beethovensonate zu verfilmen oder zumindest ihre rhythmische Struktur (und nicht bloß ein Potpourri), in vielmonatiger Plackerei, ohne daß irgendwer dafür zahlte. Ja, dem trauerte er nun nach. Mit Grauen dachte er an die Szene im Schneideraum, als man ihn dafür mit gelangweilter Miene auslachte. Scheiße, nun mußte er wohl die Zeche bezahlen. Aber anscheinend waren sie in ihrer Art Streit darauf angewiesen, sich wie ein Kind zu verhalten, zumindest er, der Himmel wußte warum.

Als er auf dem Landefeld auf den Bus wartete, der ihn zum Flughafengebäude brachte, wehte ein kalter Wind - Unter der weißen Flagge der Vernunft! dachte er: ja die Vernunft hatte auf dieser Welt endgültig kapituliert. In dieser Abstellkammer hinter der Abstellkammer! Und jetzt begriff Carl, wieso seine Filmmacherkollegen nicht an seiner Erkenntnis interessiert waren, neulich auf dem Filmfest, daß sie sein Plakat gar nicht beachtet hatten: sie waren an seiner Erkenntnis nicht interessiert, weil sie schon alles kannten! Wie auch dieser Stumms schon alles kannte und ihn nur noch die Abstellkammer erstaunen konnte. Während er in den Bus stieg, röhrte ein Flugzeug vorbei, er fühlte, daß sein Kopf dadurch vollends in Unordnung geriet: Ja, sie kannten schon alles, was er ihnen mitteilen wollte, sie taten zumindest so. Und weil sie alles schon kannten, wollten sie es anderen mitteilen! Und weil das kostspielig war, verlangten sie für ihre Filme guten Gewissens jede Menge Subventionen und Produktionsessen: so war das eben, wenn man klug war und alles kannte und das den Dummen mitteilen wollte, dann landet man nicht in so einer Besenkammer! Oder in einer Irrenanstalt wie der gute Holger!

Um drei war er zu Hause. Welch grauer nebliger Tag - traurig, dachte Carl, ja, das war sie, die Modernität, die wirkliche, die graue Modernität, heute war er ihr begegnet: Aufstehen, Hin- und Herfliegen, die Bewegung glitzernder Punkte auf einer Landkarte, dazwischen ein paar rasche Entscheidungen, punktgenau, acht Stunden später wieder im gleichen Bett. Dazu die Exotik eines Super 8-Projektors in der Besenkammer eines Gigantomanie buchstabierenden, ach, Gigantomanie zu buchstabieren nur versuchenden Bürokomplexes, dieser Exotik allein verdankte er doch seine 100.000 Mark. Und einer Frau, die mich betrogen hat - das war modern! Da war sie, die moderne Vernunft. Auf der Strecke geblieben! Er hatte seine Persönlichkeit oder wie man es nennen sollte, diese ureigene Person, dort doch gar nicht einzusetzen vermocht, dieses Gelände erlaubte ihm nicht, sich zu entfalten. Nur als er da auf dem Kantstein saß, beim Beobachten der beiden Männer an ihrem Hydranten, war er er selbst gewesen, ein Penner, fast schon ein Bettler - anschließend hieß es bloß noch, sich zu verteidigen, passiv wie er war und total deprimiert, die ganze Zeit. Er war der Mann, der in die Abstellkammer gehörte. Später dachte er oft, eine so folgenreiche Zeit hätte es in seinem Leben nie wieder gegeben. Aber das denkt man öfter, wenn man eine Zeit ernsthaft ins Auge faßt, insofern ist möglich, daß jede Zeit die wichtigste ist und jede alles, zumindest aber das Vorhergehende, enthält.

Als er Roberta anzurufen versuchte, war sie nicht in ihrer Wohnung. Wütend warf er sich auf sein Bett, er schlief sofort ein. Dann aß er eins der Brötchen vom Rückflug-Snack, auch davon hatte er gleich zwei Pakete mitgenommen, dann schlief er noch einmal ein. Erschöpft. Er war erschöpft. Erst um fünf rief Roberta an, sie sei beim Schwarzfahren erwischt worden. - "Hat es geklappt?" - "Was?" - "Das mit dem ZDF?" - "Woher weißt du das?" - "Du hast es mir doch heute morgen erzählt." - "Gar nichts hab ich erzählt." - "Aber Regine wußte alles! Ich komm vorbei, ja?" Sie hat also über mich mit Regine gesprochen, dachte Carl. Als sie kam, gingen sie gleich ins Bett. Er wollte sie so sehr lieben. Er streichelte sie, bald streichelte er auch ihre Fotze, ah, wie schnell sie feucht war, oder dachte sie jetzt an Walter? Doch auch als er sie dabei ein Brötchen aus dem Lufthansa-Snack aus der Plastiktüte rausholen und anbeißen ließ, blieb sie schön feucht, selbst als er ihr weiter zärtlich über die intimeren Teile des Körpers fuhr und ihr erzählte, wies lief, in den Büros, im Schneideraum und schließlich der Abstellkammer, alles! Er war selig, sie da zu haben, jemanden zu haben, dem er das alles erzählen konnte, doch "Allein! Allein!" machte fortwährend etwas zugleich in ihm leise - in seinem Glück spürte er jederzeit diesen falschen Klang, den Klang der Wahrheit wollte er ihn nennen, den Klang der Leere, den er nie würde vergessen können. Er spürte, wie er sich wünschte, daß ihm ihr Körper besser gefiel als je zuvor, aber richtig gelang es nicht, stattdessen spürte er immer mehr ausschließlich sein Wollen, an ihrem Rücken, an seinen tastenden Fingern, auf ihrer Haut, auch in der mädchenhaften Sparsamkeit ihrer Bewegungen, ja, von allem wollte er, daß es schön war, er wollte und wollte, ach er wollte - ha, ha: Frieden!

Als sie fickten und sich ihre zarte Gestalt bereitwillig für ihn öffnete, fühlte er sich in einen Zustand von "Friedfertigkeit" versetzt, so widersinnig es klang - aber für solche Feinheiten entwickelte er jetzt kein Gespür -, dann angesichts ihrer schmalen, ihn ohne ersichtliche Reserve aufrichtig liebkosenden Arme auch wieder "ohnmächtig" - das waren jedenfalls die Worte, die sich ihm im Kopf bildeten. Ihre Fotze fühlte sich wieder "wie früher" an, sie wies wieder genau die Art Feuchtigkeit auf, die er so wunderbar fand, so unvergleichlich. - "Das liegt vielleicht daran, daß ich mir heute morgen die Spirale habe herausnehmen lassen", sagte sie praktisch, als er es ihr mitteilte - dabei bedachte sie ihn mit einen sonderbar neugierigen, ihn fast sezierenden, zugleich ganz offenen Blick, den er zum ersten Mal an ihr registrierte.

Am besten, glaubte er, hatten sie in Ohio miteinander gefickt, damals, als sie ihn Weihnachten in Columbus besuchte; erst danach begann das mit Walter: Nach seiner Rückkehr erschien ihm ihre Fotze sonderbar verändert, ohne daß er wirklich benennen konnte, was daran eigentlich anders war, das ist ja nicht leicht - es fühlte sich, wenn er mit den Fingern darüber hinwegglitt, irgendwie schmieriger an, öliger vielleicht, doch nein, ölig war nicht das rechte Wort. Jedenfalls hatte ihre Feuchtigkeit eine andere Viskosität als im Sommer zuvor. Viskosität klang in diesem Zusammenhang allerdings auch nicht richtig; damals konnte sein Finger darüber hinweggleiten wie - Schlittschuhe über frisches Eis? Schon besser, nur war da Sommer und die Kühle dieses Bildes enthielt so gar nicht die Aufregung, die dieses so elegant - ja, luxuriös! sich anfühlende widerstandslose Gleiten in ihm anrichtete. Oder verwechselte er das mit Irene? Als sie ihren ersten Orgasmus durchs Ficken allein bekam, war er enttäuscht: verglichen mit der flutschenden Eleganz dieser ganz anders gearteten Bewegung fühlte es sich plump an. Man mußte einfach mit voller Kraft durchficken und einfach durchhalten, am besten nichts denken, einfach drauf! Dann gings. Nein, das hatte nichts mit der Eleganz seines Fingergegleites zu tun, oder wie sonst er das nennen sollte, was er so wunderbar an ihr fand - mit dem überraschenden Auftauchen der Plumpheit deutete sich das Ende ihrer Beziehung eigentlich schon an. Sie war eine Frau, die betrogen werden wollte, denn nur, indem er sich verstellte, erreichte sie ihren Orgasmus, und deshalb betrog sie auch selbst. So in etwa wühlte sich das jetzt in seinem Kopf zurecht.

Spät in der Nacht fickten sie erneut, und erneut öffnete sich ihm eine Zartheit, die Carl endlich das Gefühl gab, sie würde ihm wenigstens zum Teil wieder gehören. Irgendwas Widerspenstiges hatte sich durch schiere Erschöpfung wegdrängeln lassen. Wohl wollte es sich weiter behaupten, aber das waren Rückzugsgefechte, denn, wie hieß es doch gleich? "Es war schon immer etwas schwerer, etwas anspruchsloser zu sein!" Irgendwas würde schon werden. Er mußte sich mehr zurücknehmen und nicht auf jede Kleinigkeit gleich wie ein wütender Stier reagieren. Ein Duell? Welch eindrucksvolles Wort, "Duell"! Ja, ich duelliere mich. Feindliche Begegnung, Zweikampf - "Duell" hört sich am besten an. Nein, nicht gleich wie ein wütender Stier, erkannte er leider sofort sowohl die Dürftigkeit des in ihm entstandenen Bildes als auch die Erbärmlichkeit der sich ergebenden Konsequenzen. Mit jemand anderem ficken war letzten Endes - eine Kleinigkeit, nicht wahr, alle taten es schließlich: Wir sind modern! DOLCE DOLCE DOLCE, dachte er, und, um sich weiter zu beruhigen, Oh, meine Süße! und um vier schlief er friedlich und sogar liebend in seiner Erschöpfung ein.


zurück