"Warum sind Filmbilder rechteckig?" fragte ich ihn. Gutmütig
ging er drauf ein, er hatte verstanden, daß ich seinen Film mochte:
"Nun?" Der Idee der Linse jedenfalls würde ein rundes Bild
viel eher genügen, fuhr ich fort. Das von der Linse auf die Emulsion
geworfene Bild wäre ja rund, nur die rechteckige Form des Bildfensters
macht es zum Rechteck. Zwar würde manchmal behauptet, man nähme
in Filmen die Wirklichkeit aus der Perspektive der handelnden Personen wahr,
doch auch dies würde in Anlehnung an unsere Wahrnehmung ein eher ovales,
an den Rändern verschwimmendes Bildfeld begünstigen. So gesehen
sprächen eigentlich nur die Kosten für rechteckige Bilder - kreisförmige
gleicher Auflösungsqualität kosteten geringfügig mehr an
Material - geringfügig jedenfalls in Relation zu den tatsächlich
anfallenden Kosten der Filmproduktion. Das Rechteck des Filmbildes sei -
mir fiel kein anderes Wort ein - Ideologie.
Die Erfinder des Kinos imitierten natürlich die Erfinder der Photographie.
Schon dort gab es
eine Entscheidung für das Rechteck. Bei der Plattenphotographie war sie noch unvernünftiger als beim Film, denn durch die Rechteckskaschierung wurde etliches vom bei den damals erforderlichen langen Belichtungszeiten dringend benötigten Licht verschwendet. Die Entscheidung für das Rechteck war auch in der Photographie schon Ideologie.
Die Photographie versuchte natürlich nur, die Malerei zu imitieren
- in der hatte das Rechteck schon eine lange Tradition. Wie also kam die
Malerei zu ihrem Rechteck?
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Eine rechteckige Leinwand läßt sich leichter spannen, als eine
irgendwie anders gestaltete, und so könnte es hier einen funktionalen
Zusammenhang geben. Doch die Wahl des Bildträgers selbst ist schon
Ideologie. Auf Stein, Holz oder einem anderen festen Material braucht man
keine Leinwand zu spannen und jede Form könnte Bildform sein. Das Rechteck
aber wurde Grundlage der Ästhetik der Malerei, und das in einer Umgebung,
die das Rechteck eher gering schätzte, die spätestens seit dem
Barock von Kraft und Dynamik und geschwungenen Linien träumte, die
den Begriff der Unendlichkeit schuf und die Idee der mathematischen Funktion,
der das Universum zu gehorchen hatte.
*
Zunächst, bis weit hinein in die Gotik, zum Teil noch über sie
hinaus, wurden Bilder und farbig strukturierte Flächen fast unterschiedslos
auf alles mögliche aufgetragen: in Höhlen, Katakomben, auf Altäre,
Skulpturen, Wände, Decken, in Zwickel, Fensterrahmen und als Glasmalerei
auch in Fenster. Manches - die auf ganz eigener Logik basierende Entwicklung
der Buchmalerei übergehen wir hier - folgte der Rechteckform, das meiste
nicht. Mit der Entdeckung der zentralperspektivischen Abbildung änderte
sich das allmählich. In Giottos Ausmalung der Capella dell Scrovegni
von etwa 1305 ist die Wand schon in Rechtecke zerlegt.
In jedem dieser Rechtecke gibt es eine eigene schüchterne Perspektive. Vielleicht aber sollte man gar nicht so nachdrücklich von mehreren nebeneinandergebrachten Bildern reden, eher schon von mehreren Phasen der großen Geschichte, die in der Kirche nun einmal erzählt wird, und in diesem Sinne handelt es sich um ein einziges großes Bild in Form des gesamten Innenraums einer Kirche. Die Idee der Perspektive und die Bildform "gesamter Innenraum einer Kirche" waren jedoch nicht so einfach miteinander vereinbar: so entstanden mehrere Bilder mit jeweils eigenen Perspektiven, die an den Wänden nebeneinander zu sehen sind. Jede von ihnen benötigte als verkleinerte Abbildung eines unendlichen Raums eine Begrenzung.
Daß die Wahl gerade auf das Rechteck fiel, läßt sich monokausal wohl nicht begründen. In den Mosaiken von San Maria Maggiore in Rom und S.Apollinare Nuovo in Ravenna gab es bereits 800 Jahre vor Giotto Rechteckfolgen,
und das ist besonders interessant, weil die Mosaiken der gleichzeitig
entstandenen anderen ravennaischen Kirchen schon ganz byzantinisch den gekrümmten
Kuppelraum selbst in einer bizarren, ineinander verflochtenen Geometrie
füllen.
Im Urteil des Spätmittelalters wurde das Rechteck durch die Analogie zur Fensterform gestützt. Von der Fensteranalogie ausgehend wurden oft auch romanische oder gotische Begrenzungen versucht,
die aber allmählich verschwanden, vielleicht weil man vage die Möglichkeit eines cartesischen Koordinatensystems spürte, das Fluchtpunktkonstruktionen erheblich vereinfacht. Und schließlich darf man das merkwürdige Zerfasern der perspektivischen Abbildung zum seitlichen und unteren Rand hin nicht vergessen, das nach einer geraden Abgrenzung förmlich schreit. Innerhalb des flachen Rechtecks konnte man die Gesetze der Perspektive klarer fassen. Und so redet der gleiche Alberti, der den Tempel des Malatesta erbaute, am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts (obwohl er, der so viel mit romanischen Öffnungen arbeitete, gleichzeitig am Blick durch ein wie immer gestaltetes Fenster als Grundidee der Malerei festhält) schon wie selbstverständlich von einem Bild als rechteckigem Schnitt durch eine sogenannte "Sehpyramide".
Dennoch gab es von Michelangelo, Raffael und Botticelli noch bis 1530 ehrgeizige Rundbilder, erst dann verlor sich diese Form in Maniriertheiten - interessanterweise erst nach dem endgültigen Sieg der Vorstellung von der Kugelgestalt der Welt. Nicht einmal die Einheit der Zeit in einem Bild war unumstritten. Nicht nur in zahlreichen Arbeiten Botticellis werden in einem Bild mehrere Zeitpunkte - des Lebens des heiligen Zenobius etwa in der National Gallery in London - beschrieben. Als in Bildern nur noch ein Zeitpunkt zugelassen war, bekam das Rechteck eine neue Funktion: es diente als Verschluß gegen das Eindringen von anderer Zeit. Wenn wir den spätrömischen, vorbyzantinischen Mosaiken trauen wollen, war dies vielleicht sogar sein Ursprung. Das Bildinnere jedenfalls bestand erst von etwa 1500 an gesetzmäßig aus einem zusammenhängenden Ort an einem festen Zeitpunkt.
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Grundidee der perspektivischen Abbildung ist es, ein Kleines für
ein Großes zu setzen. Das Große öffnet sich in Richtung
des Fluchtpunktes bis zur Unendlichkeit, doch zur Seite hin ist es beschränkt.
Bilder lassen sich nicht beliebig breit machen, irgendwann bricht die Zentralperspektive
zusammen. Der Rand ist das eigentlich Unheimliche an der perspektivischen
Abbildung, es ist der Bereich, in dem sie versagt. Es ist wie bei unserem
Blickfeld, auch in dessen Randbereich verwehrt eine eigenartig verschwommene
Geometrie dem analytischen Denken jeden Zugang. Die entschlossene und klare
Begrenzung der Malerei durch das Rechteck ist eine Reaktion auf diese Unverständlichkeit.
Wir begreifen, was innerhalb des Rechtecks liegt, bis hin zur Unendlichkeit,
bis dorthin, wo sich die Parallelen schneiden - doch an den Rändern,
da gnade uns Gott.
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An den Rändern der Perspektive war auch der Ort für die Angst
vor dem Abgrund am Ende der Welt. Als die Perspektive erfunden wurde, war
vielen die Welt noch Scheibe und die Furcht vor einem Herabfallen von ihrem
Rand entsprechend real. Das Rechteck sperrte das räumliche Ende der
Welt aus dem Bild und verhinderte das Eindringen der Wächter des dortigen
Abgrunds, all der Meeresungeheuer und menschenverschlingenden Schlangen,
von denen die Seeleute vor Kolumbus so seltsames zu berichten wußten.
Ein massiver und solider Holzrahmen, der die Linie am Bildrand noch extra
stützte, beruhigte noch mehr, er wirkte wie eine Mauer, die Unheimliches
fernhielt und zugleich ein Herabfallen des Betrachters verhinderte. In den
Verschnörkelungen der Bilderrahmen erkennt man die Seeschlangen vom
Ende der Welt noch heute.
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Auch in einem Kupferstich von Martin Schongauer von 1470: "Die Peinigung des Heiligen Antonius" können wir etwas davon erkennen. Um den in der Luft schwebenden heiligen Antonius bilden Dämonen und Ungeheuer eine Art Ring und zerren an ihm. Außerhalb dieses Rings sind unten Felsen angedeutet und oben durch Striche der Himmel, die beide durch die Linien des Rechtecks begrenzt werden. Sogar in dieser Karikatur von Perspektive gibt es dem Geschehen im Zentrum Raum und schottet es vom Bereich ihrer Unzulänglichkeit ab, hält also, wenn wir unserer Metapher weiter folgen, das Ende der Welt draußen. Interessant aber ist nun, daß die Ungeheuer vom Ende der Welt, die sich sonst erst in der Verzierungen der Holzrahmen finden, hier schon innerhalb des Bildes zu sehen sind: Sie bilden einen Rahmen innerhalb des Rahmens, der die gepeinigte Heiligkeit des Antonius umschließt. Es handelt sich um eine Darstellung der Angst vor dem Innenleben und die Rahmung besteht aus den Ungeheuern am Rande unseres Bewußtseins, die uns unsere Heiligkeit unmöglich machen wollen. Sie bilden eine Art perversen Heiligenschein um den Heiligen Antonius.
Von diesem Bild aus gibt es zwei logische Fortsetzungen. In der einen wird der Heiligenschein in ein Rechteck verwandelt, das den Heiligen unschließt, und es entsteht ein Bild, aus dem das Böse entfernt worden ist, und bei dem das Rechteck als eine Art Festungsmauer dient, die das Böse ausschließt. In seinem Inneren entsteht so eine Art Konzentrat des Heiligen, das wir aus den Mariendarstellungen kennen, und dessen weltliche Ambivalenz sich am auffälligsten vielleicht in den Ruhm des Lächelns der Mona Lisa verwandelte.
Wenn man sich dagegen im Bild vom gepeinigten Heiligen Antonius den Heiligen Antonius selbst aus dem Bild entfernt denkt und nur die Ungeheuer übrigließe, wird der Rahmen zu einer Art Zaun um einen Zoo des Bösen. Dies ist die andere Möglichkeit, die sich zunächst in einigen Bilder von Bosch und Breughel realisierte, deren geometrische Aspekte in diesem Sinn zu begreifen sind. Diesem Weg ist später auch die Rechtecksetzung der modernen Malerei in etwa gefolgt.
Vorher aber wurde das Individuum entdeckt und dabei verwandelte sich das Grauen vom Rand der Welt in das Grauen im Zentrum: in den gekreuzigten Christus und den gekreuzigten Christus in uns, der 150 Jahre nach Schongauer in El Grecos Heiligen Hieronymus stellvertretend für das inzwischen erstandene Individuum die Frage stellt: Was
geschieht mit mir! Wer bin ich, daß mir dies geschieht - kann ich etwas dagegen tun? Dieses Individuum ist noch nicht besonders anspruchsvoll: es hat gar nicht den Ehrgeiz, ein handelnder, die Welt verändernder, optimistischer Held zu werden wie Don Quichotte oder ein philosophierender Hampelmann vom Typos Hamlet, es reicht ihm schon, sich im Spiegel zu betrachten und daraufhin einen vernünftigen Entschluß zu fassen wie der heilige Hieronymus, der nach Askese und Reue die Bibel ins Lateinische übersetzte - die Vulgata - und sich in späteren Jahren gern von den römischen Damen betrachten ließ.
Die moderne Malerei wollte auf stellvertretende Betrachter wie den Heiligen Hieronymus verzichten. Was dabei geschah, wird in den Selbstporträts van Goghs augenfällig - er geht das Innen auf direktem Wege an. Auch seine Landschaften sind als abstrakte Selbstporträts zu verstehen, in denen die Angst vor dem Außen und Großen sich in eine Angst vor dem Innen und seiner Wahrnehmung verwandelt hat.
Die Idee des Perspektive jedenfalls war nach der Eroberung der Welt schon banal. Als sie um 1850 durch die Photographie seriell erzeugt werden konnte, betraf das die Malerei gar nicht mehr, eigentlich vereinfachte es nur ihre Befreiung. Während die Photographen sich nun bemühten, die perspektivische Malerei zu imitieren, konzentrierten sich die Maler auf die Substanz der Wahrnehmung und des Rechteckinneren. Der Weg in die Abstraktion machte die Malerei wieder aktuell, und es ist nicht schwer, das hier Angerissene bis zur Ästhetik von etwa Pollock, Rothko oder Stella fortzusetzen. Die europäische Photographie des letzten Jahrhunderts dagegen überlagerte sich mit einer süßlichen Soße,
deren angenehmster Teil ein enzyklopädischer Realismus war, wie
er sich später in den Wochenschauen äußerte.
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In Amerika war das etwas anders: hier hatte die Angst vor Raum noch eine Basis. Der beschwörende Charakter des Rechtecks war vor der Weite der Natur noch kein entleertes Ritual. Im amerikanischen Bürgerkrieg dann kreuzten sich die Angst vor dem Außen, vor dem Raum, der durch die Perspektive erschlossen wurde, mit der Angst vor dem Innen, vor dem also, was auf den Rechtecken zu sehen war, dem Unfaßbaren der - wie Goya sie nennen wollte - Greuel des Krieges. So entstand im Bürgerkrieg eine amerikanische Kultur, deren doppeltes Symbol das Rechteck wurde. So gesehen erstaunt es nicht weiter, daß fünfzig Jahre später mit Griffiths Sentimentalisierung dieses Bürgerkriegs in The Birth of A Nation die Filmkunst entstand und jene Kathedralen zur Anbetung des Rechtecks, die wir gewöhnlich als Kinos bezeichnen.
Nun, das ist jetzt alles ganz nett und folgerichtig formuliert, damals am
Frühstückstisch aber muß es ein ziemlich zusammenhangsloses
Gestammel gewesen sein. Immerhin leuchtete Joao Mario als Angehörigem
einer Seefahrernation die Ausgrenzung des Endes der Welt und die Notwendigkeit
der Begrenzung der perspektivischen Konstruktion durch das Rechteck sofort
ein. Die Verwandlung des Rechtecks in einen Container des Inneren kommentierte
er mit einem: Absolut richtig, schon Poussin, den er recht gut kenne, habe
geschrieben, Bilder seien
vor allem Landkarten des Inneren, des Bewußtseins. In diesem Sinne wäre das Rechteck eine Art Behälter dieses Bewußtseins. Wir sahen uns die Reproduktionen an, die ich aus Urbino mitgebracht hatte. Auf Ucellos "Schändung der Hostie" aus dem Jahre 1450 überraschten uns
nicht nur gedrechselte rote Säulen als Bildbegrenzung, welche die
sechs wie in Comicstrips nebeneinanderstehenden Einzelbilder voneinander
trennen, auch sein Versuch, die Landschaft der verschiedenen Einzelbilder
hinter den Säulen zu verbinden, schien bemerkenswert, in ihm entsteht
ein merkwürdiges und hochinteressantes Raumkontinuum verschiedener
Zeiten. Noch um 1450 waren Rechteckrahmung und einheitliche Zeit offenbar
noch nicht unhinterfragte Randbedingungen intelligenter Malerei. Selbst
wenn das Rechteck benutzt wurde, gab es oft eine merkwürdige Unentschlossenheit
in seiner Innenstruktur. Häufig entstanden Unterrechtecke, die durch
im gleichen Bild vorhandene getrennte Räume verursacht wurden. In dem
Piero della Francesca - Buch entdeckten wir mit der Geißelung Christi
von 1450 ein solches Doppelbild, das eigentlich aus zwei Bildern mit unklarem
Bezug aufeinander bestand.
Joao Mario blätterte weiter und sagte: "Ja, hier gibt es eine ganze Reihe von Bildern, bei denen man das sehen kann, auch bei dieser Verkündigung hier sind die Räume getrennt. Diese ist übrigens untypisch", fuhr er fort,
"hier guckt Maria den Engel direkt an, sie kann das tun, weil eine Säule direkt zwischen ihnen steht, normalerweise blickt sie im Halbprofil nach links ins Leere. Aber auch hier gibt es diese Raumtrennung. Das erinnert übrigens sehr an das Schuß-Gegenschuß-Verfahren im Film", fuhr er fort: "Ich habe beim Drehen meiner Schuß-Gegenschußpaare immer versucht, den Gesichtsausdruck von Maria genau in diesem Halbprofil hinzukriegen." "Sehr katholisch", sagte ich, "die Beschäftigung mit der unbefleckten Empfängnis, und das dann mit einer Begriffsbildung wie negatives Licht zu koppeln". "Tja", meinte er dazu, aber wenn ich mich für Geometrie interessierte, würde ich bestimmt die Säule zwischen dem Engel und Maria interessant finden. Oft wäre sie nur angedeutet, aber sie sei auf allen Verkündigungen vorhanden. Woher er das alles wisse, fragte ich, und ob er denn so viele studiert hätte. "Ja, für den Film", meinte er, und das mit der Säule wäre ganz bekannt. "Die Säule ist doch bestimmt der Penis Gottes", sagte ich, "den sie sich nicht anzublicken traut". "Nein, nein", sagte er unamüsiert, "so etwas liegt dem Denken von damals fern. Nein, der Literatur nach repräsentiert sie den heiligen Geist". "So, so, der heilige Geist also", meinte ich, "weißt du, daß ich selbst, wenn ich nur Landschaften photographiere, später immer sexuelle Untertöne in der Bildkomposition entdecke?" Oft wäre doch an gerade den einfachsten sexuellen Modellen in Bezug auf das Schöpferische was dran. "Nun, vielleicht", sagte er höflich, doch dann plötzlich mit erhöhter Intensität, "Nein, es ist der heilige Geist, you must believe me, Klaus, it is well known." Man sieht, auch so kann man sich näher kommen.
Inzwischen habe ich mir selbst hunderte von Verkündigungen angesehen, tatsächlich ist außer bei exzentrischen Versionen wie der von El Greco oder einem Meister Bertram in Hamburg, zu dem sich das womöglich noch nicht herumgesprochen hat, fast immer die Andeutung einer Säule zwischen Maria und dem Engel zu sehen, oft eigenartig maskiert, zum Beispiel als Ständer eines Blumentopfs. Worum geht es bei der Verkündigung? Eigentlich verkündet der Erzengel Gabriel Maria ja nur, daß sie den Sohn Gottes gebären wird. Da aber Jesus jungfräuliche Geburt seit dem Hochmittelater christliches Dogma ist, muß mit Sorgfalt der Eindruck vermieden werden, er könne die Frucht einer zufälligen Begegnung Marias mit einem Handlungsreisenden namens Gabriel sein - die Begegnung muß also züchtig verlaufen. Die sich in einer langen Tradition entwicklende Bildlösung bestand darin, die beiden zunächst (bei Giotto in der Srovegnikapelle und auch in unserem Beispiel dem Maestro del Bambino Vispo um 1420) in getrennten Bildern auftreten zulassen, die sich durch symmetrische Hängung aufeinander bezogen. Als später gestattet war, sie in einem Bild zu zeigen, variierte man diesen Gedanken und ließ Maria sich in einem Innenraum aufhalten, während Gabriel sich im Freien befindet (Lippi). Es waren also zwei Bilder in einem, deren Trennung voneinander ideologisch begründet war. Als die beiden sich dann in der logischen Fortsetzung dieses Gedankengangs auch in einem einzigen Raum aufhalten durften, blieb als Echo dieser Tradition in Züchtigkeit die zwischen ihnen stehende Säule übrig, die also keineswegs meinem dümmlichen Vorschlag entsprechend als Schwanz Gottes interpretiert werden darf, sondern als Instanz von Wohlanständigkeit. In diesem Sinne hatte Joa Mario tatsächlich ins Schwarze getroffen: im Film wird im Schuß-Gegenschuß-Verfahren durch den Schnitt eine ähnliche Personentrennung erzeugt, um zu verhindern, daß die Beteiligten in einem Bild zu sehen sind und in Form von Vergewaltigung, Inzest, Bruder und Vatermord übereinander herfallen können. Tatsächlich ist diese Trennung nach dem Verkündigungsmuster ja zur Methode geworden, nach der filmische Spannung erzeugt wird - sie versagt erst da, wo die Trennung endgültig aufgehoben ist, in Pornofilmen, in denen die geschlechtliche Vereinigung tatsächlich sichtbar vollzogen wird. Dort wirkt das Schuß-Gegenschuß-Verfahren lächerlich, absurd und obsolet. In Verbindung mit Pornographie ist vielleicht interessant, daß die erste von mir gefundene Verkündigung ohne dazwischenstehende Säule aus dem Gebetbuch des
Lorenzo de Medici von 1485 stammte, also für die privaten Augen eines Fürsten bestimmt war, der sich ohne Zeugen dazu denken mochte, was er wollte. Das war natürlich bloß Zufall.
Die Säule steht offenbar zumindest zum Teil für die Raumtrennung
zwischen der Verführten und dem möglichen Verführer. Bei
ihrer Identifizierung mit dem Heiligen Geist scheint sich Joao Mario trotz
seines inständigen Bittens, ihm zu glauben, geirrt zu haben - der Heilige
Geist taucht meist in Form einer Taube auf ,
das "well known" war für mich in der Fachliteratur nicht zu entdecken. Tatsächlich wurde in der mir zugänglichen Literatur nicht einmal die Säule erwähnt, es handelt sich womöglich um Joao Marios Entdeckung. Nein - die Säule repräsentiert nicht den Heiligen Geist, und auch wenn mir die Schwanz-Gottes-Interpretation als schmutziger Nebengedanke manchmal noch immer ganz lieb ist, erscheint als seriöseste Hypothese wohl, daß es sich bei ihr um ein Symbol für die Kirche handelt, mit deren Hilfe man geschlechtliche Versuchung überwindet und die Jungfräulichkeit einer Geburt garantieren kann.