K. Wyborny

WAS EIGENTLICH SEHEN WIR IN BILDERN

(Text eines im Dezember 1990 im Literaturhaus Hamburg gehaltenen Vortrags)

c 1998 K.Wyborny



 
 

I. DER WEG STIRBT

 

 

(an der Wand hinter dem Vortragenden Dia Bellini: Madonna von der Wiese)


 
 

Meistens wird angenommen, Bilder, die auf der perspektivischen Abbildung beruhen, gäben genau dasjenige zu erkennen, was auf ihnen abgebildet ist: ein Haus würde also als Haus wahrgenommen, ein Stuhl als Stuhl, ein Fluß als Fluß. Das ist so naheliegend, daß man es kaum hinterfragt findet - schließlich ist ja Ziel der perspektivischen Abbildung, genau diese Identität zu erreichen. Tatsächlich ist diese Annahme reichlich verwegen. Schon ein flüchtiger Blick auf Giovanni Bellinis "Madonna von der Wiese" verrät, daß es sich bei dem Abgebildeten nicht bloß um eine Mutter mit Kind in einer irgendwie interessanten Landschaft handelt: seine Teile scheinen für mehr zu stehen, für Lebenserfahrungen vielleicht oder andere von uns gewöhnlich nicht benennbare Resonanzen. Ein Haus ist jedenfalls nicht nur Haus, ein Baum nicht Baum, eine Mutter keine Mutter. Worum handelt es sich also bei diesem Mehr, das Bilder enthalten - Was eigentlich sehen wir in Bildern?
 
 

Die meisten Madonnenbilder sind zunächst einmal als Illustration der christlichen Grunderfahrung begreifbar: daß erstens die Menschen trauriger sind, als man denkt - deutlich im Gesichtsausdruck Marias zu erkennen, deren Vorwissen um den Tod ihres Sohns christliches Mutterglück 1000 Jahre überlagern wird - und zweitens, auch das ist ja nicht ganz unbekannt geblieben: gibt es gar keine Erwachsenen - das lenkt unser Interesse auf den kleinen Jesus, in dem, oder genauer: in dessen in Marias Muttergriff Gehalten-werden, sich wohl noch jeder Mann wiederzuentdecken vermag. Auf jeden Fall aber beginnt die Geschichte eines Mannes mit dem Abschied von seiner Mutter, und ein solcher Abschied soll den Filmteil dieses Aufsatzes einleiten.
 


(Ausschnitt "DAS OFFENE UNIVERSUM" auf zwei Videomonitoren)

Hier sind sie also, die Hauptpersonen des Films, gerade noch hatten sie hilflos versucht, ein Liebespaar zu sein - - jetzt trennen sie sich; und schon sitzt sie da, die weibliche Hauptdarstellerin, auf einer Sandbank am Rand eines warmen Korallenmeers, nunmehr allein: 'Wird schon sehen, was sie davon hat, ihren Sohn so davongehen zu lassen!' denkt bockig der junge Mann, für den sie, wo er sich von ihr trennen will, auf einmal Mutter geworden ist - denn nun geht es, wie der erklingende Kommentar verrät: 'hinaus in die fremde ferne Welt.' Und so sitzt sie da bis zur Abblende, diese nichtsahnend zur Mutter Gewordene - Robert, ab jetzt einziger
 
 

Held des Films, wird sie nie wiedersehen. Er hat nämlich einen Weg entdeckt, dem er folgen, auf dem er sich finden will, dieser Held, der noch nicht weiß, daß die folgende Sequenz 'Der Weg stirbt!' heißen wird. Als Zuschauer ahnen wir dies schon, denn wo er gehen will, öffnet sich gar kein Weg, stattdessen stapft man in hüfthohes Wasser - da verliert der Film, weil der Ton nun ausblendet, seine selbstbewußt realistische Oberfläche und wird ganz still.
 
 


 


In einer Nahaufnahme zerspült eine Welle die Werkzeuge, zart und in sachtem Schwung, mit Hilfe derer die beiden so mutig ihr Überleben haben sichern wollen - sie erinnern, schon weil die irreale Stille von Traum oder Erinnerung spricht, an das längst vergessene Spielzeug unserer Kindheit. Und nachdem sich Robert in Form einer Abblende auch von ihm verabschiedet hat, durchwatet er dies Meer aus mütterlicher Wärme, das seine Bewegungen umschmeichelnd hemmt, und an dessen Ende für niemanden ein begreifbares Ziel zu erkennen ist. Doch nun beendet Musik die Irrealität dieser Stille, und mit ihr erscheinen die Bilder, die einem nach der Trennung von zu Haus begegnen; da sehen wir sie endlich, die uns Versprochene: die ferne fremde Welt.
 


Filmausschnitt: ganze Sequenz (nur CD-Version / Datei Un10.avi)

(Hafeneinfahrt Liverpool als Standbild)


 


Eigensinnig beginnt sie an der Hafeneinfahrt von Liverpool, die Sie hier sehen können, und nur exzentrische Literaturwissenschaftler werden interessant finden, daß Redburn diesen Ort einmal passiert haben muß, der Schiffsjungenheld aus Melvilles gleichnamigen Jugendroman; und sechzehn Jahre nach dem Erscheinen "Redburns" auch sein am Schreiben von "Pierre" und dem "Confidence-Man" müde gewordener, an den Nerven beschädigter Autor, mit dem Schraubendampfer 'Egyptian' auf dem Weg nach Konstantinopel, von wo es ihn via Ägypten nach Jerusalem zog - manche meinen, Grund seiner Müdigkeit wäre seine ihn verbitternde Erfolglosigkeit. 'Exzentrischer Literaturwissenschaftler'! sagte ich, denn natürlich weiß ein Zuschauer an dieser Stelle normalerweise nicht, wie der Film endet. Fünf Jahre später wird der gleiche Robert nämlich in Anspielung einer Szene aus Melvilles "Typee" (zu deutsch: "Taipi") in ein Kannibalendorf laufen, in diesem eine schwarze, die Anarchie feiernde Flagge schwenken, um sich anschließend totzustellen; woraufhin ihn ein verblüffter Eingeborenenhäuptling mit den Worten 'Typee - mortarkee?' zur Rede stellt - in der Sprache der dortigen Einwohner, der Typee, eine Erkundigung, ob Robert die Menschen hier für gut oder böse hält. Und als dieser gleich Melvilles Romanhelden 'Typee - mortarkee!' antwortet,
 



 


was so viel heißt wie: 'Typee - gut!', wird er - ebenfalls ganz wie in dem Roman, Melvilles erstem übrigens und unter seinen zehn der erfolgreichste - von den Eingeborenen aufgenommen und nicht ins wichtigste Ingrediens der Suppe verwandelt, deren Zubereitung man in den darauffolgenden Einstellungen verfolgen kann. Nun, das alles ist Belletristik, selbstverständlich versteht man als Zuschauer kein Typee - eine Sprache, die, soviel ich weiß, inzwischen ausgestorben ist und nur noch in den Brocken dieses auf autobiographisches Erleben - Melville fuhr in seiner Jugend zur See und desertierte dabei auf den Marquesas - zurückgehenden Romans existiert: soviel vom Verhältnis von Fiktion zu Wirklichkeit und wer in ihr schließlich siegen wird. Melville jedenfalls wollte nach seiner hier in Liverpool beginnenden Reise in den Orient, die für ihn eine in die Ernüchterung wurde ('Das Meer, dem keine Aphrodite mehr entsprang', notierte er mit Bezug aufs Mittelmeer) nicht mehr als Schriftsteller leben: zurück in New York begnügte er sich mit einer Beschäftigung als Zollinspektor, ein schweigsamer, bärtiger Mann, der nach Feierabend Gedichte mit religiösem Themenhintergrund verfasste. Nun - all dies ist solchem Bild einer Hafenein- oder ausfahrt bei üblichem Sehen kaum zu entnehmen; und ebensowenig kann ein normaler Zuschauer vermuten - aber ich glaube, Sie sind keine normalen Zuschauer, sonst wären Sie nicht hier, deswegen traue ich mich, es heute auszusprechen -: daß an diesem Film schon der erste Titel ernstgenommen werden will, gleich im Anschluß an die erste Einstellung, welche übrigens, wie ich bei dieser Gelegenheit ebenfalls verraten darf, den Planeten Erde in der Schwärze des Alls darstellen soll, und zwar in Form der maximalen menschlichen Anmaßung, der eines

Rechtecks. Auf dem darauf folgenden Titel ist 'Ein Typee Film' zu lesen, was andeutet, daß es sich beim Kommenden um einen Film vom Typ 'Typee' handelt, einen Abenteuerfilm also, der die Welt umspannen und eigenartige Menschen aus der Perspektive eines jungen Mannes vorstellen will, also ohne allzu tief greifendes Verständnis. Nein, kein Zuschauer nimmt den ersten Titel eines Films ernst, man wäre damit auch meistens schlecht beraten - andererseits wimmelt das Leben natürlich von nicht erkannten Beziehungen, und so könnte man es sogar ein Zeichen von Realismus nennen, wenn sie wie in dem Film hier en masse auftauchen, ohne bemerkt zu werden. Soviel zur Normalität: Sie werden erkennen, daß dies eins meiner Lieblingsthemen ist, vor allem die sogenannte Normalität des Umgangs mit Bildern - doch zunächst bewegen wir uns weiter auf dem anscheinend so sicheren Grund der Kindheit:
 


(Video läuft wieder an)


 


Dort, hinter der Hafeneinfahrt nämlich beginnt etwas anderes: Sie sehen, es ist auch anders geschnitten, schneller als ein 'normaler' Film, vor allem solche mit Handlung, so schnell, daß kaum erkennbar ist, was genau eigentlich abgebildet wird. Bei dieser schnellen Montageweise, die zu gewissermaßen nur noch 'flackernden' Bildern führt, so nenne ich das jedenfalls, bekommt man dennoch die Atmosphäre des Abgebildeten mit, in einem schnellen rhythmischen Pulsieren aufeinanderfolgender Bilder, in diesem Fall dieser industriellen Anlagen, das verwirrend wäre, wenn nicht die es begleitende langsame Klaviermusik es stabilisierte und - wie Sie sehen - sogar synchronisiert: denn bei jedem neuen Klavierton, erscheint ein neues Bild - hier also beginnt etwas anderes: die Welt der Industrielandschaften, die, wenn man so will, die Wüste vertritt, in die man als kämpfender junger Mensch paradoxerweise hinausstrebt aus der Behütetheit. Hier geht es zwar absonderlich zu - das von Ihnen momentan wahrgenommene 'Geflacker' ist wohl Teil davon - dafür bieten uns aber gerade solch öde Orte die Möglichkeit, uns selbst zu finden, häufig zum ersten Mal, und zwar gerade weil einen mütterliche Wärme hier nicht jederzeit wieder umfangen kann.
 



 

Das Blau des Himmels verbindet dieses Flackern, das man - mir fällt jetzt nichts besseres ein - vielleicht am ehesten als 'gottlos' bezeichnen könnte, mit der nächsten Sequenz, welche mit einem Roberts Gang folgendem Kameraschwenk auf die Erde hinab beginnt. Weil kontinuierliche Schwenks vom Himmel herab etwas kitschig sind (und mit dem Weg natürlich auch der anständige Schwenk stirbt), wird, um so das Kitschige zu reduzieren, mitten in ihm auf eine Variante des gleichen Schwenks geschnitten, in einem, wenn man ihn wahrnimmt, leicht irritierenden Jumpcut - das bereitet den Text vor, der nun erklingt und dem Filmabschnitt hier als Überschrift dient: 'Der Weg stirbt, sagte jemand'. Dieser Satz hängt, da es schließlich vom Himmel herabkam, schwer über dem Bild, da aber bislang weder Person noch Autorität jenes 'Jemand' recht eingeschätzt werden können, mag es sich genauso gut um blanken Unsinn handeln - Robert, unser Held, scheint sich jedenfalls davon nicht einschüchtern zu lassen: Wie Sie sehen, überspringt er jetzt sogar einen Graben.
 



 


Dann könnte doch etwas bei ihm angelangt sein, eine kaum vernehmbare Botschaft, denn nun bleibt er stehen, am Wrack eines Segelbootes, einem Symbol beinahe von gestorbenem Weg - es ist jedenfalls kaum Überrest von Jasons 'Argo' oder des Kolumbus 'Santa Maria', von Schiffen also, die große Wege gingen, von denen aus Städte gegründet und Imperien errichtet wurden - solche Art Weg ist wohl tatsächlich und endgültig gestorben; nicht nur in diesem Film: da steht hinter unserem 'Jemand' auf einmal die unbezweifelbare Autorität der Geschichte. Und so sehen wir ihn in ihrem Schatten und auf gestorbenem Schiff: Robert - in der Blüte seiner Jungenhaftigkeit; Robert, der Was-in-der-Welt!, wie der Kommentar gleich verraten wird. Die Autorität der Geschichte scheint sogar die Kamera zu beeindrucken, denn,
 



 


wie Sie sehen, macht sie ganz unvermittelt einen sogenannten Achssprung, und zwar auf die andere Wrackseite, was sich bei normal-dynamischem Geschichte-Erzählen ja verbieten würde - wie um anzudeuten, daß sie mit solch einem Helden, der eigentlich gar nicht da sein dürfte, und einem derart albernen Weg nichts mehr zu tun haben möchte. Aber auch von diesem leicht verbotenen Standpunkt aus bleibt Robert sichtbar, und nun vernehmen wir, daß er sich nicht nur weiterhin auf einem Weg befindet, sondern auf einem solchen zudem dabei ist, sich das Wort 'Ich' zu erobern - und das, obwohl alle Wege, und mit ihnen der Weg auch dahin, längst gestorben sein müßten. Doch weil Robert nun einmal Teil des Films geworden ist und ein Film einen Helden - er mag noch so lächerlich sein - braucht, muß die Kamera - zähneknirschend und widerwillig, wenn so eine Kamera Menschliches an sich hätte - auf die richtige Seite der Bewegungsachse zurückhüpfen - sehen sie: in diesem Moment! - und Robert auf seinem nun wenigstens film-möglichen Weg gehorsam begleiten. Im nachfolgenden Schwenk zerreißt die Welt: zwischen der bislang von uns gesehenen vulkanisch wüsten Steinlandschaft und einem erstaunt am linken Bildrand erscheinenden tropischen Blätterbüschel, mit ihm beginnt die im Film bald so genannte 'grüne Welt', in die Robert auf der Suche nach Gnade eintauchen wird. Ja, Robert ist nun tatsächlich dabei, sich das Wort 'Ich' zu erobern, am Ende des Films wird er es geschafft haben - und da ein Held jemand ist,

der das Wort 'Ich' ohne erröten zu müssen aussprechen darf, ist Robert, weil das Sich-Sehnen nach Gnade in unseren Augen noch immer nichts Beschämendes hat, schon jetzt zu zumindest einem brauchbaren Filmhelden geworden, dem nun jede Kamera folgen muß, wenn sie sich ernst nehmen will. Zunächst aber gilt es, die Dimensionen des Begehbaren abzustecken: die Kamera folgt also unserem Zum-Held-Werdenden und wendet ihre Aufmerksamkeit dann in einer sachten Umkehrung des Eingangschwenks, im Gegensatz dazu nun im abstrakteren Schwarzweiß, wieder dem Himmel zu, wo sie überlang verharrt: dort oben befindet sich die obere Grenze der offenen Welt, die wir bewohnen. Indes macht sich Robert schon an der unteren Grenze zu schaffen, wo er, an einer Felswand hockend, von der Feuchtigkeit der Erde zu schmecken versucht: zwischen Himmel und Erde also - das weiß natürlich jeder, aber ich möchte, indem ich es ausspreche, darauf aufmerksam machen, daß auch Gemeinplätze durch Bilder ausgedrückt werden können - muß die Eroberung des Wortes 'Ich' bewerkstelligt werden, irgendwie. Der Geschmack von Erde scheint allerdings nicht gerade Begeisterung in ihm auszulösen, ebensowenig wie Leben in Form kleiner Käfer - sein erster Versuch, in der Welt aus sich heraus erträglichen Platz zu finden, aus eigenem Recht, ist 'kläglich', wie man so nett sagt, 'gescheitert'.

Und so taucht das Wort 'Ich' in der nächsten Einstellung in Form eines Negativs auf: als Robert im Negativ - ein uns neuer, absurderweise kräftiger aussehender Robert, der nicht mehr Objekt, sondern Subjekt zu sein scheint und wohl auch sein will: denn nun setzt er sich seinem neuen Kraftgefühl entsprechend in Bewegung, anfangs in wieder einem Schwenk, doch dann entschlossen - aber eben nur im Negativ - in bewegungsparalleler Kamerafahrt, der Figur, mit welcher man, wie jeder Filmstudent weiß, im Film Bewegung zu maximaler Kraft verhelfen kann. Doch ach, auch sie ist nur scheinbrillant, im Negativ - die

Wirklichkeit brilliiert dagegen in Form wildwuchernder Vegatation, der gleichgültig bleibt, welche Form von Schimäre an ihr vorüberschreitet, leuchtend im Hintergund. Und wie vorhin in den Schwenk wird jetzt in die Fahrt geschnitten, abermals in Form eines leicht irritierenden Jumpcuts - gleich danach bleibt Robert, als hätte ihn mehr das Begreifen als die Ausführung seiner Anstrengung entsetzlich erschöpft, auch schon wieder stehen; und am Ende dieses - ach so kurzen - Scheinweges schlägt das Bild in einem weiteren, diesmal das Ende konventionellen Erzählens vorbereitenden, Achssprung wieder ins Positiv um; und da sehen wir ihn: den Mann vor dem Meer, der überlegt, ob er ins Innere, ins Höhere soll,

dieser Insel oder sich selbst. In der folgenden aufs neue negativ erscheinenden Totale, die von weit weg aufgenommen ist und von der Seite, wie aus der Sicht eines unbestechlich neutralen Betrachters, erraten wir, daß er sich jetzt in einer Art Trancezustand befindet, einem Moment ohne eigene Zeit, in dem Außen und Innen, Positiv, Negativ, Überlegung, Vorstellung und Erinnerung nicht mehr zu unterscheiden sind; und richtig, auch von vorn und näher dran erscheint unser Held jetzt im Negativ, wie endgültig weglos - ein bloßer Betrachter. Und
 



 


dann kommt in einem zehnminütigen Flackerstück - dessen schiere Länge an dieser Stelle im Film, nach also mehr als einer Stunde, von tiefem Wunsch nach dem Ende gewöhnlichen Erzählens spricht und dem noch seltsameren Bedürfnis, dies zu feiern - die Welt zum Vorschein, in die er sich aus freiem Willen hineinbewegt: die Ödnis, die sich in der Steinlandschaft schon angedeutet hatte. Es handelt sich um die gleiche Wüste, die er verspielt
 



 


als Jugendlicher hatte begehen wollen - jetzt jedoch ist sie nicht mehr Teil des Spiels, das endlich von zu Hause fortführen soll - sie ist Teil der wirklichen Wirklichkeit. Die Wüste wächst, muntert Nietzsche uns in ihr auf: Weh dem der Wüste in sich hat!
 


(Auf Standbild schalten)


 


Soweit also diese kurze Sequenz und was ich mir in etwa dabei gedacht habe. Man wird zu Recht einwenden, daß diese Art der Beschreibung zwar möglich, vom Zuschauer aber nicht nachvollziehbar ist. Bei Film handelt es sich schließlich nicht um ein Spiel vom Typ "Ich sehe was, was du nicht siehst." Diese Art der Beschreibung wäre zwar in den Bildern enthalten, wenn ich auf ihr beharrte, würde ich aber einen ungeschriebenen Vertrag mit dem Zuschauer aufkündigen, denn ein Zuschauer sieht nun einmal das, was er sieht, und nicht das, was der Filmmacher denkt. Was aber sieht der Zuschauer in dieser Sequenz? Ich denke, vor allem einen Weg, den er nicht mit mir gehen möchte - vielleicht, weil er es nicht kann, aber ich glaube eher, weil er ihn nicht für begehenswert hält. So gesehen habe auch ich in diesem Film einen Weg konstruiert, der kaum begangen schon gestorben ist. Ich habe das einsehen müssen - das war bitter. Als nächstes möchte ich etwas vom Ort dieser Einsicht erzählen, dem Ort des gestorbenen Weges.

Ich sage erzählen, denn ich glaube nicht, daß man sich der Frage nach dem, was man als Zuschauer sieht, wissenschaftlich nähern kann, deshalb möchte ich es über eine Verwandlung von Erfahrung in Belletristik versuchen. Im Leben gibt es ja nicht nur das Reich der Notwendigkeit, dem wir ohne Zutun folgen, sondern es gibt auch das Reich der Freiheit, in dem wir entscheiden können. Die meisten dieser Entscheidungen sind vielleicht lächerlich, aber immerhin sind es unsere eigenen. Viele unserer Freiheiten nutzen wir erstaunlicherweise dazu, unser Leben in Ketten belletristischer Ereignisse zu verwandeln - eine Verwandlung der Wirklichkeit in eine Fädigkeit, die unser Schicksal auf eine Weise umspinnt, die uns deutlich erhabener vorkommt als das Spiel dieser geheimnisvollen Moleküle, aus denen wir bestehen sollen und die nur unsinnigen Wahrscheinlichkeitsprozessen unterworfen sind. Die wenigsten von uns können der Verwandlung einer Lebensmöglichkeit in eine belletristische Figur widerstehen - im Gegenteil, wenn das Leben uns Wahlmöglichkeiten läßt, suchen wir uns doch immer Wege aus, die einem belletristischen Ideal entsprechen - das gilt für die Liebe und sogar im Beruf. Was ich erzählen werde, wird also kein Bild der Wirklichkeit sein, sondern es ist durch Freiheit verwandelte Wirklichkeit, und wenn ich im folgenden "Ich" sage, bitte ich Sie, dieses Ich nicht so einfach mit mir zu identifizieren. Nehmen sie es als belletristisches "Ich", das zufällig aus meinem Mund zu ihnen hinüberspringt und keinerlei objektive Wirklichkeit enthält. Wirklich in diesem Zusammenhang bin allein ich als der mit eingeschränkter Wahrhaftigkeit Sprechende.
 


***


 




 

II. IN RIMINI


Also - vor zwei Jahren, im Herbst 1990, war ich mit diesem Film in Rimini auf einem Festival. Als Versuch, Aufmerksamkeit für ihn zu erregen, endete dieser Ausflug kläglich. Dennoch aber fand ich mich irgendwann in einer Kirche, die Tempel des Malatesta genannt wurde.
 



(Videokamera: Tempel des Malatesta)


 


Das Gebäude ist von Alberti erbaut. Jetzt weiß ich, daß es als eine der ersten Rennaissancebauten gilt, ich weiß auch warum. Alberti hatte sich von dem auch in Rimini stehenden Triumphbogern des Augustus inspirieren lassen.
 
 

(Videokamera: Postkarte vom Bogen des Augustus)


 


Rennaissance war damals identisch mit einem irgendwie zurück nach Rom.
 


(Videokamera: wieder Postkarte des Tempels)


 


In diesem Tempel sollte es in einer Nische ein Wandbild von Piero de la Francesca geben. Als ich hineinwollte, kam Joao Mario heraus. "Ein sehr gutes Fresco!" begrüßte er mich. Einen Tag vorher hatte ich ihn ebenso zufällig in Urbino getroffen. Auch er war Filmmacher und hatte einen Film im Wettbewerb des Festivals (übrigens waren wie beide die einzigen Europäer unter den Filmmachern, alle anderen kamen aus der dritten Welt oder aus Hongkong). Wir sahen uns im Hotel immer beim Frühstück, er saß meistens allein und schien gleichfalls das Bedürfnis zu haben, aus seinem Ausflug nach Rimini mehr zu machen als eine Geschäftsreise. Ich mochte Urbino nicht. Es lag auf einem Berg und es gab keinen Fluß, der die Stadt durchschnitt. Die Stadt war mir zu trocken.

An der Bushaltestelle von Urbino regnete es, immerhin. Joao Mario fragte, ob ich die Bibliothek mit den Intarsien von Pontelli gesehen hätte. Nein, das hatte ich nicht - auch Holzschnitzereien waren mir wohl im Grunde zu trocken. Aber mich hätte eine Serie von Bildern Paolo Ucellos interessiert und ein Bild von Piero de la Francesca. "Ja, die sind sehr berühmt", murmelte er nachdenklich und: "Diese Stadt ist wunderschön", dann fuhren wir beide mit dem Bus zurück nach Rimini , jeder freilich auf eigener Route.

Das Fresko befand sich in einer Nische des Seitenschiffs und war gar nicht so leicht zu finden. Auf ihm war unter anderem ein Mann zu sehen, der vor einem anderen kniete, nicht unbedingt mein Lieblingsmotiv.

Direkt davor konnte man an einem Stand Postkarten kaufen - ich kaufte eine von dem Fresko. Plötzlich stand Joao Mario neben mir. Sehr gut, sagte er, während er das Bild noch einmal ansah. Unversehens fühlte ich mich haltlos. Ich interessiere mich wirklich nicht für vor einander kniende Männer. Dennoch war an dem Bild natürlich was dran. Aber ich kam nicht heran, in gewissem Sinne könnte man sogar sagen, daß ich das Bild überhaupt nicht sah. Mit Nicht-Sehen meine ich nicht seine Materialität: ich sah die Männer, blaue Farbe, rote Kleckse, das Bild einer Festung, aber es fügte sich nicht zu etwas ganzem, es machte nicht "Klack", oder wie man das ausdrücken soll. Es war nur Sehen, wie es mit unserer täglichen Bewegungskoordination zusammenhängt, das Sehen, das dazu dient, sich in der Welt zu orientieren und nicht mit anderen Menschen zusammenzustoßen. Aber so kann man Kunstwerke nicht ansehen, da will man etwas vom Denken wahrnehmen - das Sehen, das man dazu braucht, war mir plötzlich abhanden gekommen. Und immer noch stand dieser Joao Mario neben mir und musterte mich, als wollte er irgendwas von mir hören. Ich nahm die
 



(Dia Piero)


 


Postkarte hoch und verglich sie mit dem Wandbild, was mir eine gewisse Sicherheit gab - so etwas darf man schon einmal vor einem Kunstwerk tun. Ich wollte schon auf die miese Reproduktionsqualität der Postkarte eingehen, begriff aber rechtzeitig, daß ich dem Bild dadurch nicht eine Spur näher kommen würde. Ich hätte mich zwar einem Denken genähert, aber die Schäbigkeit von Reproduktionen zu bejammern ist ja selbst ein bißchen schäbig. Ich kam mir vor dem Zeugen meiner Hilflosigkeit immer hilfloser vor. Erst jetzt merkte ich, daß ich nur noch die Postkarte in meiner Hand ansah. Sie hatte für mich größere Materialität angenommen als das Original in der Wand - obwohl oder weil sie an Strukturen viel ärmer war, meinte ich der emotionalen Substanz des Bildes näher zu sein, wenn ich es auf der Postkarte anblickte. Das verwirrte mich noch mehr. So klar hätte ich das damals im übrigen nicht formulieren können, ich war nur verwirrt und wußte, daß irgendwas mit meinem Starren auf diese Postkarte nicht richtig war. Und ich schämte mich, daß mir das vor einem Zeugen passierte, einem, der von diesem Bild offensichtlich viel mehr verstand als ich selbst. Intarsien von Pontelli - davon hatte ich noch nie gehört. Was genau waren überhaupt Intarsien? Ich erinnere mich, daß ich ein paar mal zwischen Fresco und Postkarte hin- und herblickte und mich auf einmal das Gefühl überkam, zwischen den beiden Bildern gefangen zu sein- hin und her, hin und her - und nie mehr aus dieser Situation herauskommen zu können, gefangen zwischen Bild und Reproduktion gewissermaßen und bewacht von einem Wärter, der jede meiner Reaktionen bis ins Letzte begreifen würde. Furchtbar: ich haßte die hilflosen Hände, die diese Postkarte hielten - warum hatte ich sie nur gekauft? Wie war ich in diese Falle geraten? Am meisten haßte ich meine Unfähigkeit, etwas beim Betrachten des Bildes zu empfinden. Konnte sein, daß ich mich so an die Handlichkeit von Reproduktionen gewöhnt hatte, daß ich der Materialität eines Freskos nicht gewachsen war, daß ich ihr sogar ablehnend gegenüberstand? Ich sah jedenfalls nur bemalte Wand, aus der so etwas wie ein Bild gar nicht herauszutreten vermochte. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert und hatte nicht mehr viel von der ursprünglichen Absicht Pieros übriggelassen, aber in diesem Moment wäre mir wohl vor jedem anderen Bild das gleiche passiert - nur vor einem Monet vielleicht nicht, da bin ich ein fanatischer Empfinder. Es war ein, ich meine es mit allem Recht sagen zu können: furchtbarer Moment. Vor einer von Farbpigment irgendwie geheiligten Wand mit einem Jungen neben mir, in den ich halb verliebt war. Als er schließlich sagte: "Die Hunde sind gut, nicht wahr?" war es so erleichternd, daß ich nickte, ohne - wie ich heute denke, aber das ist, wenn ich mir die Postkarte des Bildes ansehe, natürlich unmöglich - die Hunde überhaupt gesehen zu haben. Im Übrigen ist das Dia, das Sie gerade sehen, eine Reproduktion dieser Postkarte.

Ich wiederhole, es war ein furchtbarer Moment: die Wand, die Postkarte, die schäbige Materialität der Wand, und dabei von jemandem betrachtet zu werden, von dem man weiß, daß er sehr viel mehr weiß als man selbst. Und dann noch verliebt - vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben war ich bewußt in der Position der dummen Geliebten, kein angenehmes Gefühl. "So also sieht eine dumme Geliebte ein Kunstwerk", dachte ich, "was für eine hilflose Innigkeit, die nicht das Geringste sieht!"

"Hinten ist noch eine Kreuzigung von Giotto", hörte ich Joao Mario da sagen, worauf ich antwortete: "Mein Reiseführer behauptet, er wäre Giotto nur zugeschrieben." "Nein, er ist echt, ich bin ganz sicher". In einer anderen Nische des Seitenschiffs entdeckte ich das Bild. Es hatte Kreuzform mit Ausbuchtungen dort, wo der Körper über das Kreuz hinaustrat. Ich erinnerte mich an meine Theorien zur Entstehung des Rechtecks, und weil Giotto so um 1300 lebte, fühlte ich mich einigermaßen bestätigt. Zu dem Zeitpunkt, hatte ich einmal behauptet, war das Rechteck als Bildform noch nicht etabliert. Auch Kreuzigungen waren nicht gerade mein Hobby. War es ein Giotto? Irgendwie hatte das Bild einen innigen Klang. Joao Mario trat neben mich. "Es ist ein Giotto", sagte er und ich sagte: "Ja das ist ein Giotto".
 
 

(Videokamera Giotto)


 


Da war er also, der gekreuzigte Christus. Ich hatte natürlich schon manch ein Kruzifix gesehen, auch Bilder von Kreuzigungen, hatte mich aber nie recht dafür interessiert, am wenigsten für die darauf abgebildeten Gesichter. Es schien mir immer absurd, daß Christus auf Bildern überhaupt eine Physiognomie hat - als man die Bilder malte, wußte sicher kein Mensch mehr, wie er ausgesehen hatte. Vom Standpunkt eines Photographen waren diese Bilder halbirre Spekulation. Auch für Marienbilder galt das, auch in ihnen hatte ich nie die Gesichter studiert. Ich weiß, es klingt merkwürdig für jemanden, der sich über zwanzig Jahre mit Bildern beschäftigt hat, aber es war nun einmal so. Was hatte ich überhaupt in Bildern gesehen?

Heute weiß ich, daß es ein Giotto ist, und das nicht nur weil ich es inzwischen auch gelesen hatte, sondern ich bilde mir ein, es erkennen zu können. Aber dazu mußte ich mir das Bild in Büchern genauer ansehen, und vor allem: ich mußte den Ausdruck auf dem Gesicht von Christus studieren, und das fiel mir nicht leicht.
 
 

(Dia Tempel)

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III. VIRGINIA


 
 

Drei Monate später traf ich Virginia in den Dahlemer Museen. Sie bereiste die Welt, um den Gesichtsausdruck von Engeln auf Gemälden zu photographieren. Als ich ihr erzählte, daß ich mich ähnlich systematisch mit Verkündigungen beschäftigte, wollte sie wissen wie ich darauf kam. Ich erzählte ihr von Joao Mario und beschrieb ihr seinen Film in etwa so:

Der Film spielt in Portugal, so gegen 1600, kurz nachdem es nach der Vereinigung mit Spanien wieder unabhängig geworden ist. Die Hauptfigur heißt Heinrich, er ist König von Portugal und wird mit einer Prinzessin von Frankreich verheiratet. Die Ehe bleibt kinderlos. Der französische Botschafter, der eine Politik gegen Spanien verfolgt, die Kinder aus dieser Ehe verlangt, ist deswegen beunruhigt und erfährt, daß der König überhaupt nicht mit ihr schläft, obwohl er ein berüchtigter Weiberheld ist. Weil die neu errungene Unabhängigkeit Nachkommen verlangt, sind auch portugiesische Kreise irritiert, ohne Erben würde Portugal wieder an Spanien fallen. Zur Rede gestellt sagt Heinrich, daß er mit der Prinzessin einfach nicht schlafen könne.
 



(Dia Lippi)


 


So kommt es zu einem Prozeß, in dem untersucht wird, ob das stimmt. Sollte stimmen, was der König von sich behauptet, daß er nämlich mit der Prinzessin, seiner Frau, nicht schlafen kann, müßte man ihn für regierungsunfähig erklären, weil nur, wer mit einer Prinzessin schlafen kann, König sein darf.

Der Prozeß bildet den Hauptteil des Films. In ihm berichten zunächst eine Reihe von Frauen, wie sie vom König verführt worden sind. Dann berichteten einige Jungfrauen mit ärztlichen Jungfräulichkeitszertifikaten, von denen sich später herausstellt, daß sie zum Teil gefälscht waren, wie der König außerstande war, mit ihnen zu schlafen, obwohl sie selbst es wollten und er nicht einmal wissen konnte, daß sie noch Jungfrauen waren. Dies überzeugte das Gericht, und beschloß daraufhin, daß ein Mann, der keine Jungfrauen schänden konnte, nicht König sein durfte. Es war allerdings nicht leicht, das zu formulieren, denn ein König galt immerhin als von Gott eingesetzt, und sein Verhalten war eher fromm. Auch zum Wahnsinnigen konnte man ihn nicht so einfach erklären, deshalb wurde ein schwieriger, mir unverständlicher juristischer Kompromiß gefunden, der die Nachfolge seinem Verwandten zusprach, der als vorläufig neuer König eingesetzt wurde, während der alte König irgendwie ein König zweiter Klasse blieb und in dieser Funktion weiterhin Frauen wiederverführen durfte. Gleichzeitig bestätigte das Gericht der französichen Prinzessin ohne ärztliche Untersuchung die Jungfräulichkeit, denn die Zeugenaussagen der unberührten Jungfrauen hätten die Disposition des Königs eindeutig beschrieben, und so konnte sie kurz danach als Immer-noch-Jungfrau an den König von England weiterverheiratet werden. Es ist ein sehr komischer Film, bei dem die unbefleckte Empfängnis sich in die Unfähigkeit verwandelte, jemanden zwecks Empfangens zu beflecken. Das war der Moment, sagte ich Virginia, an dem ich mich für Verkündigungen zu interessieren begann. Ich glaube, auch daran kann man erkennen, wie es die Menschen schaffen, ihr Leben in Belletristik zu verwandeln.
 



 
 

Virginia fragte mich auch, ob ich den Donatello im ersten Stock des Museums gesehen hätte und zeigte mir eine Postkarte von einem Marmorhalbrelief von einer Mutter mit Kind.
 




(Videokamera: Postkarte Donatello)


 


Um die Marmorgruppe war ein dunkler Holzrahmen, der dem Ganzen wunderbar Halt gab. Die Postkarte war - ich sage das mal so schäbig - wunderschön. Als ich Virginia erzählte, wie sich, ausgehend von Joao Marios Film, mein Interesse an Verkündigungen auf deren Geometrie konzentrierte, entgegnete sie, daß sie selbst sich bei Marienbildern vor allem für den Ausdruck auf Marias Gesicht interessierte. Marias Blick würde sie immer wieder erschüttern, dieser Blick, der schon wußte, was auf sie zukommen würde, aber sie hatte ja keine Wahl. Virginia kam aus Santa Barbara und war Mutter von 4 Kindern. Auf der Suche nach ihren Engeln hatte sie gerade Prag und Dresden bereist, später bekam ich von ihr die Postkarte einer Verkündigung von Fra Paolo Lippi, die wir dort oben sehen, auf der sie ihre weitere Route beschrieb: Bamberg, Rothenburg, Würzburg, Seattle. Als ich kurz danach den Donatello im Original (und ohne Zeugen) sah, berührte mich
 


(Dia Donatello, gleichzeitig Videobild der Postkarte des Donatellos auf den Monitoren)


 


- ich weiß, auch das klingt schäbig, aber vielleicht ist es unmöglich so etwas überhaupt auszudrücken, manchmal kommt es mir vor, als wäre eine originellere Beschreibung der inneren Zustände beim Betrachten eines Bildes noch schäbiger - berührte mich also der Ausdruck auf Marias Gesicht und wie sie das Kind hielt. Vor allem aber traf mich - es ist wirklich nicht leicht, das zu beschreiben - die merkwürdige Trennungslinie, die durch die Struktur des Halbreliefs zwischen den Gesichtern von Mutter und Kind entstand. In ihr entdeckte ich einen seltsamen Schmerz. Später vermutete ich, daß die Überlänge der vorhin gezeigten Trennungssequenz des Offenen Universums genau von der Erinnerung an den in dieser Linie verkörperten Schmerz herrührte. Ginnies Interesse für den Ausdruck Marias war jedenfalls überzeugend. Auf einmal kam mir seltsam vor, daß ich bis dahin in den Verkündigungen immer nur Gabriel angeguckt hatte. Auch wenn das ein Fortschritt zu meiner vorherigen Bildwahrnehmung darstellte, bei dem ich mich weigerte, Gesichtsausdrücke überhaupt tiefer zur Kenntnis zu nehmen, mußte ich mich fragen, was für eine Art innerer Zensur da eigentlich am Werk gewesen war.
 


***


 
 

IV. DIE WÜSTE WÄCHST

 

 
 

Joao Marios Film war mit einer nach meinen Maßstäben unglaublichen Sorgfalt gemacht. Selten habe ich eine so kenntnisreiche Ausstattung und so innig wirkende Frauengesichter gesehen - in meiner Erinnerung hat die in Blaugrautönen arbeitende düstere Photographie höchste Eleganz. Der Film hat einen langsamen, tragenden Rhythmus, der dem grotesken Prozeßgeschehen auf eine groteske Weise angemessen ist. Die Dialoge wurden auf portugiesisch und französisch geführt, die portugiesichen Stellen waren französisch untertitelt, gleichzeitig konnte man über Kopfhörer eine italienische Simultanübersetzung des Französischen hören. Auf dem Balkon des Kinos saß die Jury des Festivals. Sie bestand aus Filmstudenten, deren Kurzfilme vor den eigentlichen Wettbewerbsfilmen liefen. Dies hatte sich jemand ausgedacht, dem die Inkompetenz und Verfilzung üblicher Juroren zuviel geworden war. Nun wollte man das Urteil dem unverstellten Blick der Jugend überlassen, dagegen ließ sich schwer etwas sagen, denn - wie wir alle wissen - der Jugend gehört ja die Zukunft.

Die Filme dieser Filmstudenten aus Moskau, Sofia, Bologna, Rom, Berlin, London, Paris, Havanna und Los Angeles waren allerdings so grauenhaft, daß man sich fürchten mußte. Weil Englisch die Verkehrssprache dieser Jury war, saß sie während der Vorführung auf dem Balkon und hörte sich die englische Übersetzung der Dialoge des Films an. Die Übersetzerin hatte eine quäkige Stimme und wußte, wie wichtig ihre Aufgabe war, deshalb übersetzte sie so laut, daß man sie überall im Kino hören konnte. Ihre Übersetzung ins Englische basierte auf der italienischen Simultanübersetzung der französischen Dialoge und Untertitel. Selbst mein kümmerliches Französisch konnte erkennen, daß am Ende dieser Kette um etwa zwanzig Sekunden verspäteter Blödsinn herauskam. Trotz dieser Verstümmelung hatten die Dialoge immer noch eine geistreiche Quirligkeit, die der verdrehten Schlüpfrigkeit des Sujets entsprach und sich in dem langsamen Bildrhythmus wunderbar verdrehte. Die quäkende Übersetzung war fürchterlich, nach einiger Zeit setzte ich mich im Kino ganz nach vorne - sonst nicht unbedingt mein Lieblingsplatz - und hielt mir die Ohren zu, um wenigstens diese Übersetzerstimme nicht hören zu müssen. Ich fand Joao Marios Film erstaunlich.
 


(Videokamera: Bellinimadonna Grün)


 


Einer der Juroren war ein rotbärtiger No-Nonsense Sozialarbeiter aus London. Als ich ihm sagte, ich hätte die Übersetzung als furchtbar empfunden, sagte er, Ja das stimmte, aber das wäre nur schlimm gewesen, wenn es sich um einen guten Film gehandelt hätte. Und Straub erzählte mir, ein russischer Juror hätte den Film zwar ganz interessant gefunden, aber trotzdem als schlecht, weil er nicht schnell genug geschnitten war. So bekamen wir jedenfalls einen Einblick in die kinematographische Zukunft. Nietzsches Satz von der wachsenden Wüste bekam hier auf einmal überraschend Bedeutung. Joao Marios Film, meiner und einer aus Niger waren die einzigen im Wettbewerb, die keinen Preis bekamen. Fairerweise muß man zugeben, daß im Jahre 1991 jede andere realistisch vorstellbare Jury ähnlich entschieden hätte. Die Jugend der Welt reagierte nicht anders als jeder andere wichtigtuerische Idiot.
 
 

Nach dem Film wollte ich etwas am Strand laufen. Ich hatte die letzten Tage Herzschmerzen und wußte nicht, ob ich mich nur im Schlaf verlegen hatte oder ob es sich um eine wirkliche Krankheit handelte. Vielleicht war es ja auch nur das bekannte einschnürendes Gefühl der eigenen Minderwertigkeit, das einem häufig auf Festivals begegnet. Am Strand begann gerade der Abend. Ich war in meinen Gedanken noch bei dieser Filmvorführung, da war er ganz plötzlich da, dieser Strand, ja, so muß ich es wohl ausdrücken, ganz plötzlich, nicht als Terrain, als etwas ganz anderes als Terrain, er war eine Art Offenheit, eine weite Offenheit, die in den Kopf eintrat - eine enorme Erleichterung nach all dem abgedunkelten Kinoerleben der letzten Tage. Ja, hier war offene Welt, in die man laufen konnte, Wasser und Abend und Strand, und ich lief barfuß hinein in die Weite und spürte dabei wieder die Schmerzen in der Herzgegend, und auf einmal wollte ich sterben, dieser Gedanke kam wie ein kurzer, heftiger Schnitt. Ja, sterben, ganz klar spürte ich es auf einmal, jetzt und in dieser Weite wollte ich sterben, während des Laufens, in kurzem heftigen Krampf. Und so lief ich den Strand entlang und "Sterben" wiederholte es sich in mir, "ich will sterben", und während ich weiterlief und nicht starb, fragte ich mich, ob ich tatsächlich sterben wollte, doch da meinte ich schon zu 80 Prozent: "Nein!"
 
 

Inzwischen weiß ich, daß solche Anwandlungen bei Männern meines Alters ganz normal sind. Sie entstehen in Momenten, in denen man merkt, wie der Geschmack der Jugendlichkeit, der Festivals wie dem von Rimini angeboten werden muß, sich in einem verflüchtigt hat, das Versprechen des Wachsenwollens und des Gleichmuts, der sich bei einer Niederlage schon einen neuen Weg suchen wird, und wo man zu spüren glaubt, daß die Wüste, in die hinein man sich so spielerisch bewegt hat, wirklich ist - wirklich, gnadenlos und unendlich. In diesen Momenten wird das Kreuz plötzlich als Pluszeichen interpretiert: man ist nicht mehr lebendig und noch nicht tot, man ist nur noch zähe Substanz. Womöglich ist genau dies auch der Moment, in dem wir unsere Augen noch einmal öffnen können und uns angemessener in der Wirklichkeit einzuordnen vermögen, anders jedenfalls, als man das als vor Selbstbehauptungswut berstender Jugendlicher versteht. So gesehen beginnt vielleicht erst nach solchen Momenten das sogenannte wirkliche Leben.
 
 

Nun, wirklich oder nicht - in dieser Nacht starb Alberto Moravia. Ich dagegen traf Joao Mario am nächsten Morgen beim Frühstück. Bei der Fotographie seines Films hätte er negatives Licht benutzt, sagte er, das würde folgendermaßen funktionieren: man leuchtet die Szene zuerst ganz gleichmäßig aus, und nimmt dann immer mehr Licht weg, bis es einem richtig erscheint. Es wäre ein subtraktives Verfahren, und wirke anders als die amerikanische Methode, bei der auf ein Grundlicht mehrere Glanzpunkte gesetzt werden. Das sei jedenfalls seiner Ansicht nach eines der Geheimnisse seiner Fotografie. Als ich das Daniéle später erzählte, sagte sie: "Ach er meint Neger!" - Neger sind Klappen, die sich an den Scheinwerfern befinden, um ihr Licht zu maskieren. Bei der Bildkomposition habe er sich an die Schule von Fontainebleau gehalten. "Die beiden Frauen, die sich an die Brustwarzen fassen?" fragte ich, "Ja", sagte er, und es sei sehr schwer gewesen, den Ausdruck auf den Gesichtern so hinzubekommen wie auf diesen Bildern, die Schauspielerinnen wollten sich einfach zu sehr bewegen.
 
 

Inzwischen hatte ich begriffen, daß er ein katholischer Filmmacher war, und daß Marienverehrung im Zentrum seines ästhetischen Empfindens stand. Ob mir Urbino gefallen hätte, fragte er, und blätterte in dem Piero de la Francesco Buch, in dem ich zum Frühstück eigentlich lesen wollte. Als Bewohner eines flachen Landes könne ich für Hügellandschaften kein rechtes Gefühl aufbringen, antwortete ich, im Grunde hätte mir schon die Abwesenheit eines Flusses wirkliche emotionale Beteiligung unmöglich gemacht. Ihm als Portugiesen ginge das wahrscheinlich anders, dort wären Hügel und Berge nie weit vom Meer. Ähnliches gälte für seine Frauenporträts - ich bewundere sie sehr, könnte mir aber als Protestant keinen Arbeitsprozeß vorstellen, der mich durch Kleinstarbeit zu diesem Optimum an Ausdruck brächte. Ich könne Schönheit nicht herauspolieren, sie wäre für mich nur zufällig erreichbar. Ich würde mehr auf die geometrischen Aspekte des Ausdrucks achten, und besonders interessierte mich dabei der Bildrand - vielleicht fände er das als Angehöriger einer Seefahrernation auch interessant, und dann erzählte ich ihm von meinen Überlegungen zum Rechteck.
 


***


 
 

V. VOM RECHTECK


"Warum sind Filmbilder rechteckig?" fragte ich ihn. Gutmütig ging er drauf ein, er hatte verstanden, daß ich seinen Film mochte: "Nun?" Der Idee der Linse jedenfalls würde ein rundes Bild viel eher genügen, fuhr ich fort. Das von der Linse auf die Emulsion geworfene Bild wäre ja rund, nur die rechteckige Form des Bildfensters macht es zum Rechteck. Zwar würde manchmal behauptet, man nähme in Filmen die Wirklichkeit aus der Perspektive der handelnden Personen wahr, doch auch dies würde in Anlehnung an unsere Wahrnehmung ein eher ovales, an den Rändern verschwimmendes Bildfeld begünstigen. So gesehen sprächen eigentlich nur die Kosten für rechteckige Bilder - kreisförmige gleicher Auflösungsqualität kosteten geringfügig mehr an Material - geringfügig jedenfalls in Relation zu den tatsächlich anfallenden Kosten der Filmproduktion. Das Rechteck des Filmbildes sei - mir fiel kein anderes Wort ein - Ideologie.

Die Erfinder des Kinos imitierten natürlich die Erfinder der Photographie. Schon dort gab es
 
 

(Videokamera: Castellamare, Plattenphotographie aus dem letzten Jahrhundert)


 


eine Entscheidung für das Rechteck. Bei der Plattenphotographie war sie noch unvernünftiger als beim Film, denn durch die Rechteckskaschierung wurde etliches vom bei den damals erforderlichen langen Belichtungszeiten dringend benötigten Licht verschwendet. Die Entscheidung für das Rechteck war auch in der Photographie schon Ideologie.
 


(Kamera Bellini Madonna von der Wiese)


 


Die Photographie versuchte natürlich nur, die Malerei zu imitieren - in der hatte das Rechteck schon eine lange Tradition. Wie also kam die Malerei zu ihrem Rechteck?
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Eine rechteckige Leinwand läßt sich leichter spannen, als eine irgendwie anders gestaltete, und so könnte es hier einen funktionalen Zusammenhang geben. Doch die Wahl des Bildträgers selbst ist schon Ideologie. Auf Stein, Holz oder einem anderen festen Material braucht man keine Leinwand zu spannen und jede Form könnte Bildform sein. Das Rechteck aber wurde Grundlage der Ästhetik der Malerei, und das in einer Umgebung, die das Rechteck eher gering schätzte, die spätestens seit dem Barock von Kraft und Dynamik und geschwungenen Linien träumte, die den Begriff der Unendlichkeit schuf und die Idee der mathematischen Funktion, der das Universum zu gehorchen hatte.
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Zunächst, bis weit hinein in die Gotik, zum Teil noch über sie hinaus, wurden Bilder und farbig strukturierte Flächen fast unterschiedslos auf alles mögliche aufgetragen: in Höhlen, Katakomben, auf Altäre, Skulpturen, Wände, Decken, in Zwickel, Fensterrahmen und als Glasmalerei auch in Fenster. Manches - die auf ganz eigener Logik basierende Entwicklung der Buchmalerei übergehen wir hier - folgte der Rechteckform, das meiste nicht. Mit der Entdeckung der zentralperspektivischen Abbildung änderte sich das allmählich. In Giottos Ausmalung der Capella dell Scrovegni von etwa 1305 ist die Wand schon in Rechtecke zerlegt.
 


(Dia Scrovegnikapelle)


 


In jedem dieser Rechtecke gibt es eine eigene schüchterne Perspektive. Vielleicht aber sollte man gar nicht so nachdrücklich von mehreren nebeneinandergebrachten Bildern reden, eher schon von mehreren Phasen der großen Geschichte, die in der Kirche nun einmal erzählt wird, und in diesem Sinne handelt es sich um ein einziges großes Bild in Form des gesamten Innenraums einer Kirche. Die Idee der Perspektive und die Bildform "gesamter Innenraum einer Kirche" waren jedoch nicht so einfach miteinander vereinbar: so entstanden mehrere Bilder mit jeweils eigenen Perspektiven, die an den Wänden nebeneinander zu sehen sind. Jede von ihnen benötigte als verkleinerte Abbildung eines unendlichen Raums eine Begrenzung.

Daß die Wahl gerade auf das Rechteck fiel, läßt sich monokausal wohl nicht begründen. In den Mosaiken von San Maria Maggiore in Rom und S.Apollinare Nuovo in Ravenna gab es bereits 800 Jahre vor Giotto Rechteckfolgen,
 
 

(Dia Rechteckfolgen S.Apollinare Nuovo Ravenna)


 


und das ist besonders interessant, weil die Mosaiken der gleichzeitig entstandenen anderen ravennaischen Kirchen schon ganz byzantinisch den gekrümmten Kuppelraum selbst in einer bizarren, ineinander verflochtenen Geometrie füllen.
 


(Dia Apsis San Apollinare in Classis, Ravenna)


 


Im Urteil des Spätmittelalters wurde das Rechteck durch die Analogie zur Fensterform gestützt. Von der Fensteranalogie ausgehend wurden oft auch romanische oder gotische Begrenzungen versucht,
 
 


(Doppelbild Maestro del Bambino Vispi)


 


die aber allmählich verschwanden, vielleicht weil man vage die Möglichkeit eines cartesischen Koordinatensystems spürte, das Fluchtpunktkonstruktionen erheblich vereinfacht. Und schließlich darf man das merkwürdige Zerfasern der perspektivischen Abbildung zum seitlichen und unteren Rand hin nicht vergessen, das nach einer geraden Abgrenzung förmlich schreit. Innerhalb des flachen Rechtecks konnte man die Gesetze der Perspektive klarer fassen. Und so redet der gleiche Alberti, der den Tempel des Malatesta erbaute, am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts (obwohl er, der so viel mit romanischen Öffnungen arbeitete, gleichzeitig am Blick durch ein wie immer gestaltetes Fenster als Grundidee der Malerei festhält) schon wie selbstverständlich von einem Bild als rechteckigem Schnitt durch eine sogenannte "Sehpyramide".

Dennoch gab es von Michelangelo, Raffael und Botticelli noch bis 1530 ehrgeizige Rundbilder, erst dann verlor sich diese Form in Maniriertheiten - interessanterweise erst nach dem endgültigen Sieg der Vorstellung von der Kugelgestalt der Welt. Nicht einmal die Einheit der Zeit in einem Bild war unumstritten. Nicht nur in zahlreichen Arbeiten Botticellis werden in einem Bild mehrere Zeitpunkte - des Lebens des heiligen Zenobius etwa in der National Gallery in London - beschrieben. Als in Bildern nur noch ein Zeitpunkt zugelassen war, bekam das Rechteck eine neue Funktion: es diente als Verschluß gegen das Eindringen von anderer Zeit. Wenn wir den spätrömischen, vorbyzantinischen Mosaiken trauen wollen, war dies vielleicht sogar sein Ursprung. Das Bildinnere jedenfalls bestand erst von etwa 1500 an gesetzmäßig aus einem zusammenhängenden Ort an einem festen Zeitpunkt.
 


(Dia Bellinimadonna von der Wiese)


 


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Grundidee der perspektivischen Abbildung ist es, ein Kleines für ein Großes zu setzen. Das Große öffnet sich in Richtung des Fluchtpunktes bis zur Unendlichkeit, doch zur Seite hin ist es beschränkt. Bilder lassen sich nicht beliebig breit machen, irgendwann bricht die Zentralperspektive zusammen. Der Rand ist das eigentlich Unheimliche an der perspektivischen Abbildung, es ist der Bereich, in dem sie versagt. Es ist wie bei unserem Blickfeld, auch in dessen Randbereich verwehrt eine eigenartig verschwommene Geometrie dem analytischen Denken jeden Zugang. Die entschlossene und klare Begrenzung der Malerei durch das Rechteck ist eine Reaktion auf diese Unverständlichkeit. Wir begreifen, was innerhalb des Rechtecks liegt, bis hin zur Unendlichkeit, bis dorthin, wo sich die Parallelen schneiden - doch an den Rändern, da gnade uns Gott.
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An den Rändern der Perspektive war auch der Ort für die Angst vor dem Abgrund am Ende der Welt. Als die Perspektive erfunden wurde, war vielen die Welt noch Scheibe und die Furcht vor einem Herabfallen von ihrem Rand entsprechend real. Das Rechteck sperrte das räumliche Ende der Welt aus dem Bild und verhinderte das Eindringen der Wächter des dortigen Abgrunds, all der Meeresungeheuer und menschenverschlingenden Schlangen, von denen die Seeleute vor Kolumbus so seltsames zu berichten wußten. Ein massiver und solider Holzrahmen, der die Linie am Bildrand noch extra stützte, beruhigte noch mehr, er wirkte wie eine Mauer, die Unheimliches fernhielt und zugleich ein Herabfallen des Betrachters verhinderte. In den Verschnörkelungen der Bilderrahmen erkennt man die Seeschlangen vom Ende der Welt noch heute.
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(Videokamera: Stich Schongauer)


 


Auch in einem Kupferstich von Martin Schongauer von 1470: "Die Peinigung des Heiligen Antonius" können wir etwas davon erkennen. Um den in der Luft schwebenden heiligen Antonius bilden Dämonen und Ungeheuer eine Art Ring und zerren an ihm. Außerhalb dieses Rings sind unten Felsen angedeutet und oben durch Striche der Himmel, die beide durch die Linien des Rechtecks begrenzt werden. Sogar in dieser Karikatur von Perspektive gibt es dem Geschehen im Zentrum Raum und schottet es vom Bereich ihrer Unzulänglichkeit ab, hält also, wenn wir unserer Metapher weiter folgen, das Ende der Welt draußen. Interessant aber ist nun, daß die Ungeheuer vom Ende der Welt, die sich sonst erst in der Verzierungen der Holzrahmen finden, hier schon innerhalb des Bildes zu sehen sind: Sie bilden einen Rahmen innerhalb des Rahmens, der die gepeinigte Heiligkeit des Antonius umschließt. Es handelt sich um eine Darstellung der Angst vor dem Innenleben und die Rahmung besteht aus den Ungeheuern am Rande unseres Bewußtseins, die uns unsere Heiligkeit unmöglich machen wollen. Sie bilden eine Art perversen Heiligenschein um den Heiligen Antonius.

Von diesem Bild aus gibt es zwei logische Fortsetzungen. In der einen wird der Heiligenschein in ein Rechteck verwandelt, das den Heiligen unschließt, und es entsteht ein Bild, aus dem das Böse entfernt worden ist, und bei dem das Rechteck als eine Art Festungsmauer dient, die das Böse ausschließt. In seinem Inneren entsteht so eine Art Konzentrat des Heiligen, das wir aus den Mariendarstellungen kennen, und dessen weltliche Ambivalenz sich am auffälligsten vielleicht in den Ruhm des Lächelns der Mona Lisa verwandelte.

Wenn man sich dagegen im Bild vom gepeinigten Heiligen Antonius den Heiligen Antonius selbst aus dem Bild entfernt denkt und nur die Ungeheuer übrigließe, wird der Rahmen zu einer Art Zaun um einen Zoo des Bösen. Dies ist die andere Möglichkeit, die sich zunächst in einigen Bilder von Bosch und Breughel realisierte, deren geometrische Aspekte in diesem Sinn zu begreifen sind. Diesem Weg ist später auch die Rechtecksetzung der modernen Malerei in etwa gefolgt.

Vorher aber wurde das Individuum entdeckt und dabei verwandelte sich das Grauen vom Rand der Welt in das Grauen im Zentrum: in den gekreuzigten Christus und den gekreuzigten Christus in uns, der 150 Jahre nach Schongauer in El Grecos Heiligen Hieronymus stellvertretend für das inzwischen erstandene Individuum die Frage stellt: Was
 
 

(Dia El Greco)


 


geschieht mit mir! Wer bin ich, daß mir dies geschieht - kann ich etwas dagegen tun? Dieses Individuum ist noch nicht besonders anspruchsvoll: es hat gar nicht den Ehrgeiz, ein handelnder, die Welt verändernder, optimistischer Held zu werden wie Don Quichotte oder ein philosophierender Hampelmann vom Typos Hamlet, es reicht ihm schon, sich im Spiegel zu betrachten und daraufhin einen vernünftigen Entschluß zu fassen wie der heilige Hieronymus, der nach Askese und Reue die Bibel ins Lateinische übersetzte - die Vulgata - und sich in späteren Jahren gern von den römischen Damen betrachten ließ.
 
 

(Dia Nativitad von Piero)


 


Die moderne Malerei wollte auf stellvertretende Betrachter wie den Heiligen Hieronymus verzichten. Was dabei geschah, wird in den Selbstporträts van Goghs augenfällig - er geht das Innen auf direktem Wege an. Auch seine Landschaften sind als abstrakte Selbstporträts zu verstehen, in denen die Angst vor dem Außen und Großen sich in eine Angst vor dem Innen und seiner Wahrnehmung verwandelt hat.

Die Idee des Perspektive jedenfalls war nach der Eroberung der Welt schon banal. Als sie um 1850 durch die Photographie seriell erzeugt werden konnte, betraf das die Malerei gar nicht mehr, eigentlich vereinfachte es nur ihre Befreiung. Während die Photographen sich nun bemühten, die perspektivische Malerei zu imitieren, konzentrierten sich die Maler auf die Substanz der Wahrnehmung und des Rechteckinneren. Der Weg in die Abstraktion machte die Malerei wieder aktuell, und es ist nicht schwer, das hier Angerissene bis zur Ästhetik von etwa Pollock, Rothko oder Stella fortzusetzen. Die europäische Photographie des letzten Jahrhunderts dagegen überlagerte sich mit einer süßlichen Soße,
 


(Videokamera: Postkarte aus Cordoba)


 


deren angenehmster Teil ein enzyklopädischer Realismus war, wie er sich später in den Wochenschauen äußerte.
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In Amerika war das etwas anders: hier hatte die Angst vor Raum noch eine Basis. Der beschwörende Charakter des Rechtecks war vor der Weite der Natur noch kein entleertes Ritual. Im amerikanischen Bürgerkrieg dann kreuzten sich die Angst vor dem Außen, vor dem Raum, der durch die Perspektive erschlossen wurde, mit der Angst vor dem Innen, vor dem also, was auf den Rechtecken zu sehen war, dem Unfaßbaren der - wie Goya sie nennen wollte - Greuel des Krieges. So entstand im Bürgerkrieg eine amerikanische Kultur, deren doppeltes Symbol das Rechteck wurde. So gesehen erstaunt es nicht weiter, daß fünfzig Jahre später mit Griffiths Sentimentalisierung dieses Bürgerkriegs in The Birth of A Nation die Filmkunst entstand und jene Kathedralen zur Anbetung des Rechtecks, die wir gewöhnlich als Kinos bezeichnen.
 


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VI. VERKÜNDIGUNG


Nun, das ist jetzt alles ganz nett und folgerichtig formuliert, damals am Frühstückstisch aber muß es ein ziemlich zusammenhangsloses Gestammel gewesen sein. Immerhin leuchtete Joao Mario als Angehörigem einer Seefahrernation die Ausgrenzung des Endes der Welt und die Notwendigkeit der Begrenzung der perspektivischen Konstruktion durch das Rechteck sofort ein. Die Verwandlung des Rechtecks in einen Container des Inneren kommentierte er mit einem: Absolut richtig, schon Poussin, den er recht gut kenne, habe geschrieben, Bilder seien
 



(Videokamera Poussin)


 


vor allem Landkarten des Inneren, des Bewußtseins. In diesem Sinne wäre das Rechteck eine Art Behälter dieses Bewußtseins. Wir sahen uns die Reproduktionen an, die ich aus Urbino mitgebracht hatte. Auf Ucellos "Schändung der Hostie" aus dem Jahre 1450 überraschten uns
 
 


(Videokamera Ucello)


 


nicht nur gedrechselte rote Säulen als Bildbegrenzung, welche die sechs wie in Comicstrips nebeneinanderstehenden Einzelbilder voneinander trennen, auch sein Versuch, die Landschaft der verschiedenen Einzelbilder hinter den Säulen zu verbinden, schien bemerkenswert, in ihm entsteht ein merkwürdiges und hochinteressantes Raumkontinuum verschiedener Zeiten. Noch um 1450 waren Rechteckrahmung und einheitliche Zeit offenbar noch nicht unhinterfragte Randbedingungen intelligenter Malerei. Selbst wenn das Rechteck benutzt wurde, gab es oft eine merkwürdige Unentschlossenheit in seiner Innenstruktur. Häufig entstanden Unterrechtecke, die durch im gleichen Bild vorhandene getrennte Räume verursacht wurden. In dem Piero della Francesca - Buch entdeckten wir mit der Geißelung Christi von 1450 ein solches Doppelbild, das eigentlich aus zwei Bildern mit unklarem Bezug aufeinander bestand.
 


(Videokamera Piero Geißelung, anschließend in Buch blättern)


 


Joao Mario blätterte weiter und sagte: "Ja, hier gibt es eine ganze Reihe von Bildern, bei denen man das sehen kann, auch bei dieser Verkündigung hier sind die Räume getrennt. Diese ist übrigens untypisch", fuhr er fort,
 


(Dia Piero Verkündigung)


 


"hier guckt Maria den Engel direkt an, sie kann das tun, weil eine Säule direkt zwischen ihnen steht, normalerweise blickt sie im Halbprofil nach links ins Leere. Aber auch hier gibt es diese Raumtrennung. Das erinnert übrigens sehr an das Schuß-Gegenschuß-Verfahren im Film", fuhr er fort: "Ich habe beim Drehen meiner Schuß-Gegenschußpaare immer versucht, den Gesichtsausdruck von Maria genau in diesem Halbprofil hinzukriegen." "Sehr katholisch", sagte ich, "die Beschäftigung mit der unbefleckten Empfängnis, und das dann mit einer Begriffsbildung wie negatives Licht zu koppeln". "Tja", meinte er dazu, aber wenn ich mich für Geometrie interessierte, würde ich bestimmt die Säule zwischen dem Engel und Maria interessant finden. Oft wäre sie nur angedeutet, aber sie sei auf allen Verkündigungen vorhanden. Woher er das alles wisse, fragte ich, und ob er denn so viele studiert hätte. "Ja, für den Film", meinte er, und das mit der Säule wäre ganz bekannt. "Die Säule ist doch bestimmt der Penis Gottes", sagte ich, "den sie sich nicht anzublicken traut". "Nein, nein", sagte er unamüsiert, "so etwas liegt dem Denken von damals fern. Nein, der Literatur nach repräsentiert sie den heiligen Geist". "So, so, der heilige Geist also", meinte ich, "weißt du, daß ich selbst, wenn ich nur Landschaften photographiere, später immer sexuelle Untertöne in der Bildkomposition entdecke?" Oft wäre doch an gerade den einfachsten sexuellen Modellen in Bezug auf das Schöpferische was dran. "Nun, vielleicht", sagte er höflich, doch dann plötzlich mit erhöhter Intensität, "Nein, es ist der heilige Geist, you must believe me, Klaus, it is well known." Man sieht, auch so kann man sich näher kommen.
 
 

(Videokamera: Doppelbild Maestro del Bambino Vispi)


 


Inzwischen habe ich mir selbst hunderte von Verkündigungen angesehen, tatsächlich ist außer bei exzentrischen Versionen wie der von El Greco oder einem Meister Bertram in Hamburg, zu dem sich das womöglich noch nicht herumgesprochen hat, fast immer die Andeutung einer Säule zwischen Maria und dem Engel zu sehen, oft eigenartig maskiert, zum Beispiel als Ständer eines Blumentopfs. Worum geht es bei der Verkündigung? Eigentlich verkündet der Erzengel Gabriel Maria ja nur, daß sie den Sohn Gottes gebären wird. Da aber Jesus jungfräuliche Geburt seit dem Hochmittelater christliches Dogma ist, muß mit Sorgfalt der Eindruck vermieden werden, er könne die Frucht einer zufälligen Begegnung Marias mit einem Handlungsreisenden namens Gabriel sein - die Begegnung muß also züchtig verlaufen. Die sich in einer langen Tradition entwicklende Bildlösung bestand darin, die beiden zunächst (bei Giotto in der Srovegnikapelle und auch in unserem Beispiel dem Maestro del Bambino Vispo um 1420) in getrennten Bildern auftreten zulassen, die sich durch symmetrische Hängung aufeinander bezogen. Als später gestattet war, sie in einem Bild zu zeigen, variierte man diesen Gedanken und ließ Maria sich in einem Innenraum aufhalten, während Gabriel sich im Freien befindet (Lippi). Es waren also zwei Bilder in einem, deren Trennung voneinander ideologisch begründet war. Als die beiden sich dann in der logischen Fortsetzung dieses Gedankengangs auch in einem einzigen Raum aufhalten durften, blieb als Echo dieser Tradition in Züchtigkeit die zwischen ihnen stehende Säule übrig, die also keineswegs meinem dümmlichen Vorschlag entsprechend als Schwanz Gottes interpretiert werden darf, sondern als Instanz von Wohlanständigkeit. In diesem Sinne hatte Joa Mario tatsächlich ins Schwarze getroffen: im Film wird im Schuß-Gegenschuß-Verfahren durch den Schnitt eine ähnliche Personentrennung erzeugt, um zu verhindern, daß die Beteiligten in einem Bild zu sehen sind und in Form von Vergewaltigung, Inzest, Bruder und Vatermord übereinander herfallen können. Tatsächlich ist diese Trennung nach dem Verkündigungsmuster ja zur Methode geworden, nach der filmische Spannung erzeugt wird - sie versagt erst da, wo die Trennung endgültig aufgehoben ist, in Pornofilmen, in denen die geschlechtliche Vereinigung tatsächlich sichtbar vollzogen wird. Dort wirkt das Schuß-Gegenschuß-Verfahren lächerlich, absurd und obsolet. In Verbindung mit Pornographie ist vielleicht interessant, daß die erste von mir gefundene Verkündigung ohne dazwischenstehende Säule aus dem Gebetbuch des
 
 


 


Lorenzo de Medici von 1485 stammte, also für die privaten Augen eines Fürsten bestimmt war, der sich ohne Zeugen dazu denken mochte, was er wollte. Das war natürlich bloß Zufall.

Die Säule steht offenbar zumindest zum Teil für die Raumtrennung zwischen der Verführten und dem möglichen Verführer. Bei ihrer Identifizierung mit dem Heiligen Geist scheint sich Joao Mario trotz seines inständigen Bittens, ihm zu glauben, geirrt zu haben - der Heilige Geist taucht meist in Form einer Taube auf ,
 


(Videokamera: Duccio)


 


das "well known" war für mich in der Fachliteratur nicht zu entdecken. Tatsächlich wurde in der mir zugänglichen Literatur nicht einmal die Säule erwähnt, es handelt sich womöglich um Joao Marios Entdeckung. Nein - die Säule repräsentiert nicht den Heiligen Geist, und auch wenn mir die Schwanz-Gottes-Interpretation als schmutziger Nebengedanke manchmal noch immer ganz lieb ist, erscheint als seriöseste Hypothese wohl, daß es sich bei ihr um ein Symbol für die Kirche handelt, mit deren Hilfe man geschlechtliche Versuchung überwindet und die Jungfräulichkeit einer Geburt garantieren kann.
 


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VII. DAS INNERE, DIE INNIGKEIT UND DAS MITEMPFINDEN

(Dia Donatello)


 


Virginia hatte von dem traurigen, dem wissenden Gesichtsausdruck Marias auf den Verkündigungen erzählt. Bei Donatello fühlen wir, daß sie das Mutterglück für einige Zeit versöhnen wird, dort ist der schwere dunkle Rahmen ein Symbol für die Abgeschlossenheit der Innigkeit ihrer Liebe, in die nichts von außen eindringen wird, nicht einmal der Haß Gottes auf seinen Sohn. Nur der merkwürdige Strich zwischen Mutter und Kind verkündet die unvermeidlich werdende Trennung. Ein genauerer Blick auf die geraden Linien an den Rändern des Halbreliefs verrät etwas von der Bewußtheit, mit der Donatello diese Rahmung vollzog. Die Linien im Marmor deuten ein Zimmer in perspektivischer Verkürzung an, in dem sich die beiden befinden. Seine hintere Wand bildet einen Rahmen für Jesus, während Marias Kopf durch ihn hindurchsticht und so der Welt zugewandter ist. Die vordere Rahmung dagegen, die entsteht, weil das Zimmer wie in einer Puppenstube aufgeschnitten ist, schützt auch Maria vor dem Außen. Dann erst kommt der Holzrahmen, der die Zerbrechlichkeit dieser Konstruktion noch einmal besonders stützt. Innerhalb dieses Holzrahmens hat sich also eine komplizierte Befindlichkeit konzentriert, die gleichzeitig ein merkwürdiger Spiegel von etwas aus uns ist.
 
 


(Dia Giotto Kruzifix)


 


Das Kruzifix Giottos dagegen braucht keinen Rahmen: Jesus ist allein, er braucht nicht eingesperrt oder geschützt zu werden: Ans Kreuz genagelt kann er nicht fliehen: wer ihn berühren will, kann ihn berühren. Wenn er zusätzlich gerahmt wird, soll sein Zustand betont werden. Erst die gewollte Zusammenfassung von zwei oder mehr Personen verlangt das Rechteck. Solange die Personen wie in den Byzantinischen Mosaiken relativ wahllos nebeneinanderstanden, mußte aus der Bibel herausgelesen werden, wie sie sich aufeinander bezogen. Mit der Rahmung wurde die Wirkung von Bildern ohne Worte verstärkt. Es wurde entdeckt, daß bestimmte Personenkonstellationen emotionale Einheiten bildeten, die über einen literarischen Zusammenhang weit hinausgingen. Das gerahmte Bild enthielt plötzlich ein Gefühl. Es wurde zum Bild eines Gefühls, das nach außen hin abgedichtet werden mußte, um zu verhindern, daß zusätzliche Elemente seine fragile Substanz zerstörten. Genaugenommen war das Gefühl gar nicht auf dem Bild, dort waren nur Personen und Gesten, die man irgendwie benennen konnte, das wirkliche Gefühl - heute könnte man es vielleicht als psychoanalytische Resonanz bezeichnen - existierte in einem selbst; ja, in einem gewissen Sinne war man es selbst, weil es ohne intensive Betrachtung gar nicht existierte. Es war etwas jenseits der Benennungsmöglichkeiten der damaligen Zeit, es war etwas ohne das Wort, etwas sehr Zerbrechliches, das mehrere aufeinanderfolgende Generationen von Künstlern benötigte, um reine Gestalt zu erhalten. Um den gekreuzigten Christus gab es eines dieser Gefühlsfelder, um Maria mit dem Kind natürlich, und eines von vielen anderen ist auch die Verkündigung.

Gleichzeitig beginnt mit dem Rahmen um ein solches Gefühl etwas anderes.
 



(Dia Bellini)


 


Es beginnt das Mitgefühl mit einem anderen Menschen. Mit der Rahmung wurde die Innigkeit faßbar - auch hier in diesem Bellini spürt man die Bewußtheit, mit der die verschiedenen Rahmen gesetzt wurden - und mit der Innigkeit beginnt über eine psychonalalytische Resonz das Mitgefühl, zunächst mit den Erscheinungen auf dem Bild, in denen man Aspekte von sich selbst erkennt, und dann durch Übertragung: Warum Vater, Mutter habt ihr mich in die Welt geschickt? Warum habt ihr mich verlassen. Und das setzt sich fort in das Mitgefühl mit anderen Menschen, denn gleichzeitig wissen wir sehr wohl, daß wir nicht Christus sind, in seinem Leiden ist er auch immer der andere.

Beim Betrachten von Tierfilmen wird dieser Prozeß oft verblüffend deutlich. Einmal habe ich in einem Film über Vögel geweint, es ging um eine Vogelart, die ihre Nester in Steilküsten baute. Irgendwann warfen die Eltern ihre Jungen über die Nestkante: wer nicht fliegen kann, zerschellt auf dem Boden. Jedes dritte Junge kam dabei um, furchtbare Bilder. Das Weinen darüber ist natürlich das Weinen um einen selbst, denn in diesem Zerschellen auf dem Boden erkennen wir uns alle wieder, all unsere Leben enden in einem Scheitern: die gewisse Wärme, die es einmal gab, werden wir nur als Karikatur wiederfinden, meistens nicht einmal das. "Die Zwei blauen Augen von meinem Schatz", läßt der junge Mahler singen, "die haben mich in die weite Welt geschickt", und mir war eigentlich immer klar, daß es sich dabei um die grauen Augen meiner Mutter gehandelt hat, und der Gang in die Welt ist ein entsetzlich langer Fall, an dessen Ende wir zerschellen werden - da fühlen wir uns alle wieder mühelos als der gekreuzigte Christus.

So sensibilisiert entdecken wir uns selbst auch in Landschaften. Wir verstehen es, Verletzungen der Natur als eigene zu fühlen - das Bild offener Erde wirkt auf uns manchmal wie die Verletzung der eigenen Haut. Hier findet sich auch eine Wurzel unseres geradezu körperlichen Ekels vor der heute so oft beklagten "Umweltzerstörung". Wir verstehen sie ganz direkt als Verletzung des eigenen Ichs - dabei reagieren wir - wie ich in der Szene mit der Postkarte und dem Fresco im Tempel des Malatesta - erstaunlicherweise oft sehr viel empfindlicher auf Bilder, als auf die Wirklichkeit selbst, so als würde nur mit Bildern diese emotionale Übertragung richtig funktionieren. In Bitterfeld haben die Menschen jahrzehntelang gelebt und gearbeitet, ohne ihr Leben als allzu ungewöhnlich zu empfinden, erst als die Bilder kamen, hat sich ihr Elend ins Unerträgliche verschoben. KZ-Wärtern sollen bei Bildern der Resultate ihrer Gewalttaten die Tränen gekommen sein, die sie im Moment der Tat nicht empfanden. Ich selbst könnte wahrscheinlich leichter jemanden umbringen, als das Bild davon ertragen. Und dies scheint mir keine Frage des Gewissens zu sein, nein, an genau dieser eigenartigen Schizophrenie kann man die Signatur einer bildproduzierenden Kultur erkennen.

Vielleicht reagiert eine katholische Kultur nicht ganz so extrem, denn dort hat das Heiligenbild als Kitsch noch reale Bedeutung und braucht sich nicht in subtilen Übertragungen zu verwandeln. In bilderlosen Kulturen jedenfalls scheint kaum jemand so zu reagieren. In Ägypten zum Beispiel staunte ich über die endlosen Müllhaufen neben den Straßen in der Wüste, ich konnte mir nicht vorstellen, wie Abfall so sorglos und in solchem Maßstab direkt neben die Straßen geworfen wird und so die Landschaft verschandelt - ich weiß wovon ich rede, denn auch in meiner eigene Wohnung herrscht ein unglaubliches Durcheinander, dessen ich nicht Herr werden kann, weil ich es einfach nicht richtig wahrnehme. Nein, die Wüste ist nicht mehr so sauber, wie man sie sich als Jugendlicher vorgestellt hat. Auch der Schmutz im Nildelta hat entsetzliches Ausmaß, obwohl die Menschen im Inneren ihrer Wohnungen nicht weniger reinlich sind als hier. Aber anscheinend gibt es dort nicht die Art Blick, der aus Land ein Bild macht, mit dem man mitfühlen kann oder sogar muß. Bilderlose Kulturen erzeugen solchen Blick möglicherweise nicht. Das Land bleibt in ihnen bloßes Terrain, und weil man kein Selbstporträt in ihm entdecken kann, gibt es auch kein Mitgefühl mit Landschaft. Müll und Dreck, die einen nicht direkt betreffen, werden gar nicht erst gesehen. Dennoch wirkt das inzwischen menschlicher auf mich als vieles, was - vor allem im Fernsehen - in letzter Zeit im mitempfindenenden Modus geboten wird.

Das Fürchterlichste, was ich in dieser Art erinnere, ist das Bild einer jungen Katze, welche sich, von einer jungen Frau aus einem vollkommen verdunkelten Käfig genommen, dankbar und erwartungsfroh an sie anschmeichelt, offensichtlich erfreut, aus dunkler Ödnis gewissermaßen, ins Leben gefunden zu haben - das Marienbild samt kleinem Christus par excellence. Die junge Frau streichelte die Katze auch entsprechend liebevoll und gab ihr dann, das war Sinn dieser Einstellung, eine Spritze, auf Grund derer das Tier innerhalb von zwanzig Sekunden verendete; ein Tierversuch mit dem Ziel, herauszufinden wie Gehirngewebe sich durch einen kurzen visuellen Reiz, den einzigen im Leben der Katze, verändert. Zu diesem Zweck wurden Augenpartie und der Bereich, in dem man das Sehzentrum vermutet, anschließend aufgeschnitten, per Elektronenmikroskop untersucht und mit den Resultaten variierter Versuchsanordnungen verglichen: auf diese Weise hofft man, einem Verständnis des im Gehirn ablaufenden Sehprozesses näher zu kommen, brutal und hilflos, keine Frage, doch den Wissenschaftlern fällt bei ihren Diplom- und Doktorarbeiten nun einmal nichts besseres ein, und über den Sehprozeß und die tatsächliche Aufbewahrung des einmal Erblickten im Gehirn - das immerhin weiß ich - ist auch heute nicht viel mehr bekannt als zur Zeit Lukrezens oder des Heiligen Augustinus. Im Kern - auch allerfeinst daherkommende biochemische Untersuchungen haben daran wenig zu ändern vermocht - kaum etwas, was über Selbstbeobachtung und plausible Extrapolation hinausgeht. Furchtbare Sache. Der Film, dem die Bilder entstammten, wurde gemacht, um gegen Tierversuche zu polemisieren, für einen 'guten' Zweck also, die Polemik seiner Autoren war jedoch derart auf rhetorische Effizienz hin angelegt, daß man danach überhaupt nichts mehr wußte, denn man wurde hilfloses Opfer eines zynischen Spiels, in dem es objektiv nun einmal keine einfachen Antworten gibt. Die Autoren gaben einem natürlich welche, sie behaupteten einfach, in ihrem Besitz zu sein, daher nahmen sie sich auch das Recht, die Aufnahmen so zu drehen, daß das Leiden der Kreatur eine Heiligkeit bekam, die ihm nie und nimmer angemessen sein konnte. Drei Wochen später sah ich die gleichen Leute in einem anderen Film die Bundesregierung angreifen, weil nicht genügend Mittel für die Suche nach einem Impfstoff gegen Aids bereitgestellt wären - wollten sie einen solchen statt an Tieren an uninfizierten Menschen testen? Bestimmt wohl nicht an sich selbst. Es steckte eine Verlogenheit hinter diesem Film, die mit blind manipulierender Ästhetik zu tun hat und so prinzipiell war, daß meine ohnmächtige Wut darüber fast grenzenlos wurde und jetzt gehe ich vom ich zum Er über, weil ich das Gefühl habe, mich nur so gegen Verbrecher diesen Typs schützen zu können:

"Es schüttelte ihn, immer wieder, wenn er an die Bilder dieser Katze dachte - wie einem Tier sträubten sich ihm dabei die Nackenhaare, denn er fühlte sich hier ganz dicht an etwas, das mit ihm, mit ihm allein zusammenhing, gar nicht mal so sehr mit diesen Tierversuchen. Da war irgendwas, das hatte mit seiner toten Mutter zu tun und - und diese Journalisten oder was sie waren, die ganze Bande, die spielten da mit unverstandenen Ur-Erfahrungen, und zwar auch seinen, und verwandten sie für eine zynische Politik, bei der es - um was eigentlich überhaupt ging? Er vermochte es nicht zu sagen. Nicht jedenfalls, so schäbig war das leider nicht, primär um Geld, es ging eher um Anerkennung, einerseits in einer nicht recht greifbaren Öffentlichkeit, mehr aber wohl von Kollegenkreisen, vielleicht auch noch um einen Fernsehpreis. Unverantwortliche Saubande! empörte er sich und mußte weinen, wie er an die, als sie das Licht der Welt zum ersten Male wahrnahm, vertrauensvoll blickenden Augen der Katze dachte, und er weinte und weinte und verlor jedes Gefühl für die vergehende Zeit.

Aber während er das vor sich hin rekonstruierte, ging ihm ein Abschnitt bei Cicero nicht aus dem Kopf, in dem Kummer schlicht eine 'Leidenschaft' genannt wurde, der man nicht einmal im Ansatz verfallen dürfe. Dabei galten als Ursache derart verfehlten Kummers nicht bloß Affekte wie Neid, Eifersucht, Ärger, Jammern, Mißgunst - da konnte er Ciceros tusculanischem Gespräch noch folgen - sondern es zählten auch eher liebenswürdige Äußerungen des Menschlichen dazu: Leid und Mitleid, Sorge, Besorgnis, Grübeln, Schmerz und jede Form von Traurigkeit oder ähnlich gearteter Niedergeschlagenheit. Sehr lustig muß es gewesen sein, das Leben in der Antike, dachte er, wenn den Menschen gelungen war, all diese Formen von Kummer schon im Ansatz zu ersticken. Und dann geriet er beim Denken an wieder das Kamerateam, das den Katzenfilm produzierte, erneut in Wut: sie hatten alles schon vorher gewußt, Kameramann, Beleuchter, Regisseur, Produzent, Produktionsassistent, selbst die Wissenschaftlerin, man hatte ausgeleuchtet, ideale Aufnahmewinkel gesucht, war ja keineswegs zufällig am Ort des Geschehens gewesen; nein, es war alles geplant, 'Profis' eben; schließlich wurde der Wissenschaftlerin gesagt:

"Nun machen Sie mal!" Und dann hatte sie es gemacht: es wurde gedreht, anschließend geschnitten und das Ganze schließlich 'professionell' mit kitschig-klassischer Musik unterlegt, um das äußerste aus den Bildern herauszuholen. Vermutlich hatte die Wissenschaftlerin sich zu Tode geschämt, sobald sie das Resultat ihres Handelns im Film sah, war womöglich gleich danach aus dem Fenster gesprungen, weil dieses optimierte Bild ihrer Unmenschlichkeit ihr unerträglich gewesen sein mußte - dabei war Menschlichkeit in solchem Zusammenhang das unpassendste Wort. Philipp überfiel kalte Wut, wenn er an dieses Filmteam dachte: "Geil, das wird was; da werden wir was in Bewegung setzen!" Und dann wurde durch das Senden des Films mit seinem Kummer gespielt, da wurde er unversehens getroffen, wo er am meisten zu verletzen war. Säue waren das (in seiner Hilflosigkeit wußte er nicht, wie sonst er sie beschimpfen sollte), er hätte nicht übel Lust, den Verursachern seiner Wut, diesen 'Profis', das gleiche anzutun, was sie jener Katze angetan hatten.
 


***


 




 


VIII. DIE MONA LISA VON DEN SPAGHETTIS


Nun gut - an diesem Punkte wollen wir erst einmal aufhören. An sich müßten wir jetzt noch andere Muster untersuchen, die einen beim Sehen von Bildern zum Weinen verleiten, den Vater Sohn Konflikt, das Kain und Abel Muster, das große Begräbnis und ähnliches, aber dazu fehlt jetzt die Zeit. Die Verwandlung von Selbstmitleid in Mitgefühl, die den meisten zugrunde liegt, ist jedenfalls hochinteressant. Seine Fatalität steckt vor allem in seiner Maßlosigkeit. Vielleicht ist es so maßlos, weil es für viele von uns das einzige über uns selbst hinausgehende Gefühl ist. Es ist völlig unquantitativ, und genau das Un-, ja sogar ausgesprochen Antiquantitative ist der entscheidende Defekt bildbasierender Denkweisen. Details können den Weltüberblick nicht ersetzen, aber genau das passiert: zu groß ist das Entsetzen über den eigenen Fall. Wollte ich meinem Impuls nach dem Betrachten der Bilder des fallenden Vogels folgen, müßte ich alle Steilküsten der Welt einreißen und würde so ein Unheil anrichten, das keinerlei Relation zu dem zu reparierenden Defekt hat - als erstes würde ich dabei wahrscheinlich diese Spezies Vogel ganz ausrotten. Und ich würde es nur tun, und das ist der Punkt, um von solchen Bildern nicht mehr belästigt zu werden, das ist das moralisch Bedenkliche. Das Spiel mit dem Mitgefühl taugt nichts bei der Umsetzung in Politik.

Man kann erkennen, wie man von hier zu dem im Ölschlick verendenden Vogel gelangen kann, der einen mehr rührte als die Bilder von tausenden bei einer Überschwemmungskatastrophe umgekommenen Menschen, oder wie das erstaunliche Mitgefühl mit zerbombten Ruinen entsteht, weil man in sie seine eigene Zerrüttetheit projiziert. Interessant wäre auch zu untersuchen, inwieweit der kategorische Imperativ Kants und die daraus entstandene Sozialdemokratie als direkte Folge des protestantischen Bilderverbots begreifbar sind - weil nämlich das Fehlen von Bildern in den Kirchen einen derartigen Mangel an Mitgefühl entstehen ließ, daß er verbal oder in gesetzgeberischen Akten kompensiert werden mußte. Vielleicht ist das aber auch nicht wirklich interessant, solange ihm die belletristische Verankerung fehlt, die das selbstgestaltete Leben ausmacht. Das spürte ich jedenfalls deutlich, als ich mich bei der Beschreibung der verschiedenen Rahmungen des Donatellos
 


(Video Donatello)


 


in meinem Arbeitszimmer umdrehte und mir ein Bild von mir selbst an der Wand auffiel, das ich lange nicht - vielleicht sogar noch nie - sorgfältig betrachtet hatte. Und das soll ein kurioser und angenehm banaler letzter Beitrag in der Komödie um unser Thema: "Was sehen wir eigentlich in den Bildern" sein. Es hat den Titel "Drying Maccaroni in the Streets of Naples".
 


(DIA Drying Maccaroni, Detail)


 


Der Titel steht unterhalb des eigentlichen Bildes einer fünf mal sechs Zentimeter großen Straßenansicht von Neapel, in der Maccaroni wie Wäsche auf einer Leine zwischen den Häusern getrocknet werden. Das Bild ist eine von mir kolorierte Photokopie eines Stiches aus einem alten Geographiebuch, und eigentlich nur interessant, wenn man weiß, daß ich das Bild 1970 kurz nach meinem ersten Nervenzusammenbruch gemacht habe - in dessen Zentrum standen nämlich Spaghetti. Wie alle Nervenzusammenbrüche war auch dieser eine recht komplizierte Angelegenheit, die ich jetzt nicht weiter erklären möchte, zur Unterhaltung möchte ich aber ein paar der Ingredienzien aufzählen, mit der die Spaghettisoße angerührt war: erstens natürlich ein Spaghettitrauma aus frühester Kindheit, dessen Struktur mir bis heute nicht ganz klar ist, zweitens an diesem Abend gegessene Spaghetti mit drittens einer Exfreundin, die viertens besoffen danach im Nebenzimmer mit fünftens einem guten Freund von mir gut hörbar schlief, während ich sechstens allein mit einer Geschlechtskrankheit bei siebtens gerade begonnenem Rauschgiftentzug in achtens einem fremden Zimmer, weil ich kein eigenes mehr hatte, nach neuntens dem Lesen von Lenins Testament nach dem zehntens dreimonatigen Versuch in einer kommunistischen Splittergruppe Stalin anzubeten, nachdem elftens mir ganz klar geworden war, daß künstlerische Produktion in unserer Zeit das allererbärmlichste bourgeoise Schmarotzertum repräsentiert, das man sich überhaupt vorstellen kann, und genau dem hatte ich mich verschrieben. Elf gute Gründe also durchzuknallen, ihre Kombination machte sie unwiderstehlich - so knallte ich eben durch. Nun - auch das ist mäßig interessant.
 



(Dia: Drying Maccaroni, mit allen Rahmungen)


 


Interessant ist aber, wie ich, ohne die geringste Ahnung gehabt zu haben, was ich da eigentlich tat, das Bild danach bearbeitete. In der Mitte hängt also dieser helle Streifen Maccaroni, die Häuser darüber und die Straße sind rosa koloriert und darum herum ist ein nach innen abgerundeter grüner Rahmen gemalt. Dadurch sieht die Szene ein wenig wie ein Fernsehbild aus. Unterhalb des Bildes befindet sich noch in dem grünen Rahmen der Titel "Fig 165 Drying Maccaroni in the Streets of Naples". Um den grünen, nach außen rechteckigen Rahmen gibt es einen 3mm starker Streifen dunkelbraunen Klebebands, der eine weitere Rahmung andeutet. Das Ganze ist aufgeklebt auf ein größeres Stück hellbraunes Papier, das wiederum von einem Passepartout aus braunem Karton gefaßt ist, dessen Innenkante ein schmaler weißer Streifen ist, und dessen Fläche aus braunem Karton besteht. Das Passepartout ist in einen schwarzen Holzrahmen gefaßt, auf dessen Innenseite sich eine schmale vergoldete Leiste befindet. Das Ganze ist unter Glas und hängt an einer hellen rechteckigen Wand, die eine weitere Rahmung bildet. Wenn ich daran denke, daß mich vor allem Dingen die Maccaroni - und nicht einmal die, sondern die durch sie maskierten Spaghetti - an dem Bild interessiert haben, dann habe ich, um dem Bild eine fertige Gestalt zu geben (die mir immerhin so gut zu sein schien, daß es jetzt in meinem Arbeitszimmer hängt, und ich wiederhole, bis heute, wo ich mir die Rahmung des Donatellos genauer angesehen habe, hatte ich keine Ahnung, was eigentlich mit dem Bild los war), habe ich also nicht weniger als 9 Rahmungen um dieses Zentralereignis gelegt - um es in Zaum zu halten oder zu beschwören oder wie sonst man es nennen soll, dazu als zehnte eine Verwandlung der Spaghetti in Maccaroni und eine Schrift, die ausdrücklich erklärt, daß es sich um Maccaroni handelt und nicht um Hamburg, wo ich den Zusammenbruch hatte, sondern um Maccaroni in Neapel, und dazu gibt es als elftes noch eine Zahl Figur 185, die bestätigt, daß es hier ganz wissenschaftlich zugeht, und im Grunde nichts mit mir zu tun hat, sondern daß es sich um einen ganz gewöhnlichen Fall unter Tausenden handelt, und so war es ja auch. In wunderschöner Entsprechung zu den elf Gründen, die das Ereignis verursachten, gibt es darum herum also elf Rahmungen, und heute erkenne ich hier die Wurzeln einer fixen Idee, die über mancherlei Unsinn schließlich zu dem heutigen Abend geführt hat, und nach dem Motto: durch die Neurose zur Wahrheit, einer Beschreibung von Madonnenbildern.
 


(Videokamera Bellini)


 


Inzwischen esse ich Spaghettis wieder ganz gern und kann den Ekel, den ich einmal bei schon ihrem Anblick empfand, nicht mehr nachempfinden. Irgendwie habe ich dies Ereignis bewältigt. Warum aber habe ich das Bild überhaupt aufgehängt? Warum in meinem Arbeitszimmer und nicht über meinem Bett? Vermute ich eine Verbindung zwischen meiner Kreativität und diesem Nervenzusammenbruch? Denke ich, daß in diesem Ausbruch die Ursache von etwas zum Vorschein gekommen ist, das eine Art kreativer Zwanghaftigkeit in mir hat entstehen lassen? Meine ich, daß es in mir ein Kindheitstrauma gibt, das sich in irgendwas verwandeln wollte, und nur durch diese Art von Zusammenbruch in den künstlerischen Bereich gelenkt wurde? Glaube ich, daß ich sonst mit ähnlicher Energie so etwas wie Raketenmotoren hätte bauen müssen? Die Ursache des ursprünglichen Traumas blieb mir bis heute verborgen. Im übrigen muß ich zugeben, daß in meinem Arbeitszimmer auch eine Reproduktion der Mona Lisa hängt - ungerahmt allerdings, und das bringt uns zum allerletzten Teil des Abends.

Wie kam die Mona Lisa in mein Arbeitszimmer? Ich muß daran denken, daß sie und ihr Lächeln wahrscheinlich in Millionen von Haushalten hängen - sicher wäre ganz komisch, eine Anthologie darüber zusammenzustellen, wie die Menschen zu ihr kamen. Bei mir begann es mit Onkel Willi. Onkel Willi hatte ihre letzten Jahre mit seiner Mutter, meiner Großmutter verbracht. Nach ihrem Tod blieb er in der Wohnung und lebte von da an allein. Einmal sagte er mir, er könne die Tapeten dort nicht mehr ertragen - wenn er von der Arbeit nach Hause kam, würde ihn das Muster der Tapete anstarren und sich in Fratzen verwandeln, die ihn auslachten. Von einer Neutapezierung wollte er freilich nichts wissen. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einer Küche, einem Schlafzimmer und einem kleinen Zimmer, in dem er wohnte, während meine Großmutter noch lebte. Einmal bemerkte ich eine Veränderung: er war in Paris gewesen und hatte eine kleine Mona Lisa mitgebracht, die hing nun in dem kleinen Zimmer über seinem Bett. Danach beklagte er sich nicht mehr über die Tapete. Inzwischen habe ich erfahren, daß er nach dem Tod seiner Mutter ihr Schlafzimmer nicht verändert hatte und weiter in dem Kinderzimmer schlief. Ich nehme an, er hat das inzwischen geändert, aber wenn ich es mir genau überlege, warum sollte er eigentlich? Ich glaube nicht, daß es lächerlich ist, den Tod seiner Mutter so sehr zu betrauern, daß man sogar Räumlichkeiten mit einem gewissen Respekt behandelt. Als ich die auf einem kleinen Holzstück aufgeklebte Mona Lisa über seinem Bett im Kinderzimmer sah, wollte ich merkwürdigerweise genau so ein Bild haben, mochte ihn aber nicht darum bitten. Ich spürte, daß seine Versöhntheit mit der Tapete mit diesem Bild zuammenhing.

Also wollte ich selbst eins kaufen. Es stellte sich heraus, daß gar nicht so leicht war, eine kleine Mona Lisa zu bekommen. Einmal fand ich ihr berühmtes Lächeln auf einem Teller, aber ich wollte, wie Sie inzwischen vielleicht verstehen, meine Mona Lisa auf einem Rechteck. Letzten Frühling fuhr ich selbst nach Paris, um zu versuchen, den Film, von dem Sie zu Anfang einen Ausschnitt gesehen haben, auf dem Festival in Cannes unterzubringen. Inzwischen war meine Mutter ebenfalls gestorben. In Paris gab es alles mögliche: T-Shirts mit Mona Lisas, Bierkrüge, ganze Eßgeschirre, nur keine auf einem kleinen Rechteck. In einem Laden wurden lebensgroße Kopien angeboten, aber ich wollte eine kleine. Nun, mein Film wurde von dem Festival nicht genommen (They were not impressed, sagte man meinem Agenten), aber dann fand ich doch noch ein kleines rechteckiges Stück Holz mit einer aufgeklebten Mona Lisa. Eine Stunde lang dachte ich tatsächlich, es hätte sich gelohnt, vier Jahre an einem Film zu arbeiten, um dafür eine derartige Mona Lisa zu bekommen.

Aber wo sollte ich sie zu Hause hinhängen? Über meinem Ehebett empfand ich sie als unpassend, ich war mir sicher, daß meine Frau das nicht akzeptieren konnte. Auch auf dem Flur schien das Bild unakzeptabel, ich hatte Angst vor spöttischen Bemerkungen meiner Freunde. So kam es ins Arbeitszimmer, nicht in der Mitte einer Wand natürlich, sondern exzentrisch und unauffällig etwas oben. Wo jetzt das Bild mit den trocknenden Makkaronis hängt, hing damals ein altes Bild von Emigholz, auf dem Palmen in einem raffinierten Gittermuster aufgetragen waren. Wenn ich arbeitete, saß ich an meinem Schreibtisch vor zwei Fenstern. Rechts hinter meinem Rücken hing dieses lächelnde Holzstück. Durch die verschämte Hängung entstand ein Leerraum an der Wand, in den eigentlich etwas gehörte. Im letzten Sommer brachte ich aus Italien ein Stück Papier mit einem Bild aus einer mittelalterlichen Handschrift mit. Es hieß "Desiderius übergibt dem Heiligen Benedict seine Bücher und seinen Besitz". Ich nahm damals an, Desiderius wäre ein römischer Kaiser - das Bild ist im übrigen zu kompliziert, um es heute abend noch angemessen zu beschreiben, seit letzten Sommer hängt es jedenfalls schräg unter der Mona Lisa in meinem Arbeitszimmer.
 


(Dia Desiderius)


 


Dann beschleunigten sich die Ereignisse. Meine Ehe löste sich auf, naturgemäß entstand dabei ein Durcheinander in meiner Wohnung. Ich vermietete das Wohnzimmer und zog in das Zimmer meiner Frau. Einen Moment überlegte ich, ob ich jetzt die Mona Lisa über meinem Bett aufhängen könnte, ließ es dann aber sein. Ich bin ein eher konservativer Mensch und hänge an einer gewissen Stabilität, vielleicht ist konservativ auch nicht der richtige Ausdruck - ich habe die überstarke Neigung, nun einmal entstandene Situationen zu akzeptieren. Anstatt sie energisch so zu verändern, daß sie meinen Vorstellungen entsprechen, versuche ich, mich in ihnen zurecht zu finden. Irgendwie scheint mir das eine lebensnähere Existenz zu ermöglichen als die Verfolgung an sich vernünftiger Pläne. Die Bilder aus meinem alten Wohnzimmer paßten jedenfalls nicht an die Nägel, die meine Frau vor ein paar Jahren in ihrem Zimmer angebracht hatte. Weil ich keine neuen Nägel einschlagen wollte, mußte ich ein paar meiner Bilder wegpacken. Dabei blieb ein Nagel übrig, für den ich auf einmal kein passendes Bild hatte, das Bild von Emigholz paßte jedoch genau dorthin.

Jetzt war allerdings im Arbeitszimmer, wo der Emigholz gehangen hatte, ein Nagel frei. Von den Bildern, die ich mochte, schien keines dorthin zu passen. In einer Abstellkammer fand ich die trocknenden Maccaroni. Ich staunte, daß ich das Bild nicht weggeworfen hatte, ich fand es schon immer schlecht. Weil ich im Augenblick kein anderes hatte, hing ich es probeweise auf, widerwillig, denn wie Sie sehen können, ist es wirklich nicht schön. Aber fürs Arbeitszimmer, dachte ich, könnte es gehen.
 



(Dia Desiderius an der Wand mit Mona Lisa)


 


Und so hängt hinter mir, wenn ich arbeite, dieses merkwürdige Bildensemble - ein rechteckiges Stück Holz mit Mona Lisa schräg über einem Desiderius, der seine Bücher und seinen Besitz dem Heiligen Benedict überschreibt und auf der anderen Wand elffach gerahmt trocknende Makkaroni. Der Zusammenhang zwischen ihnen war mir schleierhaft. Erst heute weiß ich, was sich dahinter verbirgt: natürlich entdecke ich nun hinter dem Lächeln der Mona Lisa das Lächeln im Gesicht meiner Mutter, die mich in die Welt hinausgeschickt hat, ohne daß ich je verstand warum. Um Raketenmotoren zu bauen wahrscheinlich oder um Versicherungsvertreter zu werden, ich weiß es nicht. Nur der glückliche Umstand eines Nervenzusammenbruchs verwandelte das in einen menschentsprechenderen Auftrag. Das Bild mit Desiderius und dem heiligen Benedikt gibt dem so etwas wie geschichtliche Substanz. Irgendwie glaube ich, daß weltliche Macht sich immer dem empfindenden Geist wird übergeben müssen, weil sie irgendwann einfach nicht mehr weiß, wohin sie sich entwickeln soll. Es handelt sich um eine Art freiwilliger Kapitulation, die vollzogen werden muß, wenn Verwaltung sich nicht in den Irrsinn hineinbewegen will. Ich weiß nicht einmal, ob der empfindende Geist dem auch nur im Entferntesten gewachsen sein wird - der heilige Benedikt war es sicher nicht. Und ich weiß auch nicht, ob das richtig oder begrüßenswert ist, aber das Lächeln meiner Mutter (eigentlich bin ich damals ja aus freien Stücken gegangen, das ist mir aber nicht recht mehr bewußt) verwandelt dies in der Mona Lisa zu einer Art Gewißheit, und die trocknenden Maccaroni leuchten auf eine Art Grund. Zweifellos wäre sie mit mir zufriedener gewesen, wenn ich Raketenmotoren zusammengebaut hätte, aber ich hatte ja keine Wahl.

Und noch eins: genaugenommen handelt es sich bei diesem Ensemble gar nicht um drei Bilder. In dem gleichen Sinne, in dem wir Giottos Ausmalung der Scrovegnikapelle ein einziges Bild in Form einer Kirche genannt haben, sind sie Teil eines einzigen Bildes in Form eines Arbeitszimmers. In ihm sind die Einzelstücke nicht weiter wichtig, sie können ruhig armselig sein, was zählt ist der Zusammenhang. Aber auch der ist relativ unwichtig und spielt sich neben oder sogar im Rücken des eigentlichen Geschehens in Arbeitszimmer und Kirche ab. In beiden geht es im Grunde ja nicht um die Wahrheit sondern um etwas viel Ernsthafteres, es geht um das eigentlich wesentliche Geschäft im Leben, es geht - um die Vergebung der Sünden.
 
 

(Dia Bellini)


 


Nun - das klingt vielleicht etwas obskur, aber die Gnade, sagt der heilige Augustinus, fällt unvorhersehbar über die Menschen: keiner weiß, wen Gott schließlich mit seiner Gnade auszeichnen wird. Er ist uns unergründlich und seine Gnade regnet vom Himmel herab wie das Gefallen. Auch das, sagt Kant, fällt uns einfach zu, wir wissen nicht, warum uns etwas gefällt. Über das Gefallen haben wir heute abend immerhin einiges herausfinden können, aber bei der Gnade und ob uns die Gnade begegnen wird, gelingt einem das nicht.
 
 

Ich jedenfalls möchte mit einem Anklang an den Schluß des Don Quijote schließen, der am Ende seines Weges nicht mehr Don Quijote de la Mancha heißen wollte, sondern wieder Alonso der Gute, der er einmal war, bevor er zuviel Ritterromane gelesen hatte, und als Alonso der Gute möchte ich mich für Ihre Geduld bedanken und wünsche Ihnen einen schönen Abend.
 


***


 






 


IX. BILDFOLGE ZU „WAS EIGENTLICH SEHEN WIR IN BILDERN"

Bellini Madonna von der Wiese (National Gallery London)
VIDEO FILM Ausschnitt aus DAS OFFENE UNIVERSUM
KAMERA Postkarte vom Tempel des Malatesta
KAMERA Postkarte vom Bogen des Augustus
KAMERA Tempel des Malatesta
Piero de la Francesca: St. Sigismund und Sigismondo Malatesta
POSTKARTE DAVON HALTEN
Giotto: Kruzifix im Tempel des Malatesta (Schrägansich)
Der Tempel als Dia
Lippi: Verkündigung (National Gallery London)
KAMERA: Donatello: Maria mit Kind (Museum Dahlem)
Donatello: Maria mit Kind
KAMERA Postkarte Sonnenuntergang
KAMERA Postkarte Castellamare
Kamera Bellini
Giotto: Innenansicht der Arena Kapelle
Ravenna:Innenansicht einer Längswand von S. Apollinare Nuovo
Ravenna: Innenansicht der Apsis vom S. Apollinare in Classe
David: St. Nicholas dankt Gott für seine Geburt (Scotish National Gallery Edinburgh)
KAMERA Maestro del Bambino Vispo: Verkündigung (Doppelbild, Städelmuseum Frankfurt)
Kamera: Botticelli Rundbild
Bellini: Madonna von der Wiese
Schongauer: Die Peinigung des Heiligen Antonius
El Greco: St. Jerome in Penitence (National Gallery Edinburgh)
Piero: Die Geburt Christi (National Gallery London)
Kamera 3 Spanierinnen
Kamera Pouissin
Ucello: Schändung der Hostie (Museum Urbino)
Ucello: Detail aus der Schändung
Piero: Geißelung Christi (Museum Urbino)
IN PIERO BUCH BLÄTTERN
Piero: Detail der Verkündigung vom Altar des St. Antonius
KAMERA: Doppelbild Bambino Vispo
Crivelli: Verkündigung (Museum Dahlem)
Piero: Verkündigung aus Arezzo
Lippi: Verkündigung
Duccio: Verkündigung (National Gallery London)
Verkündigung aus dem Stundenbuch des Lorenzo di Medici
KAMERA Duccio: Verkündigung
KAMERA Lippi: Verkündigung
Donatello: Maria mit Kind
Giotto: Kruzifix frontal
Bellini: Modonna mit Kind vor grünem Vorhang (National Gallery London)
KAMERA Donatello Maria mit Kind
Drying Maccaroni Detail
Drying Maccaroni mit allen Rahmungen
Bellini grüne Madonna
KAMERA Bellini grün
Desiderius übergibt dem Heiligen Benedikt seinen Besitz (Vatikanmusum)
Bellini: Madonna von der Wiese



 


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