K. Wyborny

 

RHYTHMUS IM BLUT

(Rechteck, Zeit und Angst)

Skizze zu einem Essay

(1979/80/88/91)

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I. ICH UND MEIN PROJEKTOR

(1979)


Filmprojektoren sind nicht zuletzt primitive Rhythmusmaschinen. 24 mal in der Sekunde wird ihn ihnen ein Bild transportiert, 24 mal in jeder Sekunde wiederholt sich der gleiche mechanische Akt und produziert eine projektorspezifische Begleitmusik: bei 35mm ein den Film verschlingendes Rattern, das bei 16mm zu einem energischen Rauschen wird und im 8mm-Format zu einem beinahe gemütlichen Surren, nicht unähnlich dem einer Nähmaschine, deren Mechanismus bei der Erfindung des Projektors ja Pate gestanden hat. Diese prinzipielle Verbindung von Musik und Film wird in der "professionellen" Kinokultur sorgfältig kaschiert. Die Projektoren stehen in schallisolierten Boxen, ihre Perkussivität gilt als störendes Laufgeräusch und wird dem Publikum vorenthalten.
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Abhandlungen über die Formenprinzipien der modernen Musik sind inzwischen in ersatunlichem Maße standardisiert. Gewöhnlich wird darin eine Brücke von Bach zu Beethoven geschlagen, und dann über Wagner zu Schönberg und Webern, von wo aus es über Stockhausen/Messiaen zu John Cage geht, dem logischen Endpunkt des Modernen. Dort, am Ende der Musik (will man uns sagen), stoßen wir auf den Satz "Alles geht", und wir müssen uns fragen: "Was geht außerdem?"
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Für jeden, der sein Werk in die Musikgeschichte einbringen möchte, ist John Cage eine harte Nuß. Als ich ihn einmal erlebte, las er eine Reihe von Zen-Geschichten. Auffällig waren dabei die Pointen, sie verkleideten sich systematisch als Nicht-Pointen, in denen sich, das wurde sofort klar, wohl die Grenzen dessen, was wir Weisheit nennen, artikulieren wollten. An seinen Auftritt schloß sich die Performance eines gewissen Tom Carroll an, der es nötig fand, Cage's Auftritt als "wisdom jumble", als Winterschlußverkauf von Weisheiten, zu neutralisieren, bevor er mit dem eigenen Stück begann. Meine Sympathien gehörten zweifellos Tom, denn er wagte es, die Frage der Modernität plötzlich in umgekehrter Form zu stellen.
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Tom Carroll ist inzwischen wieder ziemlich vergessen und Cage noch immer präsent. Die Modernität hat mich beim Filmmmachen aber nicht in Gestalt von John Cage begleitet, sondern eher in Form von Projektorengeräusch. Bei der Produktion von Filmen habe ich mich nur schwer mit Geräten anfreunden können, die dieses Geräusch nicht in irgendeiner Form produzierten. Unangenehm waren mir zum Beispiel Schneidetische (weil sie kein Greifersystem haben), Laufbildbetrachter (bei denen man zum Schneiden den Film von Hand bewegt), aber auch geblimpte Kameras (bei denen wegen Tonaufnahmen das Laufgeräusch der Kamera stark gedämpft wird). Symphatisch waren mir dagegen immer Projektoren, vor allem 8mm-Projektoren, und "stumme" Kameras, das sind solche für Stummfilme, also Kameras, deren Laufgeräusch man eher gut hören kann. Das Surren dieser Kameras, insbesondere das der Bolex, gehört zu den angenehmen Musiken, die ich mit der Filmproduktion verbinde. Ich habe immer gehaßt, an Schneidetischen zu schneiden oder auch an Laufbildbetrachtern. Wenn überhaupt möglich, habe ich so gedreht, daß ich die nun einmal nötigen Schnittoperationen direkt an 8mm-Projektoren vornehmen konnte.
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Im Gegensatz dazu featuren die Werbephotos der Filmindustrie immer wieder die Gehäuse der geblimpten Kameras; wenn man so will, artikuliert sich darin die Unwesentlichkeit der Branche. Denn der Kern der Filmerfahrung liegt gewiß nicht im Blimp, nicht einmal in der darin verborgenen Kameramechanik. Die Genialität der Lumière-Edinsonschen Erfindung liegt in der merkwürdigen Paarung von Projektor und Kamera. Und zwar mit Betonung des Projektoranteils, denn mit einem Filmprojektor kann man auch Filme projizieren, zu deren Herstellung man keine Kamera benötigt.
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Begreift man Photokameras als Instrumente, die es ermöglichen, auf einfache Weise eine der Haupterfindungen der Renaissance, die perspektivische Abbildung, zu erzeugen, dann werden Filmkameras zu Maschinen, die diesen Prozeß seriell vollziehen. Und der historische Auftrag der Filmindustrie war wohl, den seriellen Ausstoß der einen großen Renaissance-Erfindung mit dem der bedeutendsten anderen, der doppelten Buchführung, zu kombinieren. Der Renaissance ist diese Kopplung nur in der Architektur geglückt, der Vertrieb von Tafelbildern blieb für die doppelte Buchführung bis in die heutige Zeit demgegenüber eher uninteressant. Zur Reproduktion der in einen Spielfilm investierten Kapitalien ist sie unerläßlich.
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Die Idee der Kopplung von perspektivischer Abbildung und doppelter Buchführung findet sich auch im handwerklichen Teil der Filmproduktion. Gewöhnlich geht man von einem möglichst ausführlichen "Drehbuch" aus, das im Laufe der Produktion auf Film "verdoppelt" wird. Im Schneideraum muß allerdings saldiert werden: es wird eine neue Bestandsaufnahme vorgenommen, und man macht, wie Farocki in seinem Aufsatz über den Schneideraum schreibt, die Erfahrung, "wie wenig man mit Planungen und Absichten Bilder erzeugen kann", und "es wird ein zweites Drehbuch erstellt, das bezieht sich auf das Tatsächliche und nicht auf die Absichten", und der Prozeß der Verdopplung wiederholt sich beim Schneiden des Films. Ist er dann beendet und wird die Kopie des geschnittenen Originals in einen Projektor eingelegt und projiziert, dann gibt es neue Überraschungen und die wirkliche, finanzielle Saldierung beginnt.
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Man hat gesagt, die Musik hätte die Malerei im siebzehnten Jahrhundert besiegt, weil ihr gelang, die Idee der doppelten Buchführung in der Form des Kontrapunkts in sich aufzunehmen. Und daß die sich anschließende Entwicklung zur funktionalen Harmonie das physikalische Weltverständnis der Funktionentheorie vorhersah. Welches freilich später durch die Quantentheorie derart destabilisiert wurde, daß ein Beethovensches Verhältnis zum Material keine ideengeschichtliche Basis mehr finden konnte. Und richtig beobachten wir bei den impressionistischen Malern schon die Grundidee der Quantentheorie (Quantisierung und Unschärferelation) - die Musik mußte sich nun ihrerseits in ihrer Entwicklung beeilen, mußte also schleunigst die ausgefeilte Raffinesse von Brahms und Wagner hinter sich lassen, um in ihrem Anspruch auf aktuelle Modernität nicht hoffnungslos zu werden.


All dies wurde begleitet vom Schnarren der ersten Rechenmaschinen, die das ideologisch-ästhetische Konzept der Buchhalter, die doppelte Buchführung mit ihren handgeschrieben sauber saldierten Kolonnen gefährdeten, über denen souverän der Mythos des Chefbuchhalters in all seinen Realisierungsformen (als General, Rechtsanwalt oder als Phillip II) saß, und alles wie ein Meisterkomponist zusammenhielt.
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Und dann gab es das Laufgeräusch der Projektoren - und das wunderbar antizipierende Konzept der Quantisierung von Bewegungsabläufen in diskrete (!) Einzelbilder, die sich bei der Projektion zu einem Bewegungsablauf verbanden ... und was hat man daraus gemacht? Man hat den Chefbuchhalter wieder eingesetzt, in der Verkleidung von Produzenten und Regisseuren - von Geld gepäppelten Karikaturen Beethovens. Welche die Fäden in der Hand halten, an denen sich die Welt zu bewegen hat. In den Sujets verschwand die potentielle Aktualität der Apparatur, dominante Struktur wurde die Story. Der realistische Roman, zu Beginn des Jahrhunderts Tummelplatz buchhalterischer, wirklichkeitsverdoppelnder Aktivität nach Art des Polizeiberichts, wurde das Vorbild, das Film nicht einmal recht zu erreichen vermochte.
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"Oh Bartleby. Oh Menschheit", so endet Melvilles Erzählung vom Aktenkopierer Bartleby, der sich weigerte, seinen Beruf weiter auszuüben. Und in allen Biographien über Beethoven verkneifen es sich die Autoren nicht, darauf hinzuweisen, daß der große Meister nicht einmal seine ins Haushaltsbuch gekritzelten Eintragungen odnungsgemäß zu addieren vermochte: jeder Beethovensche Rechenfehler ist ein Faksimile wert. Als wollte man Beethovens Genialität nicht durch seine buchhalterischen Fähigkeiten beflecken, als sollte verborgen werden, daß er sehr wohl seine Zweiunddreißigstel und Achtel zusammenzählen konnte, und dazu noch Triolen und Septolen und das Ganze im Istesso Tempo, wahrhaftig schwerer als eine Milchmädchenrechnung. Selbstverständlich war Beethoven ein Nachahmer der Chefbuchhalter - die Buchhalter, die ihn sich zum Idol erwählten, wollten oder sollten aber davon nichts wissen.
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Zu meinen elementaren Musikerlebnissen gehört das Geräusch einer Schnittstelle beim Durchgang durch den Projektor. 8mm-Projektoren sind sehr filmschonend, und beim Schneiden kann man auf das Herstellen von Schnittkopien verzichten, wenn man einigermaßen vorsichtig mit den Originalen umgeht. Schaut man sich das geschnittene Original im Projektor an, hört man, wie das gleichmäßige Surren der Maschine durch das eigenartig synkopisierende Geräusch der Schnittstellen unterbrochen wird. Ich wurde dafür systematisch sensibilisiert, denn meine ersten Klebestellen waren so schlecht, daß sie bei der Projektion häufig rissen. So stellte sich, wenn sich eine Schnittstelle des Originals dem Bildfenster näherte, immer ein Angstzustand ein. Nach dem Durchgangsgeräusch der Klebestelle stellte sich stets eine physisch spürbare Erleichterung ein. Dieses physische Erlebnis der Projektion, diese zeitliche Folge von Angstzuständen, machte mich dem Phänomen Schnitt gegenüber außerordentlich mißtrauisch. So ein Schnitt war nichts Gottgegebenes. Ich wurde sehr vorsichtig im Gebrauch der Schnittoperation, was sich im Verlauf meiner Filmpraxis allmählich zu einer massiven Kritik der Idee des Schnitts verdichtete, zumindest des Schnitts, wie er im Bereich der narrativen Filme üblich war.

Später dann, in GEBURT DER NATION, habe ich dann dieses musikalische Schnitterlebnis gefeiert, es gibt im Anhang ein langes Klavierstück, bei dem eine einfache rhythmische Grundstruktur von einer ebenso einfachen Melodielinie überlagert wird, deren zeitliche Abfolge sich aus den Positionen der Schnittstellen im Film ergab. Der Projektor-Rhythmus wurde durch einen langsameren Klavierrhythmus metaphorisiert, das Geräusch der Schnittstellen durch die schwebend synkopisierende Melodie.
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Diese Musik wurde mit 3 Klavieren und einem Projektor hergestellt. Im Projektor befand sich ein Film, der genauso lang war, wie der Teil von GEBURT DER NATION, für den die Musik sein sollte. Er bestand aus sogenanntem Blankfilm, also um lediglich perforierten Azetat-Träger - auf diesen hatte ich in zeitlich richtiger Ordnung alle Schnittstellen des fertigen Films durch einfache Symbole markiert. Genau in der Mitte zwischen zwei Schnittstellen gab es ein weiteres Symbol. Und jedem der Symbole sollte ein anderer Ton auf dem Klavier entsprechen.

Zu Beginn spielte ein Klavierspieler das rhythmische Motiv, das auf den beiden anderen Klavieren durch die perkussive Wiederholung des Grundakkords verstärkt wurde - und als dann der Projektor zu laufen begann, versuchten zwei weitere Pianisten, die Töne zu treffen, die durch die Symbole auf dem Film markiert waren, und zwar so schnell wie möglich. Da diese beiden Klaviere nicht genau aufeinander gestimmt waren, kam es durch die verschiedenen Reaktionszeiten der Spieler bei der so entstehenden Melodie zu eigenartigen Schwebungen, die.ein wenig klingen, als wären sie von einer verstimmten Elektrogitarre hervorgebracht. Beim Anlegen des fertigen Musikstücks an den Film stellte sich heraus, daß Musik und Bild allmählich auseinanderliefen: sie waren nur eine gewisse Zeit synchron, anschließend wurde der Bildrythmus eine Art Echo des Musikrhythmus. Das fand ich beinahe interessanter als die unbedingte Synchronität, und so ließ ich es im fertigen Film bei diesem Auseinanderlaufen. Warum habe ich das erzählt?
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Für Joseph Conrad, den großen Seefahrer-Buchhalter des Menschlichen, soll sich die Biographie eines Mannes in drei Sätzen konzentriert haben: "Er wurde geboren. Er litt. Er starb."Projektoren leiden nicht. Sie werden gebaut, sie arbeiten, werden weggeworfen. Sie gelten als etwas veraltet, denn von Video wird behauptet, es sei, verglichen mit Film, das modernere Medium.

Diese Behauptung ist natürlich korrekt, wenn man allein den Zeitpunkt der Erfindung von Film und Video betrachtet: Das Summen der Transportmotoren der Videorecorder erzählt uns aber vor allem von Elektrodynamik, also eindeutig vom 19.Jahrhundert. Ihre gestylten Gehäuse täuschen Modernität weitgehend nur vor: das Aufzeichnungsverfahren entspricht vielmehr noch immer dem Ideal der Buchhalter: das Bild wird Punkt für Punkt abgetastet, und in der richtigen, immer gleichen Reihenfolge aufgezeichnet. Film ist in diesem Bereich wesentlich moderner: auf einen Schlag wird ein Weltzustand abgebildet und über die Belichtungszeit verschmiert, gestört von den Unsauberkeiten der Kristallstruktur. Diese Modernität aktualisiert sich in der Produktion der integrierten Schaltkreise, die für die Scheinmetaphern des Modernen, Computer und Videogeräte, benötigt werden. Mit Laserlicht werden optische Matrizen wie beim Film auf einen Schlag in das Material kopiert.
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In der Unterhaltungselektronik begegnen wir einer ähnlichen Scheinmodernität. Mit allen Mitteln wird dort an der sogenannten Rauschunterdrückung gearbeitet. Dabei erleben wir graden im Rauschen der Bänder und Verstärker etwas vom Einbruch der Quantenmechanik in unser Bewußtsein. Insofern ist paradox, daß es die "moderne" Technologie für eine ihrer Hauptaufgaben hält, unsere Bewußtheit von einer quantenmechanisch operierenden Welt zu unterdrücken und uns vorzuspielen, der funktionentheoretische Zusammenhalt würde noch funktionieren.

Auch bei Film ziehe ich das Super 8-Format vor, die Körnigkeit und prinzipielle Unschärfe der Abbildung enthält mehr physikalische Wahrheit als ein "naturgetreu" abgebildetes Bild. Zudem sieht es interessanter aus, die Oszillationen des Korns haben in ihrem gleichbleibenden Rhythmus eine vielfältige Attraktivität, die fest mit den Strukturprinzipien des Universums verknüpft ist. Ich erinnere mich an mein Erschrecken, als mir zum ersten Mal klar wurde, daß die Sonne keine Oberfläche hat, daß sie vielmehr ein Gasball mit nach außen hin allmählich abnehmender Dichte ist, und die Erde, unsere Erde, nichts anderes als eine Störstelle im Gravitationsfeld dieser Sonne.
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Interessant ist auch die Rolle der Schminke bei Schauspielern (und im Leben): sie verdeckt die Poren der Haut, so daß man eine glatte Oberfläche erhält. Auch hier wird die atomare Struktur der Welt wegzensiert, die Grundsubstanz von Leben und Atmung. Daher läßt sich das Schminken als eine spezielle Form der Rauschunterdrückung bezeichnen. Eine uralte Form davon freilich, in der es noch um das Wesen der Attraktivität geht. Doch dann die Gesichter der Menschen in den Fernsehserien: erst wird ihnen durch Schminke das Leben entfernt, und dann wird ihr Bild noch mit Streifen versehen - diese Streifigkeit der Bilder im Fernsehen ist ja wirklich abnorm.
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Wie jeder weiß, sind Filmprojektoren nicht gebaut worden, um das Nähmaschinengeräusch nachzuahmen. Erst wenn die Projektionslampe eingeschaltet wird, erreichen sie ihre wahre Bestimmung: dann wird auf einer hellen Fläche ein leicht flackerndes Rechteck erzeugt, welches sich im Auge des Zuschauers durch perspektivische Verzerrung als leicht flackerndes Trapez abbildet, das sich dann unter normalen Projektionsbedingungen im Bewußtsein des Zuschauer wieder als leicht flackerndes Rechteck rekonstruiert. Das Flackern entsteht durch das regelmäßige Abdecken der Strahlen der Lichtquelle mit einer Flügelblende, die nötig ist, um die Transportphase eines tatsächlich eingelegten Films nicht sichtbar werden zu lassen. Das Flackern hat eine Frequenz von 48 Hertz, weil die Flügelblende ihre Achse zweiflügelig umläuft. Diese Frequenz ist so gewählt, daß das Flackern nur leicht bemerkbar ist. Da im menschlichen Gehirn derart schnell aufeinanderfolgende Prozesse gleicher Art offenbar zu einem einzigen verbunden werden, wird von der Leinwand ein Gebilde reflektiert, das wir oberflächlich als gut ausgeleuchtetes Rechteck bezeichnen. Bei genauem Hinsehen bemerkt man aber, daß dieses "stabile" Rechteck dauernd am Zusammenbrechen ist: es stellen sich Nachbilder und Farbtäuschungen ein, die ein essentieller Teil des Projektionserlebnisses sind. Ein Filmprojektor ist also immer auch eine visuelle Rhythmusmaschine, eine, die uns ein Grundflackern, einen Wechsel von dunklen und hellen Bildern auf der Leinwand liefert. Verringern wir die Geschwindigkeit des Projektors, ändert sich der akustische und visuelle Rhythmus. Läuft der Projektor ganz langsam, sehen wir endlich, wie sich die Hell- und Dunkelphasen auf der Leinwand abwechseln.(Was für ein quantenmechanisches Wunder ist doch eine Glühlampe!)
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Wenn wir einen Film in einen Projektor einlegen und diesen anschalten, begreifen wir schnell die Funktion des Filmbandes. Technisch gesehen ist so ein Film nichts als ein Steuerband sich ändernder Transparenz, das die Lichtintensität unserer visuellen Rhythmusmaschine, die Intensität des Grundflackerns also, variiert. In der Regel ist dieses Steuerband perforiert und besteht aus sogenannten Einzelbildern. Beim Projektionsvorgang ist jedes Einzelbild zweimal auf der Leinwand zu sehen. Dazwischen schiebt sich die Dunkelphase der Zweiflügelblende, durch welche die Flackerfreuquenz auf 48 Hertz verdoppelt wird. Und zwischen zwei aufeinanderfolgenden Einzelbildern verbirgt eine weitere Dunkelphase die Abbildung des Filmtransports.
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II. NEUES VOM RECHTECK (1979/80)

 

Zu einem gnadenlosen Gegner des künstlerischen Prozesses hat sich der philosophierende Journalismus entwickelt. Durch ihn wurde die Leistung von John Cage zum Endpunkt der Musik stilisiert. Dabei wird suggeriert, die abendländische Kultur wäre in einen Zustand der Erschöpftheit geraten, der als logische Konsequenz ihrer eigenen Dynamik unvermeidbar war. Sinnvoll wäre nur noch ein energisches Vertreten der Idee der Gleichverteilung des nun einmal Erreichten. Bach, Beethoven, Brahms! ruft Spengler, der großartigste dieser Journalisten - vorbei! Und von ihrer Kraft beraubten gotischen Spitzbögen ist die Rede, von dorischen Säulen und dem Unendlichen Raum: Newton, Leibnitz, Maxwell, Einstein: Vorbei!
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Gestern habe ich in Fermis Vorlesungen zur Kernphysik aus dem Jahre 1949 geblättert. Nicht daß ich davon noch viel verstände, aber ich konnte doch den darin enthaltenen Geist wieder klar spüren, der mir mal so vertraut war, und die Art und Weise, wie er sich bemüht, die Natur zu verstehen. Es war herzergreifend. Man kommt unweigerlich zu dem Schluß, daß das Abendland in der Tat am Ende ist. Die Vorgehensweise dieser Vorlesungen hat nur noch wenig mit der süßen Physik Newtons oder gar der Eleganz von Lagrange zu tun. Die innige Verbundenheit von Natur und Geist, das von Grund her wohl religiöse Bedürfnis, mit dem Pulsschlag des Universums in Übereinstimmung zu stehen, hat sich auf sonderbare Weise verflüchtigt. Eine andere Frontstellung wird dafür immer klarer: zwar stehen wir in unserem Ehrgeiz noch immer stolz hier auf Erden, aber wir sind, so plump kann man es inzwischen ausdrücken, offenbar leider zu dumm, das Universum zu begreifen. In einer sinnlos anmutenden Mannigfaltigkeit sind wir allein, bei aller Klugheit: zu dumm. Die sogenannte Natur, so verführerisch sie sich dem europäischen Geist auch angeschmiegt hatte (noch die Impressionisten fühlten sich von ihr gütig geleitet), steht uns nunmehr in umkompromißlerischer Gnadenlosigkeit gegenüber. In ihrer Feinstruktur (gegenüber der wir als Lebenwesen doch riesig sind) zeigt sie uns Krallen. "Gott würfelt nicht", hat Einstein diese entstandene Gegnerschaft zur Natur nicht wahrhaben wollen, doch alle Versuche, sie mit dem faustischen Denken zu versöhnen, sind klanglos gescheitert. Heisenberg, dem wir die Unschärferelation verdanken, hat erlebt, daß seine Weltformel nicht einmal mehr diskutiert wurde (Faust auch er, was sollte er vor Hitler flüchten?)
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Fermi zerlegt die Natur nicht mehr wie ein Anatom einen Muskel sezieren würde, er schlachtet sie. Alles was zu komplex für sein Verstehen war, wird gnadenlos zu simpelsten Näherungen zerhackt. Es geht nicht mehr um das Verstehen und Erfühlen delikater Zusammenhänge, es geht um Macht, Macht über eine furchteinflößende Komplexität, um so wenigstens eine ungefähre Kontrolle sich zu erhalten.

Und das kennzeichnet die Grundstimmung unseres Jahrhunderts, wir leben keineswegs in dem Bewußtsein, daß sich unser Schicksal erfüllt habe, und daß alles nun auf ein friedliches Dahindämmern unserer Zivilisation in überschaubaren Bahnen hinauslaufe. Nein, wir leben in einem Zeitalter der Angst, aber nicht einem wie es z.B. Auden vor Augen gestanden hat, sondern einer Angst davor, daß der Mensch sich als zu dumm herausstellen wird, die ihm gestellte Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Welt zu begreifen und zu gestalten. So gesehen hat es schon eine gewisse Komik, daß ausgerechnet die Versuche der Wissenschaft, dieser Angst durch Schlächterei zu entkommen, in der "Bombe" das Instrument geschaffen haben, das diese Angst auch dem Letzten vermittelt.
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Vor 1000 Jahren gab es, wie viele sagen, schon einmal eine ähnliche Weltangst wie heute, die Aufgeregtheit des frühen Mittelalters angesichts der sich unaufhaltsam nähernden Vollendung des Dezimalsystems. Und als sich nach der Jahrtasusdendwende der sicher geglaubte Weltuntergang nicht ereignete, ahnte man etwas von der Unendlichkeit des Raums, und den sich die Menschen entwickeln mußten, und schuf sich, wenn wir Spengler folgen, als Symbol dieser erhofften Unendlichkeit den steinernen gotischen Spitzbogen, ein Ornament von merkwürdiger Kraft, an dessen üblichen Verzierungen, den kleinen Wasserspeiern und Plastiken um die Giebel der Dome herum, wir immer noch etwas von der Angst erkennen können, die der Gotik zugrunde lag. Einer der erstaunlichsten Aspekte an Spenglers Versuch, die europäische Kultur aus einer einzigen Figur heraus zu erfassen, ist wohl die Blindheit, mit der er das Aufkommen eines neuen Symbols hat übersehen können, das nicht so elegant geschwungen ist wie das der Gotik und ein verändertes Verhältnis zum Raum reflektiert. Es ist das Rechteck.

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Im Rechteck entdecken wir die Kapitulation vor den Ansprüchen des abendländischen Denkens. Es ist der gotische Spitzbogen minus seiner Spitze und durchzieht als Hauptmotiv die bildende Kunst unseres Jahrhunderts (auch und gerade in seiner Abwesenheit) und nicht zuletzt natürlich die Architektur. Es wird nicht unbedingt geliebt (so sehr auch über die Tristesse von Vorstädten und Hochhäusern gejammert wird, die ein Rechteckkult in die Welt gesetzt hat), und doch konzentriert sich in ihm so etwas wie Hoffnung auf Überwindung einer veränderten Angst. Angst und Rechteck bilden die Basis einer neuen Kultur. Die gotischen Dome sind fremd geworden (auch in ihnen hat sich früher niemand wohlgefühlt, niemand hat in ihnen gewohnt), sie stehen heute in den Städten wie griechische Ruinen.
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Die Erfindung und Institutionalisierung des Kinos war eine der ersten Taten dieser neuen Kultur. Es ist nur zu begreifen als eine öffentliche Anbetungsstätte des Rechtecks. In diesem Rechteck wird vor allem von einem erzählt, dem Thema "Mensch und Angst".

Vom Fernsehen wird gesagt, es habe das Kino abgelöst. Es ist das Kino für den Hausgebrauch, und siehe da, die Ecken werden abgerundet, niemand hat in gotischen Domen gewohnt (eher hinter romanischen Fensterbögen). Gegenüber dem Film ist das Fernsehen zunächst einmal das versöhnlichere Medium, es ist etwas konservativer, es ist eine Folge von Punkten, die eine Rechteckfolge simuliert.
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11.5.80:

 

Wenn wir auch geschafft haben, gewisse gedankliche Grundprinzipien der Kulturen Beethovens und Fermis sauber voneinander zu trennen, bleiben sie in unseren Köpfen doch in einer unübersichtlichen Gemengelage vermischt, überlagert zudem von den Grundbedingungen unserer biologischen Existenz, einer, wenn man so will, biologischen Kultur, der solche Gedanklichkeit von vornherein und zu fast jedem Zeitpunkt absolut gleichgültig ist. Ein ähnlich kompliziertes Durcheinander trifft der analysierende Geist in beinahe jedem Sachverhalt an, den er verstehen möchte. Versuche, diese Komplexität zu durchdringen, müssen sich mit mäßig genauen Näherungen begnügen. Diese Ungenauigkeit ist zumeist prinzipiell. Erhöhte Genauigkeit verlangt ein deutlich eingeschränktes, gut definiertes, mehr oder weniger ausgedehntes Terrain. Und das Symbol dieses Terrains, das dem nach Unendlichkeit und Allgemeingültigkeit drängenden abendländischen Denken seine Beschränktheit so deprimierend bewußt macht, ist das Rechteck. Die Rechteckkultur ist diesem Denken Resignation, und umgekehrt, alles was zu Universalität abzuheben sich bemüht, erscheint dem realistischen Rechteckdenken von vornherein suspekt; oder chärfer noch, als von ausgemacht zynischer Scharlatanerie (oder aber von imbeziler stupider Idiotie).
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Feynmann begann seine 1951 Quantenelektrodynamikvorlesung mit dem lässigen Satz: "Nehmen wir einmal an, alle Atome des Weltalls seien in einem Kasten." So erbärmlich das verglichen mit den Ansprüchen der allgemeinen Relativitätstheorie auch klingt, ist es zugleich erfrischend einfach, und erstaunlicherweise gelangt man mit dieser an sich grotesken Vorstellung zu einer ganzen Kette brauchbarer Resultaten.
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Eine gewisse Geburtskomik dieser Rechteckkultur besteht darin, daß sie von Menschen produziert wurde, die sich dem abendländischen Ideal verpflichtet fühlten. Fermi war nicht nur ein machtbesessener Praktiker, er war gleichzeitig einer der besten theoretischen Köpfe des alten Geistes. Vielleicht gab erst diese Kombination dem Rechteckdenken seine mythische Kraft. Es ist ja nicht per se ein Kind dieses Jahrhunderts, im Denken der Pragmatiker existierte es zu jedem uns bekannten Zeitpunkt: auch die gotischen Kathedralen sind aus plumpen Steinquadern zusammengesetzt. Neu ist die ideologische Dominanz dieses Denkens und die Einsicht in die Leere des Pathos der großen Architektur. Dieses Pathos war aber die treibende Kraft in der Entwicklung des neuen Denkens - das produzierte eine gewisse Schizophrenie: wurde es doch ausgerechnet von seinen Hervorbringern als minderwertig und vorläufig qualifiziert. Man hoffte (und tut es wohl immer noch), daß sich all diese auseinanderfallenden Denkrechtecke irgendwann zu einer umfassenden Theorie wieder würden verbinden lassen.

Das hat sich nicht ereignet, das Bewußtsein der Komplexität hat sich im Gegenteil sogar noch erheblich erweitert, und so stehen wir heute in einer Situation. in der wir lernen müssen, mit einer ausgemachten Minderwertigkeit zu leben. Der Gedanke an eine Umfassung all dieser Vorläufigkeiten ist uns so fern geworden, wie der Glauben an das Erscheinen des Messias.
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Bezeichnenderweise tritt einem die Grobheit dieses neuen Denkens am offensten in Vorlesungen entgegen. Tatsächlich sind sie nicht von Feynmann und Fermi in dieser deutlichen, beinahe provozierenden Form aufgeschrieben worden, sondern sie wurden von Studenten nachgeschrieben. Und das ist interessant: das Maß an Macht, das Studenten bekommen, wenn sie mit Rechtecken hantieren, ohne die Gesamtvorstellung begreifen zu müssen, die sie vielleicht nie begreifen werden, die vielleicht sogar unbegreifbar ist. Und: Studenten sind wir alle; und dennoch: diese Macht.

Das Rechteck ist natürlich auch ein Zeichen von Ungeduld. Wer kann sich schon leisten, das Ende des Universums abzuwarten, wenn er für eine Beschreibung der Geschichte des Universums den Nobelpreis gewinnen möchte. Wer will warten, bis sich jemandem der erleuchtende Gedanken zufällig bietet. Und die Wahrscheinlichkeit, daß der erleuchtende Gedanke einen selber trifft, ist jemandem, der sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen möchte, zu gering. Das Rechteck ersetzt das verlorene Gottvertrauen. Das Operieren mit Rechtecken hilft dem Nur-Genialen und vielleicht weniger Glücklichen.

Man stelle sich das vor: als junger Mann über einen Sandkasten gebeugt, von dem man behaupten kann, es wäre die Welt; dann baut man kleine Kästchen im Sand, und es ist kein Spiel, sondern Wirkung habende Wirklichkeit. Natürlich gibt das ein Gefühl von Kraft.

Descartes, der Erfinder des Koordinatensystems, meint: Ich denke, also bin ich irgendwo in diesem Koordinatensystem, am besten im Zentrum und strecke meine Fühler in die Unendlichkeit. Fortan gab es den Fluchtpunkt der Perspektive, und zwar nicht nur in einer sondern in allen drei Raumrichtungen, das war ungeheuer. Es bedeutete des Ende der klassischen Renaissance-Malerei. Feynmanns und Fermis Schüler bieten uns von diesem Satz nun eine neue Variation: Wenn ich nichts tue, dann bin ich nicht - für sie ist Denken eine Tat, und zwar eine, die ein Rechteck errichtet. Interessant ist das Geigenspiel Einsteins: ihm gelang es noch einmal, die Descartessche Unendlichkeit mit dem geschwungenen Spitzbogen zu versöhnen. Er krümmte den Raum, wodurch sich das Universum wie durch Zufall wieder schloß. Relativitätstheorie und Quantentheorie sind ihrem Wesen nach entgegengesetzte Denksysteme, die erste ist noch dem Ganzheitsprinzip verpflichtet, die andere eher praktisch.
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Die räumliche Erweiterung des Rechtecks ist der Quader. Anders als die Griechen betrachten wir ihn nicht als ein Stück Oberfläche um ein kontinuierliches Volumen, sondern wir sehen ihn als Container, worin, unseren Blicken verborgen, die Ungeheuerlichkeit haust. Auch der Mensch ist zu so einem Container geworden, eine einigermaßen begreifliche Hülle um, so sehr wir auch die Errungenschaften der Genetik feiern möchten, das Unbegreifliche. Zuweilen platzt diese Hülle, als könne sie dem Druck des Unheimlichen nicht immer widerstehen, und es kommt zu Amokläufen, menschlichen Reaktorkatastrophen gewissermaßen, ohne die wir uns Nachrichten aus unserer Kultur gar nicht vorstellen können. Horror und Rechteck gehören zusammen. Das Containment funktioniert wohl die meiste Zeit, auf Dauer sind die Wände um das Unbegreifliche schwach, weil ihrer Konstruktion selbst Schizophrenie und Schwäche zu Grunde liegen.
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Diese Explosionen der Hülle bilden die spektakuläre Variante des Scheiterns des modernen Denkens, es scheitert an seiner eigenen Schizophrenie. Das andere, das übliche besteht im alltäglichen Suizid, weniger im Physischen als vielmehr im Gedanklichen, in der unweigerlich erfolgenden Kapitulation vor den Randbedingungen der biologischen Existenz. Selbst hier noch hilft die Hilflosigkeit des Rechtecks, die uns klarmachen kann, daß vor jedem Gefühl von Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit der Anspruch der abendländischen Kultur kam, uns mit Sinn und Glück zu füllen. Und so vernehmen wir denn ein munteres: "Vorwärts Franzosen, noch eine letzte Anstrengung."
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So gesehen ist natürlich interessant, daß die Berstschutzhüllen der westeuropäischen Kernreaktoren ostentativ die Eiform hervorkehren, als wollten sie ein mythisches Signal setzen, daß es nie zur Explosion kommen kann und wird. Dem Rechteckcontainment steht die öffentliche und emotionale Kultur hier wohl noch mit zuviel Mißtrauen gegenüber, in Amerika sieht es schon anders aus. bezeichnend ist auch die Architektur an der Elementarteilchenfront. Um die kleinsten Teilchen, die wir kennen, zu zertrümmern, werden riesige Spiralen gebaut, Zyklotrons, von Gewaltigkeit sprechende weibliche Symbole, mit denen sich die Menschheit identifizieren kann. Gebaut sind sie aber als Metapher des Hasses auf die Natur: das kleinste noch, was wir von ihr kennen, soll mit unglaublicher Energie zerschlagen werden. Bei den Theorien, die Elementarteilchen zu begreifen versuchen, hat man gelegentlich das Gefühl, daß sie diesen Haß auf die Komplexität der Natur nur notdürftig verschleiern und als willkürliches Alibi dienen, um das Ritual der Zertrümmerung vollziehen zu dürfen. Nie werde ich das Photo vergessen, auf dem an einem rechteckigen Getreidesilo eine kleine Ausbeulung sichtbar wurde, Ausdruck der Unberechenbarkeit der Flußdynamik des Inneren. Danach baute man die Silos zylindrisch und mit unverhältnismäßig stärkeren Wänden.
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Wenn in unseren Zivilisationen Großbauten entstehen, deren Grundform nicht das Rechteck ist, heißt das häufig, daß hier etwas umhüllt wird, das den Menschen physisch gefährlich ist, und dessen Verhalten sich nicht einmal approximativ zuverlässig vorhersehen läßt. Das gilt für Gasomenter und Kernreaktoren, für Beschleuniger und Fußballstadien (in denen die Angst vor der physischen Energie der Zuschauer mit der Rundform zu beschwichtigen versucht wird). Anscheinend wird dabei versucht, durch den Rückgriff auf ältere Bauformen ein ähnliches Gefühl von Sicherheit zu suggerieren, wie es uns im Kirchen- oder Kongresshallenbau (wie amüsant der Zusammenbruch der Berliner Kongresshalle war) begegnet, bei dem Kuppel- und ähnlich geschwungene Formen der religiösen Architekturgeschichte entlehnt von vornherein ein älteres, sichereres Weltbild in das Gebäude injizieren.
Eine interessante Variante dieses Gedankens finden wir im Straßen- und Brückenbau, wo die geschwungene Linie noch immer, genaugenommen aber eigentlich erst jetzt triumphiert. Es ist ein Anwendungsbereich der Statik, den schon die Römer akzeptabel beherrscht haben, und interessant ist, daß ausgerechnet dieser statische Bereich heutzutage ein dynamisches Aussehen angenommen hat. Denn dieses Aussehen ist Camouflage, die Eleganz der geschwungenen Linien ist Übereleganz, ist repräsentatives Symbol einer Kultur, die Großes geschaffen aber doch schon abgedankt hat. Der Dynamik verdankt der Brückenbau nur noch eine verbesserte Ökonomie (und natürlich die spektakulären Katastrophen zusammengebrochener Hängebrücken).


Bei aller Bewunderung der Rechtecksidee darf nicht übersehen werden, daß die Kreisform bei einfacheren Zusammenhängen häufig ganz unideologisch ein besseres mathematisches Verständnis ermöglicht, und so begegnen wir ohne Mißtrauen den schlanken Zylinderformen von Raketen, Schornsteinen und Rohren, sowie den Auswirkungen der Aero- und Hydrodynamik im Flugzeug-, Automobil- und Schiffbau, bei denen sich das Runde vor allem in verbesserter Ökonomie (und natürlich im Design) bemerkbar macht - geflogen sind schließlich auch die Kästen der aeroplanen Frühzeit. Wenn es allerdings einmal wirklich ernst wird, ist das dynamische Design nicht selten ganz schnell am Ende: mit Verwunderung vernimmt man beispielsweise von den kleinen rechteckigen Kacheln, die sich vom Hitzeschild der Raumfähre Columbia gelöst haben, und die nun einzeln und in Handarbeit mühsam wieder aufgeklebt werden müssen.
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Es heißt immer, die moderne Architektur sei funktional, und mit modern meint man all die Ausläufer des Bauhauses und seiner Liebe für das Rechteck, und das Rechteck selber wäre das Synonym dieser Funktionalität. Dem liegt ein erhebliches Mißverständnis zu Grunde. Funktionalität ist in unserer Kultur vor allem Ausdruck einer leicht verbesserten Ökonomie, und das Rechteck ist auch in der Architektur nur eine dürftige Annäherung an die Ideale der Funktionalität. Kern der Funktionalität ist die mathematische Funktion, und als solche ist das Rechteck komplizierter als der Kreis oder die Ellipse. Den Gedanken an Funktionalität in der Architektur kann es langfristig nur hemmen, denn Rechtecke müssen immer irgendwie vernagelt und zusammengefügt werden, für in einem Stück aufblasbare Ballonhäuser zum Beispiel wäre das Rechteck funktionale Idiotie. Die Liebe des Bauhauses zum Rechteck wird nicht durch Funktionalität bestimmt, eher schon durch ein Mißverständnis von Funktionalität. Vermutlich aber ist sie Ideologie.
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Welches sind die Bedingungen für das Auftreten einer solchen ästhetischen Ideologie, wie konnte es in bestimmten Bereichen der Alltäglichkeit zur Rechteckdominanz kommen? Nehmen wir zum Beispiel das Geld. Wir haben Kleingeld und Papiergeld, wobei das eine rund, das andere rechteckig ist. Das Kleingeld ist praktisch, schwer und funktional, das Papiergeld dagegen leicht, abstrakt und gut stapelbar. Überraschend ist, daß das leicht herstellbare Papiergeld die Rechteckform erhalten hat und große Geldbeträge beschreibt. Warum werden nicht die großen Beträge durch Münzen repräsentiert? Und warum haben Geldscheine nicht die Kreisform? Will man ausgerechnet beim Druck großer Banknoten Papier sparen? Äußert sich auch hier die beschwörende Qualität des ideologisierten Rechtecks? Der Übergang zur Papiergeldwirtschaft steht für den Übergang in eine zahlenmäßige Größenordnung, in der der menschliche Verstand die Übersicht verliert. Es ist ein Übergang in die Unbegreiflichkeit, vielleicht traut man dem Rechteck zu, die Angst vor dieser Unbegreiflichkeit zu bannen.
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Wenn es überhaupt ein Land gibt, das wir mit dem Rechteck identifizieren, so sind es die Vereinigten Staaten von Nordamerika. In ihrer Selbsteinschätzung ist häufig vom Geist der Grenze zu hören, der American spirit und die frontier gehören zusammen. Von Europa aus erscheint in Amerika alles größer, alles unbegrenzter, alles ungeheuerlicher als das Bekannte. Die USA stehen für den Aufbruch in Dimensionen, vor denen es Europa graut. Dieses Grauen haben die Amerikaner durch das Symbol des Rechtecks überwunden.
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Nun fügen sich die Phänomene der Wirklichkeit dem Blick des Privatgelehrten mit echsenhafter Geschmeidigkeit, und dies in wachsendem Maß bei vergrößerter historischer Distanz. Leider verrät eine Reihe von Belegen aber wenig über die Gültigkeit einer Ansicht, zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß auch ein anderer oder sogar mehrere andere Theorieansätze die gleichen Belege erklären können. Diese Erkenntnis führte das neunzehnte Jahrhundert zur gedanklichen Akzeptierung der Priorität des Handelns vor dem Interpretieren, selbst im alleserklärenden politischen Marxismus. Das Symbol dieses Handelns ist das Rechteck.
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Kulturelle Theorien sind bestenfalls grob approximativ: den in der Naturwissenschaft geforderten Beweis, daß es keine Gegenbelege gibt, vermögen sie nie zu erbringen. Und Gegenbeispiele werden mühelos als mäßig interessante Sonderfälle wegkatalogisiert (wie die Schornsteine und Raketen unserer Theorie). Kulturelle Theorien haben nur selten tiefere Gültigkeit, aus ihnen spricht vor allem das handelnde Interesse der Zeit, die diese Theorien hervorbringt. Sie sind von Glaubensfragen der aktuellen Kunstproduktion nicht zu trennen. Die Basis unseres Diskurses über das Rechteck ist allein der Glaube, daß es momentan im Zentrum des westlichen Denkens steht, und das nicht ohne Grund.
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Als einen solchen Grund akzeptieren wir die Angst der Menschen, die Wirklichkeit nicht begreifen zu können, oder schärfer, sie nicht einmal beschreiben zu können, kurzum: die Angst vor der eigenen Dummheit. Diese Angst ist ein zeitgenössisches Problem, ihre Verbreitung ist nicht von der Verbreitung der Großrechenanlagen zu trennen, denen unsere Gesellschaft die mythischen Attribute von Superhirnen einräumt. Generell wird heute numerischen Analysen mehr Glaubwürdigkeit eingeräumt als funktionstheoretischen (allerdings nur den neuesten auf den größten Anlagen, alles andere ist Schnee von gestern). Und das nicht, weil die teueren Rechenanlagen nun einmal herumstehen, sondern weil das funktionentheoretische Denken in diesem Jahrhundert seinen Bankrott hat erleben müssen. Es hatte hohen Erklärungswert bei der Beschreibung des Verhaltens von sehr wenigen und sehr vielen gleichartigen Teilchen, versagte aber vollkommen bei allen Prozessen, bei denen mehr als drei und weniger als einige Milliarden verschiedene Teilchen interagieren. Und dieser Bereich ist der bei der Verwaltung moderner Staaten relevante. Die Funktionentheorie hat ihr dabei nicht recht helfen können.
Einem funktionentheoretischen (Wagner!) Genie wie Hitler sind auch nur Mauern um seine Konzentrationslager eingefallen, und dann die Endlösung: die Verbrennung des Inhalts.
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III. ZEIT UND ANGST (1988/91)

 

Die Angst vor dem Innen und der Versuch, dieses Innen in einem Containment zu verwahren, nimmt zuweilen recht abenteuerliche Züge an. Beim Body-Building zum Beispiel geht es um eine brutale Verstärkung der Muskelsubstanz, doch das nicht mehr, um Bedrohungen von außen abzuwehren oder nach außen abzustrahlen, es scheint vielmehr darum zu gehen, die Muskelsubstanz selbst zum Teil des Berstschutzes werden zu lassen, der das Innere im Innen hält. Von gesunden Geistern in gesunden Körpern ist da nicht viel zu sehen, das Ideal scheint eher ein Körper zu sein, der sich 24 Stunden quält, um ja nicht den eigenen Geist spüren zu müssen. Und wenn wir in den Parks Läufer in mittleren Jahren an uns vorüberziehen sehen, geht es natürlich um eine Stählung der eigenen Körperlichkeit, um den unkontrollierbar launischen Geist zurückzuhalten. Doch ist da auch ein anderes, das zusammengehalten wird, die Substanz des Lebens selbst, die den Körpern allmählich entflieht, eine Substanz, deren Ehrgeiz darin zu bestehen scheint, sich irgendwann doch mit der Erde zu vereinen - und siehe da, auch dann, im Moment der größten Ratlosigkeit, erscheint das Rechteck in Gestalt des Sarges, ein letzter Behälter, der sich dem Ausbruch der Materie wiedersetzt und längst nicht mehr das Boot der Ägypter ist, mit dem die Seelen der Toten zu den letzten Ufern treiben.
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Und da sind wir wieder bei der Zeit. Die Zeit ist den Menschen bis jetzt wohl das Unheimlichste geblieben, unheimlicher jedenfalls als der Raum, den wir inzwischen einigermaßen überblicken, und unheimlicher wohl auch als selbst die Sexualität. Fast alles, was wir von der Zeit begreifen, begreifen wir über Kategorien des Raums, und doch ist da etwas mit der Zeit, das so ungeheuer ist, daß selbst die klügsten Köpfe davon nicht mehr verstehen als ein Kind. Und das ist ihr einfaches Vergehen, die Art, wie sich mögliche Zukunft in Gegenwart verwandelt, wie einem die Gegenwart förmlich unter den Fingernägeln hervortritt, wie sie den Bäumen aus den sich bewegenden Blättern quillt, eine unendliche Fülle an Gegenwart, die jeden Moment geschaffen wird aus Nichts. Oder was ist das für eine Substanz, aus der diese Gegenwart entsteht, doch nicht etwa die Vergangenheit, die nackte Vergangenheit, die nicht mehr existiert, am ehesten ist es wohl Gegenwart selbst, die diese Gegenwart erzeugt.
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Auch den Physikern ist es nicht recht gelungen, die Zeit in den Griff zu kriegen, sie ist immer ein halbwegs Verschwiegenes, ein elegant Mitgeschlepptes, dem Raum verschwägert, doch nicht recht faßbar. Niemand würde auf die Idee kommen, den Feynmannschen Satz von den Atomen auf die Zeit zu übertragen: "Nehmen wir einmal an, alle Zeit der Welt wäre in einem Kasten versammelt". Selbst das Rechteck ist relativ hilflos gegenüber der Zeit.
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Um die Angst vor dem Raum zu verlieren, haben die Menschen verkleinerte Bilder von ihm angefertigt. Sie haben sozusagen kleinere Pakete von Raum hergestellt, die sie bei Gelegenheit betrachteten. Diese Verpackung von Raum in kleinere Einheiten findet nun auch mit der Zeit statt. War es zunächst nur möglich, sie in Büchern zu verpacken, aus denen sie in einem komplizierten Prozeß des Lesens, Nachvollziehens und Miterlebens wieder rekonstruiert werden konnte, so wurde es mit der Erfindung des Films möglich, die Zeit selbst zu verpacken, und bei Gelegenheit wieder hervorzuholen.
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Zeit wurde auch in Form von Musik verpackt. Und dann gibt es den Tanz. Und den Willen der Menschen, ihre Körper dabei zu spüren wie beim Sex, aber zu einem externen Rhythmus. Vielleicht um so in eine Resonanz mit dem Vorwärtsstampfen der Zeit zu geraten, in eine Resonanz mit der Gegenwart. Es ist ein Erleben von seltsamer Formlosigkeit. Anschließend ist alles wieder verschwunden, es bleibt die Erinnerung an ein chaotisches Durcheinander, aber sie ist auch heilend, diese Körper-Musik-Verlangens-Mixtur.
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Interessant an Musik sind die Formen ihrer Verpackung: obwohl die Tonträger Spiral- oder Scheibenform haben, versuchen Schallplatten, Tonbänder und und Compactdisks durch ihre Verpackungen eine rechteckige Form vorzutäuschen. Besonders störend scheint die Spiralform zu sein, in Musik- und Videokassetten wurde um sie herum ein rechteckiges Gehäuse geschweißt, um sie zu verbergen. Auf diese Weise möchte die Tonaufzeichnung vom Mythos des Rechtecks profitieren. Das Erlebnis ist also formlos und der Speicher rechteckig.
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Die Übertragung von Feynmanns Idee von aller Zeit der Welt, die sich in einem Kasten aufhalten soll, ist damit zumindest in einem Ausschnitt als Geste realisiert. Im Film nun wird sie durch das Akzeptieren von Zeitsprüngen tatsächlich möglich: alle wesentliche Zeit der Welt befindet sich in einem Film auf einer Rolle. Die Zeitsprünge beim Schnitt werden dabei durch das Kausalitätsprinzip im Kopf des Zuschauers ergänzt, manchmal auch über die Beherrschung der zeitverschlingenden Modi der Sprache. Man muß sich aber darüber im klaren sein, daß dies zwei sehr verschiedene Zeitschlucker sind. Beide dienen sie dazu, etwas Unmögliches möglich zu machen: die Darstellung aller Zeit der Welt (die einen interessiert) in einem nacherlebbaren Raum. Dieses filmische Nacherleben von Zeit ist ganz anders als das von Musik.
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Bei Musik habe ich mich oft unwohl gefühlt, wenn ich jemand anderem Platten oder Bänder vorspielte, besonders natürlich in der Situation von Künstler zu Künstler. Das wird anders, wenn der Vorgang durch irgendeine Form von Darstellung zum Ereignis wird (zum Beispiel dem öffentlichen Vorspielen einer Platte). Dann bekommt der Vorgang etwas vom Charakter von Life-Musik, bei der es dieses Unwohlsein nicht gibt, bei ihr wird der Raum durch Gesten gefüllt. Ohne solche Gesten bleibt der Raum nackt und die Zeitverschiebung eines abgebildeten Ereignisses in ihn hinein hoch irreal. Diese Irrealität ist für einen allein erträglich, denn man kann sich vergessen und in den irrealen Zeitraum eintreten. Mit einer anderen Person wird es aber heikel, es gelingt eigentlich nur, wenn man den Raum gleichzeitig mit etwas anderem füllt und so zu einem intimen Erlebnis von Raum und Zeit gelangt, bei dem man selbst zum Füllelement des Raums wird.
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Wenn das Zeitpaket dagegen nackt auf die Gegenwart geworfen wird, hat man den Eindruck, als wäre irgendwas an der Wirklichkeit verkehrt. Dieses Gefühl von Verkehrtheit nimmt ab, wenn man beim Hören einer anderen Tätigkeit nachgeht (und sei es nur die intensive Denktätigkeit beim genaueren Hinhören). Sonst entsteht leicht ein Gefühl, als wäre das Erleben ein Erleben von Zeit minus Raum. Und dieser Zustand repräsentiert offenbar eine uns ganz entsetzliche Leere, schlimmer als das schlimmste Vakuum. Seltsamerweise kann man diese Leere allein oder als Zuhörer in einer Menge in etwas zuweilen Angenehmes verwandeln. Unangenehm sind seltsamerweise wenige Zeugen.

Manchmal allerdings schafft man es auch, sich selbst zu einem wahrnehmenden Anderen zu machen, zu einer Person, die man nicht eigentlich selbst ist, aber das ist mir immer sehr schwer gefallen.
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Eine große Hilfe bei der Wahrnehmung von gespeicherter Zeit ist die Idee des Senders, durch den gespeicherte Zeit in Weltzeit verwandelt wird, die man nicht zu hinterfragen braucht. Im Radio ist das Erstaunen über das Auftauchen eines weltfremden Zeitkontinuums viel geringer, als beim Vorspielen einer Platte für eine einzelne andere Person. Und das gilt auch beim Film und im Fernsehen. Und auch dort ist es einfacher, wenn ein paar Personen den Raumaspekt der Gegenwart mit Leben füllen, als einziger Betrachter eines Films erlebt man eine deprimierende Situation.
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Auch ein Disk-Jockey ist so etwas wie ein Sender. Aber er ist zugleich mehr, meist ist er der Bediener eines Zwei-Platten-Wechselsystems, durch welches man von einer Musik bruchlos in die nächste gelangen kann. Dieser Übergang von einem Musikstück zum nächsten ist so etwas wie der Schnitt im Film. Es ist ein Schnitt in embryonaler Form (durch Sampling wird er inzwischen innerhalb von Musikstücken verfeinert), durch ihn wandert man von einem Moment in einen ganz anderen, in einen, der scheinbar nicht mehr durch den kontinuierlichen Raum mit dem vorhergehenden verbunden ist. Früher gab es immer Momente der Irritation in der Disko, wenn die Stücke einfach aufhörten und man auf einmal auf dem normalen Boden einer normalen Welt stand, das waren Sekunden einer verwirrenden Ernüchterung. Durch die weichen Übergänge bekommt man daagegen das Gefühl, an einem einzigen Abend in der Disko die für einen wesentliche Welt der Musik kontinuierlich durchwandert zu haben. Man hat Teil an einem Fest der Konzentration der gesamten Zeit der Welt, an einer Kompresion der Welt in in einem kürzeren Zeitraum.
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Auch der Zeitung von gestern fehlt die Präsenz. Auch sie ist Zeit ohne Raum, auch ihr fehlt eine der Grundbedingungen des natürlichen Lebens. Bei ihrem Lesen ist eine Extraanstrengung nötig, um ihr einen neuen Rhythmus zu geben, ihr wieder Leben einzuflößen. Das ist schon beinahe eine dichterische Anstrengung, so als ob man einen Roman schreibt und liest.
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Im Film gibt es ebenfalls dieses Erleben von gespeicherter Zeit. Aber während die Elemente der Zeitstruktur in der Musik physisch gestaltlos geblieben sind, haben sie beim Film eine regelmäßige Form und bedienen sich des Rechtecks. Ausgehend vom Rechteck kommt es zu einer ganzen Explosion von Überkreuzungen und Verschwägerungen, vor allem natürlich mit dem Raum, das bot sich an. Diese Kreuzung von Raum und Zeit im Rechteck war der Moment der Geburt des Spielfilms. Möglich wurde er aber offenbar erst durch die Begegnung mit der raum- und schreckenorientierten amerikanischen Photographie, die im Bürgerkrieg entstanden war. Und folgerichtig stand an diesem merkwürdigen Kreuzungspunkt von Raum, Zeit und Photographie 1914 ein Film über den amerikanischen Bürgerkrieg: Griffiths "The Birth of a Nation", den man als den ersten "richtigen" Spielfilm bezeichnen kann.
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Der Struktur der amerikanischen Photographie verdankt der Spielfilm seine Spannung. In ihrem Raumaspekt gab es ja noch immer die Angst vor dem außen, die sich in schönster Form in Western verwandeln konnte, und immer gibt es in Filmen auch die Angst vor dem jenseits der Abbildung existierendem Raum, vor den Schlangen am Ende der verstandenen Welt, die zu jedem Zeitpunkt in das Bild hineinkriechen könnten und die Jungfrau unzüchtig berühren. Gleichzeitig aber gibt es die Angst vor dem Inneren der Bildes, vor Feuersbrünsten und Katastrophen (den Erinnerungen an den Bürgerkrieg also) und immer präsenter auch die Angst vor dem Inneren der Menschen, die die Filme bevölkern und in letzter Zeit immer mehr zu Verrückten und Psychopathen werden, die dich, den Normalen, umbringen könnten. Die Bilder dienen dieser Unberechenbarkeit gewissermaßen als Container, aber man kann nie sicher sein, ob die Wände auch halten werden. Man hat Angst, daß sie einen irgendwann doch anspringen könnten. Möglicherweise basieren all diese Ängste sogar auf einer anderen Angst, der Angst vor dem eigenen Inneren, in dem wir alle Kräfte vermuten, die plötzlich gegen unseren Willen ausbrechen könnten und unsere Leben ruinieren.
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Über die Darstellung des Raums kam bei der Darstellung von Zeit das gelebte Leben zu seinem Recht. Aber es war vor allem Leben, das Raum eroberte. Es gab so eine Art Rückschritt, denn wieder wurde Zeit durch räumliche Kategorien begriffen. Das nämlich konnte man verstehen, das hatte man in der Schule gelernt und entsprach dem Zeitverständnis, das wir haben, aber durch diese erneute Verschiebung der Zeit auf den Raumbegriff gab es eine erneute Verfälschung der Idee der Zeit selbst, das Potential des Films blieb ungenutzt und die wunderbare Zeitmaschine wurde ein banaler Raumbewältigungsmoloch. Alle Länder der Erde wurden in Filmen vorgestellt und alle Menschen der Welt, selbst alle Leben der Welt. Aber was nicht abgebildet wurde, was unterdrückt wurde, war Zeit selbst, der sich entfaltende Moment.
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Es gibt aber noch einen anderen Aspekt der Angst, und der hat mit der Zeit selbst zu tun. In vielen Filmen begegnet einem als Betrachter auch der Tod und manche dieser Begegnungen gehören zu dem Großartigsten, was Film zu bieten hat. In ihnen äußert sich ganz unpathetisch die Angst vor dem eigenen zeitlichen Ende, der durch das Filmrechteck eine bannende Form gegeben wird. Und kann man überhaupt vergessen, daß "Die Geburt einer Nation" im ersten Weltkrieg entstand? In diesem Krieg erkannten die Menschen vermutlich zum ersten Mal, daß sie in der Lage sein könnten, das Ende der Welt herbeizuführen. Mit dem Aufstieg des Films wurde diese Möglichkeit zusehends realer. Vielleicht liegt auch in der Bewußtwerdung dieses möglichen Endes der Welt eins der Geheimnisse der Entstehung dieser großen Tempel zur Anbetung des Rechtecks, die wir Kinos nennen: daß in ihnen schlicht die Angst vor dem zeitlichen Ende der Welt beschworen wird.

Ich weiß jedenfalls, daß ich seit 1960 mit dem Bewußtsein gelebt hatte, daß jeden Moment ein Atomkrieg beginnen konnte. Fünf oder sechsmal, vor allem bei Gewittern, habe ich das auch tatsächlich gedacht. Erst mit der Vereinigung Deutschlands hat sich das gegeben. Ich bin sicher, daß vieles von meiner Motivwahl davon bestimmt war, Untergehendes als Bild wenigstens zu bewahren: Hütten in Afrika, Industrielandschaften in England oder im Ruhrgebiet oder Kalifornien, die Straßen von New York oder Cairo oder die auf mich paradiesisch wirkende sozialdemokratische Stadt. Das war vor dem Gefühl der Gewißheit des eigenen organischen Todes, und immer gab es diesen diffusen Hintergedanken über das bevorstehende Ende der Welt, und ob man Kopien in Buenos Aires oder Sydney deponieren sollte, damit dieses kleine Archiv an Bildern auch einen Atomkrieg überlebt. Aber dieser Gedanke - so vorhanden er immer war - hat sich nie richtig realisiert, das Leben trat schnell immer über ihn hinweg, vielleicht weil der moderne Zusammenhang einem als Einzelnen die Bedeutung nimmt, und die Apocalypse natürlich erst recht, man kann sich als Künstler nicht so recht bedeutend fühlen. Anstelle der Bedeutung tritt das Beliebige, und man hat immer den Verdacht, daß man bei einer lang angelegten Strategie nur einer x-beliebigen fixen Idee folgte, und die rechtfertigt nun wirklich nicht den Aufwand einer Archivierung in einer atomsicheren Verbunkerung in Südamerika. Und richtig ist auch, daß einem keiner das Gefühl von Bedeutung im Denken mehr glauben kann, das betrifft auch diesen Artikel: da, wo er sich bedeutend anfühlt, gibt es einen falschen Klang. Den richtigen Klang aber werde ich wohl nicht mehr finden, so muß dieser genügen. Tatsächlich hat mich die Wiedervereinigung in eine so existentielle Verwirrung gestürzt, daß ich jetzt nur noch schreiben möchte.
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An den vertikalen Strukturen von Musik hatte ich immer weniger Interesse, die simpelsten waren mir gleichzeitig zu idiotisch und trotzdem noch zu schwer, um sie richtig zu erlernen, die komplizierteren habe ich nie begriffen. Worum es mir in Musik ging, war der Atem. Nur der Atem: er war es, mit dem ich Seele in Bilder weben wollte. Eine wirklich raffinierte rhythmische Gestalt war degegen für mich nicht interessant. Denn bei der Herstellung von Bildern ging es mir um die Welt, nicht um das Beherrschen von Kompliziertheit: das Einfachste war schon kompliziert genug.
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Auch Dichtung war immer etwas, was mit Zeit zu tun hatte, mit Rhythmen, in denen sich Gedanken bargen. Jetzt, wo Dichtung eher ignoriert wird, gibt es ihren paradoxen Sieg in der Popmusik, die fast ausschließlich Musik mit Worten ist. Die Musik hat den Bereich der Dichtung usurpiert. Aber auf welche Kosten, welch erbärmliche Musik ist da geworden, welch erbärmliche Dichtung.
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Und dann waren da die Dichter und der Moment selbst, und das Interesse für Sachen, die bald nicht mehr da sein würden. Von da an ging es nicht mehr darum, alle Länder der Welt in einem Film zu versammeln, sondern die Filme waren Dokumente des Vergehenden - von da wiederum gab es einen weiteren Schritt, der in den Moment hineinführte, in den Moment des Erlebens. Ein Film wurde für mich zu einer Folge von Momenten des Erlebens.
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Es gibt auch Angst vor dem Medium Film selbst. Ich jedenfalls habe da oft Angst, ich bin mir gar nicht sicher, ob Filme eine so gute Sache sind, und was sie aus unseren Gesellschaften gemacht haben. Deshalb geht es in vielen Filmen (vor allem im Avantgardebereich) auch um die Frage: "Was ist Film eigentlich, und was tut er mit uns?"

Und dann noch ein Gedanke: etwas hört auf am Ende eines Films, was ist das?
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Das war es also, an was man denken mußte, wenn man das Projektorlicht flackern sah und sich überlegte, welches Steuerband man einlegen sollte, um die Menschen zu erfreuen. Doch viele scheint es nicht zu interessieren. Selbst die Künstler scheinen sich mehr für die Zahl der Champagnerflaschen zu interessieren, mit denen sie das neue Jahrtausend begrüßen wollen. Da sollen sie sich dann mal mit dem Zeitbegriff herumschlagen. Aber vielleicht haben sie auch Wichtigeres zu tun, vielleicht kümmerten sie sich um die Frage: "Was eigentlich sehen wir in den Bildern?"
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DER GEFALLENE ENGEL

(Notizen zu "Was sehen wir eigentlich in Bildern")

Anm.: bei dem in diesen Notizen gelegentlich auftauchenden Philipp handelt es sich um eine Person aus dem Roman "Vereinigt" (Teil 2 der Comédie Artistique), der sich zu diesem Problemkreis seine Gedanken macht.



an Joa Marios Film denken, und diese feinsinnige Umkehrung: der König konnte diese Jungfrau nicht beflecken, weil sie ihm zu heilig vorkam, und deswegen wurde er für unzurechnungsfähig erklärt, klare Sache.

Raffael: in der Welt gibt es keine Schönheit, man muß sie sich zusammensetzen. Er starb schon 38 jährig und war da bereits ein berühmter Mann, das will also nichts heißen.

Seltsam, dachte Philipp, daß er immer Gabriel angeguckt hatte, wenn er Verkündigungen sah. In dem Gespräch mit Virginia in Dahlem hatte sie gesagt, sie würde immer nur Maria angucken, und da wäre es ihr Blick, der sie stets erschütterte, dieser Blick, der wußte, was auf sie zukommen würde, aber sie hatte ja keine Wahl.

Das Anheben der Kirche S.Apollinare Nuovo um 1.20 m, so daß die Mosaiken ganz oben nicht mehr zu erkennen waren. Philipps Wahn, daß sie dazu dienen würden, den Zuschauern zu verbergen, daß die Leistung Giottos schon 800 Jahr zuvor in den Mosaiken sich vollzogen hatte. Ja er hatte Giotto darauf reduziert, daß er einzelne Rechtecke nebeneinander setzte, auf denen Bilder zu erkennen waren.

Der Mensch ist ein wahrnehmendes blutgefülltes Wesen und die Art seiner Wahrnehmung verändert seinen Organismus. Es gibt dadurch Blutdruckschwankungen, Hormonausschüttungen und eine Art der Speicherung des Wahrgenommenen, das noch heute absolut rätselhaft ist. Vergleiche der menschlichen Wahrnehmung mit der von Computern kommen mir ganz abwegig vor. Nie wird man mit Computern simulieren können, was Hormonausschüttungen für den Menschen bedeuten, und die verändern wieder jede Wahrnehmung. Man kann die Hormonausschüttung vielleicht irgendwie simulieren, aber diese Simulation ist keine Hormonausschüttung. Die Simulation eines Nervenzusammenbruchs ist für einen Computer nicht das gleiche wie ein Nervenzusammenbruch für einen Menschen. Der Organismus eines Menschen ist danach verändert, die ganze Hardware, wie man so sagt, und nicht nur die Software. Wenn ich von Computerkunst höre, muß ich lachen. Ich sehe sie mir auf dem Bildschirm an und vergrößere sie. Sobald sie Pixelgröße erreicht haben, werden sie lächerlich in ihrer Quadrathaufigkeit. Eine vergrößerte Gruppe von Pinselstrichen aus einem Bild Mondrians wirkt demgegnüber wie ein Meisterwerk. Selbst die Körnungen der Photographie wirken im Vergleich zu der Struktur von Computergrafiken geheimnisvoll. Und weiter: nichts was über Ästhetik gesagt wird und sich nicht in irgendeiner Form auf den biochemischen Organismus bezieht, der sie produziert und wahrnimmt, hat den Charakter dieser Computergrafiken. Darin beherbergt ist eine Verschwörung zur Vernichtung der Kunst. Das heißt nicht, daß der Mensch das Maß der Kunstwerke sein muß, ich akzeptiere auch die bekannte Verdrehung dieses Gedankens: "Der Mensch ist das Maß aller Schneider". Aber der Mensch ist eben das Maß aller Wahrnehmung. Wenn sich das nicht äußert, landen wir bei häßlichen Haufen von Gedankenpixeln. Seltsamerweise findet sich die Aversion gegen diese Computerpixel auch in der Natur. Auch die Natur pixelt nicht!

Die übliche Verführung: Gabriel in der Natur, Maria im Haus, sie noch Jungfrau, und er sucht irgendeine Idee, mit der er sie rumkriegen kann.

ins Ohr gefickt, und der heilige Vogel ist im Geist mit dabei.

Die Hand Gottes - die Hand der Masturbation, Maria kann behaupten, sie hätte nur masturbiert und doch ein Kind bekommen.

Die merkwürdige Doppelvaterrolle bei Christus: er schickt Gabriel, um die Befruchtung vornehmen zu lassen; eine Art Arbeitsteilung, die die Idee des Staates mit der Vaterschaft verbindet. Der Staat zeugt mit Maria Jesus und nutzt ihn dann für seine Zwecke ein - der Vaterhaß der Söhne verwandelt sich folgerichtig in einen Haß auf den Staat. Und Maria weiß von Anfang an, was ihr blüht, deswegen der wissende Ausdruck auf ihrem Gesicht (wenn Virginia recht hat, ich selbst war nie in der Lage, dort einen wissenden Ausdruck zu erkennen). Aber das Mutterglück wird sie versöhnen, wie wir bei Donatello sehen: dort ist der schwere dunkle Rahmen ein Symbol für die Abgeschlossenheit dieses Bildes, in das nichts von außen eindringen wird, nicht einmal der Haß Gottes. Nur der merkwürdige Strich zwischen Mutter und Kind verkündet uns die unvermeidlich werdende Trennung.

Das Kruzifix Giottos braucht keinen Rahmen: Jesus ist allein, er braucht nicht eingesperrt oder geschützt werden, er ist an das Kreuz angelehnt und angenagelt, er kann nicht fliehen, und wer einen Toten berühren will, kann ihn berühren. Ein Rahmen erhöht natürlich die Einsamkeit,

Joseph als Zimmermann neben Maria ein verstümmelter Hephaistos neben Aphrodite: die Handwerkergestalt neben der schönsten Frau.

Bilder sind ja zweidimensional, vielleicht bilden Tränen die dritte Dimension. Und gleich danach die Frage: sind Traumbilder zwei oder dreidimensional, und immer wieder auch die Frage: sind Traumbilder überhaupt Bilder? Es fühlt sich merkwürdig an, sagen zu müssen: Ich weiß es nicht, aber es stimmt, aber ich denke man könnte es herausfinden, man müßte mal drauf achten, aber das sage ich mir seit zehn Jahren, solange sage ich jedesmal: Ich weiß es nicht, das ist schon sehr merkwürdig.

Ist die Psychonalyse nicht vorstellbar ohne eine bestimmte Ikonografie, braucht sie die Existenz gewisser Bilder, die die Verbundenheit des Kindes mit der Mutter metaphorisieren? Oft dachte ich im Arabischen oder in afrikanischen Ländern, wenn ich mit Leuten sprach, ob bei diesen Menschen Psychonalyse überhaupt einen Sinn macht, man bedenke nur die Modifikationen durch die Vielehe.

mein Freund Peter Flak: Benzin auf Baum, Baum verbrannt, in Erde gebissen, bei GEO gelandet, einem Magazin zum Schutz der Natur.

Ich könnte womöglich leichter einen Menschen umbringen, als das Bild eines anderen Menschen ertragen, der einen Menschen umbringt. Wenn man sich selbst dabei sieht, dann ist das noch etwas anderes, weil das Auftauchen der eigenen Person in einem Bild, die Situation verunendlichfacht.

Die Exxon Valdez Katastrophe erschien uns schlimmer, obwohl dabei nur 1/6 des Öls vom Schiffbruch der Amoco Cadiz in der Bretagne entwich. Die Unberührtheit der Bilder Alaskas machte sie schlimmer als die schon so oft photographierte, die durchgefickte Bretagne. Ein Bildproblem.

Nach dem Bilderverbot in den Innenräumen der Kirchen im Protestantismus gab es den holländischen Sturz in die Wirklichkeit. In den holländischen Bildern aus dieser Zeit ist eine merkwürdige Leere, mehr Besitz oder Lexikon als Gefühl - schließlich das Selbstporträt als Ersatz des gekreuzigten Christus (und die Anatomie). Irgendwie waren Selbstporträt und die Landschaft aber nicht genug, sei waren auch nicht mehr so gut verbunden wie in der Renaissance. Es gelang nicht, eine modernere Form des Mitgefühls zu entwickeln - so mußten wohl Worte helfen. Und so entstand der Kategorische Imperativ. Es scheint möglich, daß Kulturen, die das Selbstporträt nicht kennen, den kategorischen Imperativ nicht begreifen können. Uns selbst ist er ja unverständlich genug: wer von uns ist schon in der Lage, ein Selbstporträt von sich zu machen. Und so verwandelte sich der kategorische Imperativ in die Bismarcksche Sozialgesetzgebung, auch die bemerkenswerterweise eine zunächst protestantische Angelegenheit - auch diese ist demnach aus Bildern vom verlorenen Christus hervorgegangen (die Römer hatten Porträts in Form von realistischen Büsten und eine entwickelte, gewaltenteilige Justiz). Und auch die merkwürdige religiöse Rhetorik der Sozialdemokratie hat hier ihre Wurzel, ihr Glaube an das Wort und an die Gesetzgebung, der allzuleicht übersieht, daß es eine vorwärtstreibende Wirklichkeit gibt, die nicht in verbaler Form zu fassen ist. Die merkwürdige Haltlosigkeit und absolute Hilflosigkeit gegenüber emotional aufgeladenen Bildern sind ein protestantischer Zug: man hat die ödipalen Komponenten in den Bildern verloren und ist ihnen hilflos ausgesetzt, weil man sie rational nicht mehr auf sich beziehen kann, und sich doch in jedem ertrinkenden Vogel erkennt.

der gekreuzigte Christus zu wenig für das Rechteck: erst die gewollte Zusammenfassung von 2 Personen erzwang es. Sobald Personen nicht mehr wahllos nebeneinanderstehen wie in den Byzantinischen Mosaiken, sowie sich nicht mehr jeder in der Bibel aussuchen kann, wie sie sich zueinander verhalten. Erst also wenn keine verbale Erklärung mehr gegeben wird, die eine geistige Gruppierung bewerkstelligt, muß das Rechteck beginnen. Wenn Bilder ohne Worte wirken sollen oder eine Gruppe von Personen eine emotionale Einheit bildet, dann wird gerahmt: die Rahmung ist identisch mit einem Gefühl. Und dieses Bild des Gefühls muß abgedichtet werden, neue Elemente könnten, würden es zerstören. So arbeiteten mehrere Generationen von Künstlern an bestimmten Gefühlen, die dann abgeschlossen wurden. Eines war das Gefühlsfeld um die Verkündigung. Zugleich wurde das Gefühlsfeld umschlossen: nichts davon trat an den Seiten aus (höchstens uns selbst tritt es entgegen), es war ein Individuum. Es war lächerlich, es in einem Fenster zu zeigen, es hatte aus sich heraus bereits eine komplizierte Gestalt, die nicht zu fassen war, und so fasste man sie schließlich mit dem Rechteck. Dieses Gefühl war etwas, aber es existierte nur in einem selbst, und in einem gewissen Sinne war man es selbst, weil es ohne intensive Betrachtung nicht existierte. Es war etwas ohne das Wort.

Mutter und Kind, die Verkündigung (bei Lippi noch ein Halbbogen), Maria beweint Christus: durch das Rechteck wurden die Personen zusammengehalten (natürlich auch durch Gesten und Blicke), und die Welt wurde auf diese Komponente reduziert. Alles was außerhalb dieser Welt war, existierte nicht mehr, in dem Rechteck konzentrierte sich eine ganz bestimmte Befindlichkeit. Diese war, diese ist ein merkwürdiger Spiegel von etwas aus uns.

Dabei ist dieses Verlassenwerden von der Mutter oder der Verrat des Vaters zwar eine kindliche Erfahrung, aber sie stellt sich ja erst im Erwachsenenleben dar. Mit 25 habe ich den ersten Nervenzusammenbruch gehabt, und mit 45 den zweiten, mehrere Jahre nach dem Tod der Mutter. Erst im Erwachsenenalter wirkt der ödipale Druck. Es ist das Modell, nach dem man die Welt emotional versteht, eine Art Skala: wieviele Punkte auf der ödipalen Druckskala von 1 bis 10?

Gleichzeitig ist das Rechteck und der gekreuzigte Christus auch ein anderes. Es ist ein erster Beginn von Mitgefühl mit einem anderen Menschen. Es beginnt als Mitgefühl mit der Erscheinung eines Bildes, in dem man sich nach einiger Zeit selbst erkennt. Warum Vater, Mutter, hast du mich in die Welt geschickt? Warum habt ihr mich verlassen.

Dieser gefallene Vogel ist die reale Basis des ödipalen Traumas. Zu seltsam, daß er erst spät im Leben realisiert wird, in meinem Fall mit 25 und 45. Und dann gibt es natürlich den Traum vom Fliegen, ist auch er universal oder nur auf bilderzeugende Kulturen beschränkt?

Und wie könnte das in anderen Kulturen aussehen? Verhalten sich Mütter, die Marienbilder kennen, anders zu ihren Kindern als andere? Eigentlich, denkt man, eher nicht. Oder erkennt man diesen Zusammenhang erst in Bildern, so daß er in der Psychoanalyse zumindest besprechbar wird? So daß man ihn ernst nehmen kann, so wie man Kultur ernst nimmt? Und nimmt man sein Leiden nur ernst, weil man Bilder ernst genommen hat?

Der van Gogh der Selbstporträts ist selbstverständlich Christus - seine Landschaften enthalten dagegen die reine, die emotionale Botschaft, vermutlich eine Form von Verkündigung, eine Form von Mutterliebe und Kindesfall. In der Bewegtheit der Landschaften spürt man, daß da eine Einheit mit den Selbstporträts ist - in den Selbstporträts ist der gekreuzigte Christus mit seinem Heiligenschein, in den Landschaften die Welt, die er verloren hat. Van Gogh hat als Protestant nicht an Marienbilder glauben können, er mußte sich den ödipalen Fall in der Natur suchen. Rembrandt plus den Landschaftsmalern.

Pornografie: Kirberg sagte, daß er sich als Junge an Marienbildern aufgegeilt hätte. Es ist jedenfalls eine Freude, auf pornografischen Bildern den Gesichtsausdruck einer Frau in aller Ruhe studieren zu dürfen, die gefickt wird. Jede Grimasse, die von der Marienverklärtheit abweicht, ist herrlich.

Und dann darf man auch nicht vergessen, daß man sich als Kind nicht nur nach dieser Behütetheit sehnt, sondern auch nach aus einem Ausweg aus all dieser Umsorgtheit. Es gibt ja auch den Wunsch, erwachsen zu werden, und da wird man in seiner Phantasie zum Forschungsreisenden im Urwald, zum Seefahrer und Wüstendurchquerer, und da auf dem Meer und in der Wüste, da erfährt man es, das Reich der Freiheit, die Wüste. Die ist darum so leer, weil die Eltern nicht mehr da sind, da ist man unabhängig und frei, die Wüste ist ein Ort kindlicher Sehnsucht - doch die Freiheit der Wüste ist gar nicht so nett. Die Wüste ist ein entsetzlicher Ort. Da bekommen die arabischen Scheißhaufen am Rand ihrer Straßen sogar etwas Liebenswürdiges, verraten sie doch immerhin, daß Menschen hier gewesen sind - erst, wenn man die Wüstenhaftigkeit der Wüste entdeckt hat, beginnt die ödipale Trauer, beginnt die Sehnsucht nach dem Bild, in der sich die Trauer aufhalten kann. Aber in der Wüste findet man es dann nicht mehr. Vielleicht noch im Meer.

Ohne gerahmte Bilder ist man nur sehr schwer in der Lage, Situationen zu fassen, die etwas komplizierter sind. Es gibt in der Tat so etwas wie ein bildliches Erfassen; aber das protestantische ist in seiner sozialdemokratischen Variante oft zu binär: hier/dort, Krieg oder Frieden; es gibt keinen gerechten Krieg, also darf es nie einen Krieg geben; dort ist Öl ausgeflossen, also muß man Öl verbieten - das ist die Art der Logik, wenn man kein Gesamtbild hat, und noch schlimmer: es ist nicht quantitativ, es ist sogar antiquantitativ.

Das Antiquantitative ist auch der Defekt der bildbasierenden Denkweisen. Es ist unter Umständen katastrophal, wenn es nicht quantitativ gestützt wird. Eine Detailaufnahme darf nicht den Weltüberblick ersetzen. Aber genau das passiert: zu groß ist das Entsetzen über den eigenen Fall.

 

Es gibt noch eine andere Größe, deren Nichthinterfragung uns in Bildern wie selbstverständlich erscheint, die Zeit. Man kann nämlich das Kreuz auch als Pluszeichen begreifen: Leben + Tod in einer Person. Aus dem Bedürfnis gewachsen, Zeit abzubilden. Und das Kern der Zeiterfahrung ist wohl (neben dem, was man beim Ficken erfährt) der Übergang vom Leben zum Tod. Bei Christus weiß man oft nicht, ob er noch lebt oder schon tot ist. Ein Zweiphasenbild in einem. Und die Verkündigung? Auch zwei Bilder in einem, eins links, eins rechts, und immer wieder mußte Philipp an Uccellos Bild von der Sintflut denken, an seine entschlossene Perspektive in einem irrsinnigen Raum: die Fluchtlinien schießen wie Pfeile ins Unendliche. Links ist die rechte Seitenwand der Arche, rechts die linke Seitenwand, als wäre das Bild der Rest eines wildgewordenen Panoramas: dazwischen zwei Zeitzustände, der eine zu Beginn der Sintflut, der andere danach - in der Bildmitte gehen sie ineinander über. War das Bild nicht nach oben rund? Oder hing ein halbrundes darüber? Welche Unsicherheit in Bezug auf den vereinheitlichten Raum und die vereinheitlichte Zeit und die Funktion der Trennungslinie zwischen aufeinanderfolgenden Ereignissen. Ein Bild von etwa 1450 - und war es nicht Uccello, der in späteren Jahren immer ausgelacht wurde, weil aus ihm nichts geworden war? Nachts soll er immer aufgewacht sein, um seiner Frau zu sagen: "Welch ein wunderliches Ding ist sie doch, die Perspektive!" Recht hatte er - am Ende beschäftigte er sich mit Sechzehnecklern (oder wie immer sie hießen) und ähnlichen Raumkörpern, auch mit den Oberflächen von Diamentenschliffen, die er in den raffiniertesten Perspektiven zeichnete. Da war er ganz Ingenieur. Dieses Bild von der Geschichte der Sintflut aber, das war ein wirklich Merkwürdiges, dachte Philipp.

 

Der Kampf um die Inhalte des Rechtecks (und selbst die Form der Begrenzung) war zu diesem Zeitpunkt also noch keineswegs beendet war (von Michelangelo, Raffael und Botticelli gibt es bis 1530 ehrgeizige Rundbilder, bevor diese Form sich in Manieriertheiten verlor; das Geschützte der Eiform war mit dem endgültigen Sieg der Vorstellung von der Kugelgestalt der Welt unterlegen). Nicht einmal die Einheit der Zeit in einem Bild war klar, wie wir in Uccellos Geschichte von Noah zu sehen war. Wir haben da in einem Bild zwei Zeiten. Daraus, aus dem Sich-Durchdringen verschiedener Bilder und Zeiten, hätte Interessantes folgen können: In den Mosaiken war das angelegt. Bevor die Szenen voneinander getrennt waren, konnte man sie auch aufeinander beziehen - dann entschloß man sich, in einem Bild nur einen einzigen Zeitpunkt zuzulassen. Das Rechteck war auch ein Verschluß gegen das Eindringen von anderer Zeit. Das Bildinnere bestand bald aus einem zusammenhängenden Ort an einem festen Zeitpunkt. Uccello ist ohnehin eine eigenartige Gestalt, dem seine Zeitgenossen vorwarfen, daß er sich in Konstruktionen verzettelt und nicht das eigentlich Wesentliche seiner Epoche erkannt hätte: die Herstellung der Innigkeit des Ausdrucks, in dem wir uns erkennen wollen. Er hatte sich so durch eigene Schuld ins Verderben gebracht hätte, während andere Künstler angesehen und vermögend wurden. Anscheinend hingen Innigkeit des Ausdrucks und Rechteck auf geheimnisvolle Weise zusammen. Weder das Rechteck hat Uccello von innen heraus akzeptieren wollen, noch den nunancierten Ausdruck mit seiner nuanciereten Farbgebung. Seine Bilder und Paletten wirken gegenüber denen Pieros beispielsweise ausgesprochen grob, es war, als ob die Körper voneinander getrennt bleiben sollten. In seiner Zeichnung war er kein Verschmelzer. Seine Bilder waren auch nicht richtig schön, Philipp mochte sich Reproduktionen davon nicht aufhängen. Es gab etwas merkwürdig Seelenloses um ihn, dem er aber immerhin Ausdruck zu geben verstand. Er, der sich in seinen späten Jahren mit Vielecklern und ihrer perspektivischen Abbildung beschäftigte, wirkt auf uns im Vergleich zu seinen Zeitgenossen ähnlich seelenlos wie ein Computerkünstler.

Aber dann war er doch auch wieder mehr, vor allem in seiner Zeitvorstellung: er behielt von dem Nebeneinander des Verschiedenen einen merkwürdigen Traumraum bei. Die Schändung der Hostie besteht aus 6 nebeneinanderstehenden Bildern, die durch rote Vertikalen aus gedrechselten Holzsäulen voneinander getrennt sind (nicht also durch Rechtecke, die Zeit schon in der oberen Reihe von S. Apollinare Nuovo in Ravenna vereinheitlichen). Die vier rechten werden durch eine Landschaft verbunden, die sich hinter den Säulen sich kontinuierlich durch die verschiedensten Zeiten fortzusetzen scheint, während einzelne Gebäude andererseits plötzlich an einer dieser Säulen enden. Die beiden linken Bilder sind dagegen bloß konventionelle Innendarstellungen von Zimmern, wie in einer Puppenstube. Auch in diesem Bild ist ein sehr merkwürdiger Raum entstanden, in dem Raum und Zeit sich in einem unentwirrbaren Mischmasch durchdringen.

Mit dem Rechteck kann das Nebeneinander der Welt in ein Nacheinander verwandelt werden, wobei man die Phasen einzeln betrachtet. Und umgekehrt: das Nacheinander von ausgewählten Weltkonzentraten kann neben- oder untereinander gehängt werden, das ist dann bereits Film, oder eine Vorstufe davon, inclusive Schnitt, z.B. die Phasen von Bibelereignissen in S.Apollinare Nuovo.

Der Zensor steht immer gegen den Agitator (im Golfkrieg z.B.wo jeder kleine Journalist Politik mit Leichen machen will, und sich darüber beschwert, daß sie ihm nicht frei Haus geliefert werden).

Christus in seinem Leiden noch mäßig, dagegen werden seine beiden Mitgekreuzigten oft mit deformierten unmäßigen Verdrehungen dargestellt, die das Leiden der Normalen beschreiben, nicht das maßvolle Leiden in Gott, das wir uns zum Vorbild nehmen sollen. (Und das auch die im Öl verendenden Vögel haben, die in aller Ruhe sich des Ölfilms zu entledigen suchen, der ihren Tod bedeuten wird, in aller Gelassenheit beinahe, als wäre es ein normales Stück Schmutz.) Und so ist es ja auch, wer will das Elend von Vögeln messen, die in einem normalen Sandsturm untergehen, oder bei einem plötzlichen Schneeinbruch verhungern und erfreieren, und überhaupt: was wissen wir schon über den ganz normalen Tod von Tieren? Sie alle leben ja nur wenige Jahre und vereenden, nachdem sie versucht haben, sich fortzupflanzen, und: wer stellt schon die Toten eines Krieges in Relation zu den gewöhnlichen Toten. Man muß sich daran erinnern, daß in Deutschland jedes Jahr eine Million Menschen sterben, die meisten aus natürlichen Ursachen, Krebs, Altersschwäche, was wissen wir schon über das millionenhafte Sterben unter uns. Im zweiten Weltkrieg müssen zusätzlich zu den - wie man sagt - zehn Millionen deutschen Kriegstoten sechs Millionen Deutsche an "normalen" Todesursachen gestorben sein, das sagt einem die Statistik. Werden sie bei den zivilen Opfern mitgezählt? Man muß das Entsetzen über einzelne Bildern vom Sterben eigentlich an diesem gewöhnlichen Sterben messen, das fällt aber schwer, denn das gewöhnliche Sterben begegnet uns nur bei den Berühmten und in der eigenen Familie - das gibt für Deutschland einen subjektiven Eindruck von vielleicht tausend jährlichen Toten. Gemessen daran ist natürlich jeder einzelne Verkehrstote schon eine Katastrophe. Und jeder einzelne Kriegstote noch mehr. Immer weniger kann ich auch nachvollziehen, wieso der Tod eines fünfzigjährigen Menschen weniger schlimm sein soll als der Tod eines kleinen Kindes: vermehrungstechnisch ja, karrieretechnisch ja, aber ideentheoretisch: nein, nein, nein.

Christus leidet nicht maximal. Die Mitgekreuzigten werden oft verzerrter dargestellt, das Akzeptieren des Ratschlusses Gottes läßt das Leiden erträglich werden. Die Mitgekreuzigten bilden das Schauspiel ungepufferten Leidens: das passiert mit dir, wenn du dich nicht dem Höchsten ergibst, auch das ist immer noch schlimm genug, aber doch netter anzuschauen.

Die grauenhafte Leere protestantischer Kirchen, nachdem die Bilder entfernt waren. Und das Entsetzen, das mich überkam, als ich die gekalkten Wände in Schwerin und Greifswald sah, wo sogar die Ziegelsteinfugen fett übertüncht wurden und jeder Mauerwerksrhythmus verloren ging: die plötzliche Leere - ein Schock. Was sah die Welt plötzlich: sich selbst in den anderen? nicht nur in Christus? war das die Wurzel des kategorischen Imperativs und der Sozialgesetzgebung?

Auf manchen holländischen Bildern sieht man diese Leere - die Rekonstruktionen der DDR, die mir so widerlich vorkamen, sind womöglich also korrekt. Sogar die Architektur ist weggetüncht worden, dadurch bekam Gebäudeinnere eine widerliche Kalk-Flachheit. Etwas Leichenhaftes.

die Landschaftsmaler Jan van Goyen 1596-1656 und Jacob van Ruisdael 1629-1682, dramatisch und sachlich, die Photographen.

Die merkwürdige Verschachtelung der Zeitebenen in einem Bild ist auch zu Zeiten Botticellis (1445-1510) noch vorhanden. In seinem "Leben des Heiligen Zenobius" sind drei Phasen aus dem Leben des Heiligen auf einer Bildtafel zu sehen, als erstes Zenobius renounces his intended bride and departs, darauf sieht man ihn gleich zweimal: einmal als jemand, der die Braut anschaut, und unmittelbar daneben als jemand, der davongeht. In einer zweiten Phase, eigentlich einem zweiten Bild, wird er auf der Straße getauft, während zugleich im danebenliegenden Hausinneren seine Mutter getauft wird. Und in einem anderen Raum des gleichen Hauses hat er bereits einen Bart und wird zum Bischof von Florenz geweiht.

In den Miracles of Saint Zenobius, ebenfalls von Botticelli, sieht man konventioneller nur drei Stationen des Heiligen: 1. Zenobius excorcises two men cursed into gnawing their own flesh 2. he restores life to the son of a noblewoman 3. he restores sight to a blind beggar, das alles auf einem einzigen Marktplatz. Das war die übliche Verschränkung eines Illusionsraumes mit verschiedenen Zeitebenen, die dann mit den Holländern verloren ging. Einheit von Raum und Zeit, war von da an die Devise.

Ein anderes Motiv, bei dem Raum und Zeit durcheinandergeraten, sind die sogenannten Geburtsträume, zum Beispiel der Geburtstraum der Mutter von Sixtus des Vierten, die auf einem Bett liegt: auf einer Wolke, die von ihrem Kopf aufsteigt, ahnt sie die Lebensgeschichte ihres zukünftigen Sohnes. Ein Fresko im San Spiritu Hospital, das der Papst später bauen ließ, ohne Rechteckrahmung, aber mit sehr komplizierten raumzeitlichen Verschachtelungen, ein Traum eben, der Sixtus in die Nähe von Christus rücken sollte. Ein Motiv, das man zurückverfolgen kann auf Franceso Trainis Geburtstraum des Domenico in Santa Catarina in Pisa, wo ebenfalls eine Mutter im Bett liegt: über dem Bett schwebt ein Hund mit Fackel (ein mit dem Dominikanerorden zusammenhängendes Symbol), vor dem Bett ein schreiendes Kind, was wohl die Nachgeburtstraumata des Kindes beschreibt, das sich mit Händen und Füßen sträubt, ein Heiliger zu werden. Das war lange vor Boticelli, damals gab es noch gar kein Rechtweck, das Bild wurde wie der Blick durch ein Fenster behandelt. Dieses wiederum ein kompliziertes Muster von Spitzen und Rundungen, wie es sie in manchen gotischen Stadtpalästen gab. Oben und unten Spitzen, links und rechts Ausbuchtungen, an den 4 Ecken ebenfalls Ausbuchtungen.

Natürlich identifizierte Philipp sich mit dem jungen Jesus an Marias Brust und natürlich sah er in Maria seine Mutter, aber in dem gekreuzigten Christus konnte er sich wohl nur zum Teil erkennen, und das war interessant, wie sich dieser Teil von Tag zu Tag änderte. Vor dem langen Fall des jungen Vogels versuchte er sich natürlich zu retten, und wenn es Perversion oder Sünde waren, die ihm beim Überleben halfen, dann nahm er eben den Weg von Perversion und Sünde - allerdings konnte er sich in Christus immer noch als Idee erkennen, der Idee, die er einmal gewesen war, und die er hätte ausführen können, die er hätte zu einem Ende bringen können, als Guter und Gerechter, so war er Christus und Christus war gleichzeitig der andere, der er nicht sein wollte, und die anderen standen neben ihm, die Mitgekreuzigten und plötzlich dachte Richard, da begann das Mitgefühl, und der Mensch Christus, der man gewesen sein könnte ... und die Banditen, die das gleiche Schicksal erlitten und sich in noch größeren Qualen wanden als man selbst (als Christus, der man nicht war). Auch die hatte irgendwann eine Maria gehalten. Man hatte Bilder gebraucht, um diese Art von Übertragung des Mitgefühls erzeugen zu können. Um sich selbst in den anderen überhaupt wahrnehmen zu können. Als dann in den protestantischen Kirchen die Wände weiß wurden und die Identifikation mit den Bildern ausblieb und mit ihr die Übertragung des Mitgefühls auf die Mitgekreuzigten über den Chriustus, der ich hätte sein können, entstand eine Leere, in der wohl das Unternehmertum blühen konnte, aber eine enorme charakterliche Qualität als Idee abhanden gekommen war. Und so waren es die Protestanten, die das in Worte verwandeln mußten, was die Katholiken mit den Bildern schafften. Und so gelangten sie schließlich zum kategorischen Imperativ, um auch eine Art von mitempfindener Moral zuhaben. Den konnten sie sich dann in Form eines Kalenderspruchs an die Wand hängen, er war ebenso handlich und bedeutsam und zugleich nebensächlich wie die Bilder in den katholischen Kirchen - gebetet wurde zwar zu Christus aber geschielt wurde auf Maria und Jesus, mit ihnen wurde mitgefühlt. Kühne Bögen, dachte Richard, zu kühn, geradezu gotisch: die Bismarcksche Sozialgesetzgebung als nächster Schritt fiel ihm da ein, Kompromiß von Marxschem und Kantschen Moralismus - auf einmal machte selbst das plötzlich Sinn. Es war schon merkwürdig, daß in protestantischen Ländern erst diese gnadenlose Erwerbstätigkeit entwickelt und ihr durch die Sozialgesetzgebung die Brutaliät dann wieder genommen wurde.

Die energische Negation und ihre geometrische Umsetzung als gerade Linie - Der Schnitt durch ein Stück Materie oder Welt, die Lanze, das Schwert, der Tod, die Trennung, die Zerlegung eines Ganzen in Teile. In ein Hier-ist-Etwas und ein Da-ist-dieses-Etwas-nicht-mehr (das ist die Negation), stattdessen ist dort etwas anderes. Dazwischen die Trennlinie, und die unbeschreibliche Region, wo etwas NICHT mehr ist. Die Welt, die aus Versammlungen solcher Negationen besteht (unsere Welt), und aus dem seltsamen Konzentrat von einem ins Positive, ins Bild der Jungfrau Maria - in alle Richtungen abgeschottet durch das Schwert der Negation. Die vielen Negationen um uns herum: Lanzen der Erzengel.


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Reste:


die Filme von Heinz: die Natur ist der Feind, alles von Menschen geschaffene Freund.

Husserls Beschreibung vom Weg von der Galileiphysik her nicht brauchbar, denn: in den Naturwissenschaften werden mathematische Systeme gesucht, die Darstellungen in der Wirklichkeit haben, es findet sozusagen eine Benotung der Ereignisse der Logik statt. Auch hier Rechteckdenken, verschiedenes ausprobieren, keine gotische Systematik.
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und die amerikanische, romantische Version: das gestärkte Ich, bedroht vom Zerfall, zeitlich und gesellschaftlich
wesentlich: der Zeitaspekt, auch schon bei den Spielfilmen

Konservierte Musik hat immer etwas Nicht-Richtiges, das durch die Idee des Senders manchmal aufgefangen wird, und das gilt auch für Film, der nur im aktuellen Kinoerlebnis und im Fernsehen richtig erscheint.

von den Rundbögen Albertis zum Spitzbogen Spenglers

Urtrauma dieser nicht erwachsen werdenden Männer ist der Abschied von der Mutter - meistens geschieht er ja freiwillig, deshalb wird er im Nachherein, wenn sich das Alleinsein als Qual bemerkbar macht, als doppelte Bestrafung begriffen. Die Filmsequenz, die ich zeigen möchte, beschreibt diesen Abschied, die Trennung von Mutter und Kind in einer Parallelmontage. Da sitzt die Mutter hilflos ohne Kind, in der Kinderphantasie selbst zum Kind geworden, und der zum Mann werden wollende Knabe wandert hinaus hinaus in die fremde Welt, die er als Wüste erfahren möchte: Wüste ist das, in dem es keine Erwachsenen gibt - weit und breit kein Mensch, der einen beobachten kann. In der kindlichen Phantasie ist ja ein Marsch durch die Wüste gleichbedeutend mit dem Teilhaben an der Erhabenheit des Erwachsenseins.

"Der Weg stirbt, sagte jemand", heißt es in der auf den Abschied von der Mutter folgenden Sequenz. Selbstverständlich trägt einen der Weg nicht, auf dem man die Flucht von der Mutter als möglich vor sich gesehen hat. Aber das ist trivial, denn so wie sich in Nietzsches Satz von der wachsenden Wüste die maximalste Botschaft des letzten Jahrhunderts äußert, so stellt unser Satz die Minimalbotschaft dieses Jahrhunderts dar. Der Weg ist der Weg, den das Individuum mit einiger Berechtigung als seinen eigenen ausgeben kann - diese Art Weg ist in diesem Jahrhundert gestorben, er wurde verlächerlicht angesichts der (um es einmal so billig zu sagen, wie es geschehen ist) Autobahnen der geschichtlichen Prozesse, die individuelle Lebensplanung zur Farce haben werden lassen.

- trau keinem unter 45! denn im Zweifelsfalle wird er sich was vormachen und dich anlügen, um sich mit einer mehr oder weniger halbgaren Idee Platz zu verschaffen. Aber in dieser Gnadenlosigkeit gibt es auch Gutartigkeit, solange der Jugendliche sich im richtigen Licht beleuchten will, dort fühlt man sich gut aufgehoben. Meistens ist es die Welt der schwächlichen Jugendlichen, die sind gutartig, wie die Sonne, die einem das Leben wärmt.

Man muß sich fragen lassen, inwieweit in todverdrängenden Gesellschaften wie unserer das Mitgefühl mit Bildern, die sagen wir mal fünf oder zehn Tote enthalten, überhaupt eine politsche Reaktion auslösen darf - wem ist schon klar, daß in der Bundesrepublik jährlich eine Million Menschen eines sogenannten natürlichen Todes sterben, ohne daß Bilder davon existieren. Es ist beinahe so, als ob sich das Bild eines einzigen Toten in eine Million Tote verwandelt, nur weil es von einer Million Leuten gesehen wird.

Von sadistischen Vorstellungen beherrschte Filmmacher wie Eisenstein, die sich (womöglich deshalb) einer großen politischen Idee unterordnen zu müssen glaubten, nutzen diese Muster der ikonographischen Übertragung exzessiv, und entwerteten so ihre Kunst - ich erinnere an das Pferd auf der Ziehbrücke aus den "Letzten Tage von St.Petersburg" oder den die Treppe hinunterstürzenden Kinderwagen im "Potemkin". Mir wird schlecht, wenn ich in Feiertagsreden von der sogenannten großen Filmkunst in der Tradition Eisensteins höre: nicht weil ich Sadismus per se unerträglich finde, sehr wohl aber tue ich das gegenüber Sadismus im Dienst einer Ideologie. Ich fühle mich eher einer kleinen Filmkunst verbunden, die solche dialektischen Monströsitäten gar nicht erst zu gebären braucht. Vielleicht müßte man den Bildproduzenten in ihrem Krieg gegen unsere Gefühle tatsächlich irgendeine Art von Zensur auferlegen, die sehr viel schärfer ist, als die öffentliche Zensur, gegen die sie so gerne polemisieren - ich möchte allerdings diese Zensurinstanz nicht sein.

Interessant wäre auch ein Vergleich der Mitgefühlsstrukturen von bildproduzierenden und bildverbietenden Kulturen wie dem Alttestamentarismus und dem Islam;

Ich merke, daß dieser Gedanke von der Verwandlung des Lebens in Belletristik besser erläutern muß. Ich meine damit nicht die nachträgliche Verwandlung in Belletristik, wie sie dieser Text etwa darstellen könnte, ich meine damit etwas viel Entscheideneres, ich meine die Verwandlung des Lebens in Belletristik in den Momenten, wo das Leben entsteht. Bei den handelnden Individuen nämlich, in diesem Falle bei Joao Maroio und mir, in der Art, wie wir uns gegenüberstanden, wie wir wünschten, unsere Begegnung in ein belletristisches Ereignis zu verwandeln. Und, das ist der Gedanke, daß dieses Bedürfnis nach Verwandlung des Lebens in Belletristik eine enorme Gestaltungskraft im Leben der Individuen bildet; daß es mir inzwischen zuweilen sogar wie das Hauptprinzip vorkommt, nach dem die Einzelnen ihr Erleben in Glück zu verwandeln versuchen, eine Produktivkraft bei der Gestaltung des eigenen Schicksals, deren Fütterung eine der Ursachen des Bedürfnisses der Menschen für belletristische Erzeugnisse ist. Wie gestalte ich eine Begegnung, das könnte die belletristische Struktur sein, die meiner Begegnung mit Joa Mario zugrunde lag. Natürlich muß man sich bei der Gestaltung einer Begegnung richtig beleuchten - diese Beleuchtung fand in unseren folgenden Gesprächen statt.

Wie kommt es, daß man Vertrauen darin legen kann, daß jemand ein Bild entziffern wird, das man entworfen hat, und warum wird dieses Vertrauen oft auch enttäuscht?

Vielleicht sind Bißhemmung und Psychoanalyse zwei Seiten derselben Medallie. In Arabien ist Psychoanalyse sinnlos.

Diese merkwürdige Sehnsucht danach geliebt zu werden, ohne daß wir es verdient haben, um unserer selbst willen. Und nicht weil wir nett waren oder etwas Besonderes geleistet haben. Bei Jesus noch verschärfter: er war nett und wurde nicht geliebt!

Eine sehr merkwürdige Sache, dann wäre die Verkündigung Gabriels an Maria eine Verkündigung einer neuen Sache, eine Verkündigung der Bilder, das würde die merkwürdige Klarheit der perspektivischen Konstruktionen erklären, die die Künstler damals dieser Verkündiguung widmeten. Denn irgendwie mußten sie gefühlt haben, daß mit dem Mitfühlen mit Bildern eine neue Kategorie in die menschliche Wahrnehmung eingetreten ist, wäre das ein unheimlicher Gedanke?

Musik: immerhin gibt sie einem eine Vorstellung davon, daß Zeit auch anders strukturiert werden kann als in diesem gestaltlosen Dahinfließen, dachte Richard, nachdem er tagelang auf dem Bett vor sich hingebrütet und sich dabei alle paar Stunden einen abgewichst hatte. Ja, was er hier machte, war das absolute Gegenteil von Musik - und als er einmal etwas mit Franka anstellte, hatte er Angst, dabei Musik anzustellen. Als ob sich, wenn er die Musik jetzt hassen würde, ihm das Leben verschließen könnte. Aber dann nervte sie gar nicht besonders, sie schien nur so gehaltlos, ein Stück für Geige und Klavier, warum sprachen die beiden überhaupt miteinander? Aber dann ermutigte sie ihn anscheinend doch. Die Vermessenheit, daß man Kunst nach dem beurteilt, was sie in einem auslöst, dachte er, als er wieder aufstand: es kam einem so selbstverständlich vor, daß man selbst das Zentrum des Kunsterlebens war, und so wahnsinnig.

Unerreichbar natürlich die Künstlerebene, deren belletristische Qualität durch die kreative Substanz der Beteiligten natürlich nicht zu überbieten wäre, wenn - ach! diese Substanz nur abbildbar wäre. Denn es ist eins, das Leben, mit Belletristik zu füllen, und ein anderes, diese belletristischen Figuren dem Verfall der Zeit zu entreißen und der Nachwelt als leuchtendes Beispiel zu erhalten.

Noch eins, bevor ich jetzt fortfahre: es betrifft die Bedeutung des Wortes ICH. Ich werde es sehr häufig verwenden, aber Sie werden bemerken, daß ich es immer von meinem Manuskript ablesen werde. Ich werde mich hüten, zu improvisieren. Dieses Ich, von dem Sie hören, ist ein aufgeschriebenes. Eigentlich habe ich es sogar als er und Philipp beschrieben, in manchen Teilen auch als Richard. Ich meine damit, daß die Person, die als Ich im Text herumläuft, eigentlich Richard oder Philipp heißt, weil aber viele hier im Saal wissen, daß die Erlebnisse, die geschildert werden, nahe an meiner eigenen Wirklichkeit sind - ich habe zum Beispiel den Film tatsächlich gemacht, den Philipp als seinen eigenen beschreibt - werde ich für heute Abschied vom Er nehmen und zum schlichten Ich zurückkehren, auch wenn es etwas verlogen ist. Nein, es ist kein aufrichtiges Ich, es ist ein von einem zugespitzt empfindenden und handelndem Er zurückverwandeltes belletristisches Ich oder um es kurz zu sagen: im folgenden geht es nicht um Bekenntnisse, sondern um die belletristische Zuspitzung und Idealisierung eines subjektiven Desasters. In diesem Sinnne also bin ich jetzt Richard, Philipp oder eben das "Ich", das diesen Film, der eigentlich nur Belletristik ist und den es eigentlich gar nicht gibt, erfunden oder gemacht hat, und eine kurze Sequenz daraus erläutert, und im übrigen existiert Erinnerung ja auch überhaupt nicht, jedenfalls nicht als vitales Element, oder nur als belletristisches Rudiment...

Er mußte aufhören mit dem Bildermachen. Jedes Bild erregte in seinem Kopf einen neuen Schwall von Worten, die er nicht mehr zusammenhalten konnte.

Das traurige Mißverhältnis zwischen erwarteter und tatsächlicher Wahrnehmungszeit bei gemalten Bildern, man guckt sie ja kaum an, nur ab und an gibt es eine etwas höhere Aufmerksamkeit, ganz selten auf der Höhe der Aufmerksamkeit, die eigentlich verlangt wird. Ein Maler sagte zu Richard: wenn du was schreibst, wird das wenigstens gelesen, denn man liest ja schließlich nicht, um etwas nicht zu lesen. Immerhin bilden sich Sätze und in den Sätzen zumindest etwas gedanklich Zusammenhängendes, auch wenn es nicht unbedingt das ist, was man als Autor angepeilt hat. Das schien zu stimmen. Aber dann hatte Richard gerade einen Gedichtband von Benn durchflogen, kaum anders als er Bilder in einem Museum betrachtete. Die Gedichte waren für ihn wie Bilder gewesen, die er so im Vorübergehen anblickte, ab und zu mit intensiveren Blick. Die Kriegsgedichte interessierten ihn am meisten, da war der große Ton schon weg.

 

Ein Bilderverbot mußte man aussprechen, ganz radikal, die Menschen waren dem Bildangebot nicht gewachsen. Es verleitete sie zu einem ewigen Interpretieren, und das auf Grund von ganz unzulänglichem Wahrnehmen. Das Bild von drei erstickenden Vögeln in einem Ölfeld löst mehr in einem aus, als die Information "800.000 Tote im Iran-Irak-Krieg", das ist doch nicht normal. Statt Nachrichten zu liefern, stoßen die Bilder in die eigene psychoanalytische Struktur hinein. Die Journalisten werden Psychotherapeuten, die uns die Welt ganz genau erklären können. Ein gemeine Scharlatanerie hat sich da ausgebreitet, ein entsetzliches und verantwortungsloses Geschmiere von festangestellten Redakteuren, die die ganze Welt mit ihren dämlichen Interpretationen überziehen, ohne jede Legitimation, von niemandem gewählt, niemandem verantwortlich, und sie kommen sich vor als die eigentlichen Politiker. Und immer seltener liefern sie die Fakten, die Grundlage der Politik sein sollen, und sie verstehen sie auch nicht, denn für wesentlich halten sie nur starke Bilder, in denen Manipulationspotential lauert. Zensur am Golf schreien sie, und erwarten auch noch, daß ihnen das Manipulationsmaterial frei Haus geliefert wird, und sie selbst mit ihren 8.000 Mark Festgehalt nichts riskieren müssen. Dabei wollen sie nur selber zensieren, durch ihre Manipulationstricks mit den Toten, Saubande, am besten Tote mit romantischer Musik unterlegt, und dann gewinnen sie einen Preis auf einem Gewerkschaftlerkongress gegen den Krieg. Und danach verdienen sie dann 9.000 Mark im Monat. Sich selbst Bilder zu beschaffen? Ich bin doch nicht blöd sagen sie, mit meiner pazifistischen Grundhaltung brauch ich nichts zu riskieren. Jedes Weltuntergangsszenario von irgendwelchen Experten bringt 200 Menschen für 14 Tage Lohn und Brot, das ist die Realität. Und weil das so ist, werden diese Experten auch nie zur Rechtschaffenheit gezogen, sie könnten ja noch einmal so eine geniale Idee haben. In einer anständigen Gesellschaft müßte ein Professor, der so ein Szenario propagiert, seinen Job verlieren, wenn sich es sich als Irrtum erweist. Das würde zumindest die Formulierungen etwas präziser machen. Krieg am Golf: es könnte eine neue Eiszeit geben! kein Problem! Profiteure an Katastrophen, am schlimmsten die Friedensforscher, die an den Rüstungsetats herumschmarotzen, und ein so entsetzliches Nichtverstehen von miltärpolitischen Gemengelagen haben, daß es erschüttert. Moral ersetzt dabei immer Faktizität, und Bilder unterstützen genau diesen Prozeß. Dabei bedeuten drei tote Vögel nichts, man muß das ganze Ölfeld sehen, ujnd wie es sich auf dem Meer ausbreitet. Genauso wenig bedeutet die Ruine eines Hauses mit zwei Toten als Maß der Unmenschlichkleit einer Bombardierung, beweiskräftig sind nur Totalen von einer Stadt, wie die Aufnahmen vom Berlin des Jahres 45, die erzählen was vom damaligen Terror. Das normale Katastrophenbild sagt maximal etwas über 300 Opfer (und da müssen die Leichen schon ganz schön gestapelt sein) - und leider sind dreihundert noch so unschuldige Opfer in einem Krieg, der 100.000 Tote kosten wird, kein wesentliches Argument (außer für Journalisten die sich einen Carl Grimme Preis ergattern wollen). Richard bekam nackte Wut auf diese aufgeblasene Verlogenheit. Ja, wollte er denn diesen Krieg? Ja, sagte er sich, das war ein gerechtfertigter Krieg, und es war gut, daß man so etwas einmal erlebte, schon um ein Korrektiv zu dieser Expertenschmarotzergesellschaft zu haben. Und dann war er ja schließlich kein Politiker, er brauchte das nicht zu verantworten. Diese kostbaren Leben auf den Bildern, dachte er wieder, dabei hatte Aids von 1980 bis 1990 auch einhunderttausend Tote gekostet, und das Erdbeben in China 1986 in einer einzigen Nacht 600.000, da hatte kein Hahn nach diesen Toten gekräht. Und dann die mohamedanischen Fundamentalisten, da gab es ein ganz anderes Konzept von Tod, das war nämlich eine Kultur mit Bilderverbot, Hussein konnte da sofort sagen: eine Zivilisation, die nicht in der Lage ist, eine Millionen Personen für ihre Ziele zu opfern, ist zum Untergang bestimmt. Und wenn sie könnten, dann würden sie diesen Untergang der Heidenzivilisation auch bewerkstelligen. So sah das in Richards Kopf aus, und all diese Jobs, die so ungefährlich waren, die waren ihm verschlossen.

Die Erlaubnis, frei Bilder zu machen und die Fähigkeit, mitleidslos zu töten, schienen nicht miteinander vereinbar zu sein. Wie kam das? War das ein christliches Problem?

Der Krieg der Bilderzeuger gegen die Bildverweigerer: USA - Iraq. Die Bilder zielten auf ein verstärktes Mitempfinden mit dem Leiden Christi. Marias Mitleiden war sozusagen das Modell für den Zuschauer. Die Marienverehrung ist so an den Bildherstellungs- und Wahrnehmungsprozeß angekoppelt. Das ist bis heute eine Komponente des konventionellen Bildes geblieben: das Mitleiden mit einem, der sich im Elend befindet. Aber dieses Mitleiden ist sehr abstrakt, ein Mitleiden beinahe mit Jesus, vielleicht auch auf das Bild beschränkt. Es entsteht kein eigentliches Mitgefühl mit dem im Elend Seienden, es ist ein abstraktes Mitleiden. Ein Mitempfinden ohne Mitleid, das weniger zum Almosengeben verleitet als zu einem Gefühl von der eigenen Leidensfähigkeit. Eine Wurzel dieses Mitleidens ist das Mitleid mit sich selbst als kleinem Kind, als man ähnlich wehrlos war. Über seine Kleinheit jammernd entdeckt man sie überall in der Welt. Das ist nicht von vornherein schlecht, es läßt einen oft vorsichtiger mit anderen umgehen, so wie es sich im Kantschen Imperativ äußert. Dies war zumindest seine Entdeckung wert. Also eine Kopplung von der Idee der Jesus und Marienbilder zur Protestantischen Ethik? Diese Ethik wäre das verbale Äquivalent dieser Bilder, sozusagen im Tausch für das protestantische Bilderverbot in den Kirchen? Liegt in dieser verbalen Transformation der Christusbilder die Wurzeln für eine Sozialgesetzgebung, die den protestantischen Ländern ja leichter gelang als den katholischen? Aber man darf nicht vergessen, daß dieses verbale Mitgefühl Transformation einer schon entstandenen Empfindlichkeit war, die unserer These zufolge in den Bildern verwurzelt war (verwurzelt war ist wohl falsch, verwurzelt in unserm Bedürfnis nach Mitgefühl in der Kindheit, das nicht genügend befriedet wurde, und das in den Christusbildern sich selbst als ungeliebten Sohn transformieren durfte). Nach meinem Eindruck hat der Islam mit seinem Bilderverbot dies nicht zu erzeugen verstanden oder dies sogar nachdrücklich nicht gewollt. Der Weg ging hier vom Wort zum Ornament - Mitgefühl scheint dem Islam so fremd geblieben zu sein wie den heidnischen Römern. Die Almosenpflicht scheint dem Islam als in diese Richtung zielende Komponente zu genügen. Das ist sehr pragmatisch und womöglich wahrer als das christliche Mitgefühl, in dem ja auch ein gutes Maß an Verstellung sich abspielt. Inzwischen hat sich das Betrachtungsmodell von Bildern allerdings verselbständigt, es gibt inzwischen ein als wahr empfundenes Mitleiden mit Bildern von sterbenden Tieren, ja sogar von Landschaften, das jeden nur erdenklichen rationalen Grund sucht, um sich für wirklich zu halten. Die Wurzel ist immer das von den Eltern (also von Gott) verlassene Kind, das sich in dem Tier wiedererkennt oder in einer Landschaft, die durch Menschen mißhandelt wird.

Möglicherweise ist bei Umweltverschmutzung und Tieren das Mitleiden mit den Bildern sogar größer als das in einer realen Situation. Ich selbst kann in größtem Dreck leben, ohne mich furchtbar zu fühlen, bin aber angewidert von Bildern, die meine Lebensverhältnisse beschreiben. Das wäre ein sehr interessanter Punkt. Ich halte es für möglich, daß ein Schlachter weint, wenn er Bilder von einem Schlachter sieht, der Tiere schlachtet. Es ist möglich, daß das Bild weitgehend abgetrennt von der Wirklichkeit existiert und bei so kompliziertem Situationen Sentiment oft eine Projektion ausschließlich auf das Bild ist. Denn faktisch wissen wir schon, daß wir Tiere umbringen müssen, um leben zu können, und im Zweifelsfall wird jeder ein Huhn umbringen können, und zwar ohne Tränen. Aber Bilder davon können wir nicht ertragen, leichter könnten wir einen Besuch im Schlachthof ertragen oder einen Stierkampf, als Bilder davon. Sehr merkwürdige Sache. Die SS-Leute konnten leichter in den Konzentrtationslagern arbeiten, als Bilder davon sehen. Sehr merkwürdig, aber es scheint mir wahr zu sein. Arabern dagegen ist dieses Auseinanderfallen von Bild und Wirklichkeit meist unverständlich. Schon das Mitleiden mit Tieren oder einer Landschaft ist wirres Zeugs, das man, wird es angetroffen, ausnutzen kann.


Die Katastrophe bei Bildern und ihrem Erleben ist ja, daß man sie auf sich bezieht (jedenfalls da, wo Emotion stattfindet). Für den Protestanten ist inzwischen jedes Landschaftsbild,jede zerstörte Brücke ein Angriff auf die eigene Person. Und die eigene Person ist leider so unermeßlich, daß Entscheidungen auf Grund der Emotionalität von Bildern absurd sind: gäbe es die Bilder nicht, würde man nicht einmal reagieren (der gefallene Vogel wäre auch ohne dich gefallen, da kann man nichts machen. Aber als Bild kann einen schon das Fallen eines Steins erschrecken).

Jetzt, nach 14 Tagen des Irak-Krieges sieht man plötzlich Bilder vom Bürgerkrieg in Somalia. Dort gab es in den letzten 4 Wochen einen Bürgerkrieg mit weit mehr Toten als der ganze Irak-Krieg kosten wird. Aber weil es kein Bild gab, löst er keine Affekte aus. Ein Krieg, in den Amerika verwickelt ist, bietet immer ein Bild von der Verwicklung des eigenen Vaters. Das ist IMMER interessanter als irgendein Bruderkrieg. Da ist man fast immer der kleine Vogel: der visuelle Instinkt ist auf der Seite des Irak.

bei Bildern kommt es leicht zum amoklaufenden kategorischen Imperativ: im Ölschlickvogel erkennt man sich selbst, auch in einer kaputten Landschaft. Oft will man weggucken (bei dem Vogel sagten das manche aus Angst, sich selbst zu erkennen). So ist dieser sterbende Vogel oder die sterbende Landschaft gleichzeitig man selbst und ein anderes - doch dann kommt der amoklaufende kategorische Imperativ und man erklärt sich in allem, was solche psychologische Reaktion auslöst, für betroffen. Dies wird völlig unqualifiziert von den zufälligen Valeurs der Bilder bestimmt. Und kann dazu führen, daß man Steilwände an Küsten einreißt, weil man nicht in Ordnung findet, daß Vogeleltern ihre Kinder auf eine Weise aus dem Nest schmeißen, daß sie auf dem Grund zerschellen können.

Und es tritt eine Umkehrung ein: bei allem, gegen das man ist, sucht man Bilder, die genau die gesuchten PA-Valeurs haben (psychoanalytische Wertigkeiten). In Bildergesellschaften bekommen sie den Rang von Waffen. Dabei wird der Bezug zur Wirklichkeit gestört. Das wäre vielleicht nicht schlimm, wenn folgender Satz gilt: "Zu jeder Problemstellung, die den Menschen betrifft, gibt es eine PA-V Darstellung, die genau seiner Wichtigkeit entspricht." Berücksichtigt man, daß solange an der Bildersuche gearbeitet wird, bis dieser Satz gilt, ist er möglicherweise sogar richtig - wenn also tausende von Kameras Millionen von Bildern machen, bis Bilder von genau der gesuchten Wichtigkeit erzielt werden. Gefährlich wäre dann nur der Zufall.

Was allerdings wirklich passiert, beobachtet man in der Werbung. Produkte von nicht so hoher Wichtigkeit werden durch viele Leute in etwas so Wichtiges verwandelt, daß man sie wahrnimmt und als wichtig in sein Leben integriert. Durch den Einsatz von erkaufter Intelligenz erhalten sie höhere PA-Vs als ihnen nach dem Satz von der Angemessenheit zukommen. Das führt zu den bekannten Deformationen, die sich in dem Satz konzentrieren, die Werbung wäre der Krieg der Wirtschaft gegen das eigene Volk.

Aber es gibt eine ausgleichende Komponente. Für die Firma, die das Produkt verkaufen will, auch für ihre Angestellten, hat es ja tatsächlich die neurotische Wichtigkeit, die es in den PA-Vs hat: sie setzen so viel Geld in der Werbung ein, daß es ihnen angemessen ist: das Volk kann sich nur dagegen wehren, indem es wegguckt.

 

Und damit kommen wir zu einem anderen Punkt. Nicht selten wird heute behauptet, Werbung wäre die eigentliche Kunst dieses Jahrhunderts - gefühlsmäßig weiß man sofort, wie verlogen das ist. Künstler der Vergangenheit würden heute Werbung machen, Michelangelo und Lionardo würden sich ebenso begeistert an Waschpulverreklame setzen wie sie früher als Auftragsarbeiten Porträts und Medici-Gräber produzierten. Bei Werbespots kann man ja tatsächlich zu fast jeder Einstellung sagen: gut photographiert, auch Lionardo hätte es nicht besser machen können. Sehr oft werden die PA-Vs so dargestellt, daß sie einen berühren, oft lassen Witz und Sensibilität auch dem ganzen Spot Wirkung. Gut also, habe ich manchmal mit Ekel gedacht: das ist also die Kunst des neuen Jahrtausends. Aber mir gefiel diese Kunst nicht. Nun gibt es ja in den Werbespots immer auch Musik, und da dachte ich: Gut, Beethoven hätte jetzt also Werbespotmusik gemacht, warum denn nicht! - aber da wird einem auf unmißverständliche Weise klar, wie absurd diese Gedankenkette ist, nie (außer um kurzfristig einmal Geld zu verdienen) würde Beethoven sich in einer solchen Schweinemusik wie den Jingels für Meister Propper wiedererkennen können, schon weil er das, was er sich als Beethoven erarbeitet hat, damit aufgeben würde. Bei der Musik merkt man das am deutlichsten: wenn diese Jingles die Musikkunst des neuen Jahrtausends sein wollen, wird das neue Jahrtausend nicht existieren sondern nur als Vakuum vor sich hinvegetieren. Denn Beethoven ist nicht Beethoven, weil er sich verkauft oder auch nicht verkauft hat, sondern weil er Beethoven in sich entdeckt hat. Und das machte, was er als Beethoven erkannt hat - und genau so etwas will man in Werbespots nicht tun. Selbstverständlich taucht auch Beethoven-Musik in der Werbung auf, aber es ist nicht Beethoven, es ist zu genau so einem Jingle gemacht worden, wie all die andere Musik in diesen Spots. Auch die Mona Lisa und Michelangelo tauchen auf diese Weise in der Werbung auf, aber es sind nicht Lionardo und Michelangelo, es ist ihre geplünderte Essenz.

Auch Lionardo und Michelangelo waren interessiert an ihrer Essenz, aber nicht um Produkte unter dem Namen L+M zu verkaufen, sondern um L+M zu werden.

Viele Computer- und Videokünstler denken so: sie führen uns die Armseligkeit ihrer Pixels vor, und dann sagen sie: was wollt ihr, das ist die Konsequenz der Technik (und dabei meinen sie des Produktes, mit dem sie arbeiten, und weil es neu ist und verkauft werden will, ist es modern), und das kann man vielleicht akzeptieren, aber dann geht es weiter: was wollt ihr, das ist nicht nur modern, sondern in diesen Pixelhaufen ist das Wesentliche enthalten, so funktioniert das Denken, behaupten sie, alles nichts als solche Pixel, genau das ist meine Botschaft, deshalb ist das was ich mache Kunst!

Und das ist der Punkt, denn Denken und das Menschliche bestehen NICHT aus solchen Pixeln, denn die Wirklichkeit kennt keine fixierten Pixel, die Wirklichkeit besteht aus wabernden Strukturen in irgendwas Leerem, die der Festgefügtheit der Pixels nicht im Entferntesten ähnelt. Ein Atom ist sich zum Beispiel nie ganz sicher, ob es überhaupt vorhanden ist. Die Pixels kennzeichnen nur das Produkt. Und VIDEO gleich "Ich sehe", ist eine ähnliche Lüge. Das Auge sieht anders als das Video mit seinem kontinuierlichen Transport.

DER EWIGE MOMENT:

Und noch eins zum Vogel der fällt: wenn wir ihn sehen, nehmen wir an, daß so etwas dauernd passiert. Wenn wir uns aber tatsächlich an so einer Steilküste befinden, merken wir, daß die Filmmacher 3 Jahre warten mußten, bis sie diese Bilder bekommen haben. Und dann müssen wir uns auf ihre Autorität verlassen. Sie sagen uns: das passiert dauernd, oder: das war ein ganz seltenes kriminelles Verhalten. Und für dieses Vertrauen, das sie erwarten, gibt es kaum - und schon gar keine visuellen - Belege.

Bei den Leichen des Krieges: wieviele Tote auf Bildern bedeuten 100.000 Tote? 30 scheint die Maximalzahl zu sein, die ein Bild andeuten kann.

und noch eins: wahrscheinlich könnten die Menschen auch in einer völlig zerstörten Welt noch überleben- Es kann aber gut sein, daß sie die Bilder unserer Welt nicht mehr lange ertragen können.

Größenwahn, alles auf sich zu beziehen.

Operationsaufnahmen am Schneidetisch: durch die Notwendigkeit des Ausschnitts nimmt man ein Ähnliches neben dem von einem Gesehenen an. In Wirklichkeit stellt das Gesehene aber einen Höhepunkt dar, ein Konzentrat, dem durch die Rechteckform eine Stapelfähigkeit des Immergleichen in jeder Richtung suggeriert wird. Eine einzige Katastrophe bis zum Ende der Welt kann so durch das Bild eines einzigen sterbenden Kindes suggeriert werden.

Und jetzt denken Sie, jetzt, jetzt kommt der Moment, in dem etwas aus dem herauskommt, aus dem, was er sagt, der Moment des Ausdrucks, der eine Perspektive anbietet, die sich in Politik verwandeln läßt, in eine Sache, an die wir glauben, eine neue Sozialgesetzgebung, ein neues ethisches Verhalten für das wir die Welt verändern können. Es ist die Geste, die uns aber auch Vlusser so unangenehm macht und Virilio und Baudrillard, das "es ist so und so und da kann man nichts machen". Ich glaube eher, ich möchte das alles klar nur auf mich selbst bezogen wissen. Ich empfinde mich zwar nicht weniger als andere als gekreuzigter Christus, aber vielleicht mehr in dem Sinne, daß ich zu einer gewissen Spezies gehöre möchte. Nicht einer wie alle. Ich möchte auch nicht, daß alle so empfinden sollen wie ich. Ich empfinde mein Wollen vielmehr als einzigartig und leite daraus was ab. Aber ich möchte Bilder nachdrücklich lediglich wahrnehmen dürfen, ohne Konsequenzen daraus ableiten zu müssen. Und so meinen eigenen Fall bewahren. Die Gnade, sagt der heilige Augustinus, fällt auf die Welt, ohne ... usw.

nicht vergessen: Mutter + Kind. Als das menschheitsvereinende Bild, das auch ohne Rahmung funktioniert.

wenn man an öffentlichen Ereignissen teilnimmt, hat man oft die Neigung, so zu tun, als würden einen diese Ereignisse gar nicht betreffen. Als wäre man nur ein Beobachter, auch ein Beobachter seiner selbst. Man tut, als wäre man Bestandteil eines gewissermaßen nur belletristischen Ereignisses, stärker sogar: man handelt, um der belletristischen Komponente des Erlebens zu mehr Tragfähigkeit zu verhelfen. In diesem Sinne möchte ich von den folgenden Ereignissen berichten - sie sind mir zwar nah, aber ihr Erleben war doch so weit weg, daß es sich schon damals um Belletristik handelte. Ich zögere deshalb - natürlich auch aus Gründen der Scheu - das Wort Ich zu benutzen (obwohl ich mir gerade beim Folgenden das Recht dazu durch eine Lebensanstrengung erworben habe und es eigentlich benutzen dürfte). Stattdessen möchte ich jetzt das schlichte Er verwenden und nicht mehr meinen Namen: ab jetzt begegnen Sie einem Waldemar. Wie gesagt: wir bewegen uns im Bereich der Belletristik: nahe an der Wahrheit, aber auch leicht verlogen und verbergend, in einem gewissen Sinne näher am Leben als die Wirklichkeit selbst.

 

Man sieht nur was im freien Fall: man möchte ja schließlich sehen wo man aufschlägt.

psychonalytische Resonanz PAR

 


Schluß des Don Quichote:

als der Arzt diagnostizierte, daß Schwermut und Verdruß sein Ende herbeiführten...

Ich habe jetzt ein freies Urteil, ledig aller umnebelnden Schatten der Unvernunft, mit welchem das beständige verwünschte Lesen der abscheulichen Ritterbücher meinen Geist umzogen hatte. Jetzt erkenne ich ihren Unsinn und ihren Trug. Ich fühle mich, Nichte, dem Tode nahe. Ich möchte gerne so sterben, daß ich bewiese, mein Leben sei nicht so arg gewesen, um den Namen eines Narren zu hinterlassen. Wenn ich es auch gewesen bin, so möchte ich diese Tatsache nicht auch noch mit meinem Tode bekräftigen.

Wünscht mir Glück dazu, meine lieben Herren, daß ich nicht mehr Don Quichote von der Mancha bin, sondern (wieder) Alonso Quijano der Gute, wie ich (vorher) um meines Lebenswandels willen genannt wurde.

Ich war verrückt, und jetzt bin ich bei Verstand; ich war Don Quichote von der Mancha, und jetzt bin ich, wie gesagt, Alonso Quijano der Gute

Senores, sagte Don Quichote, gemach, gemach, füllt nicht neuen Wein in alte Schläcuhe! Ich war verrückt und bin jetzt bei Vernunft, ich war Don Quichote de la Mancha, und bin jetzt, wie ich schon gesagt habe, Alonso Quijano der Gute,

Botenlohn, meine lieben Herren, für die Nachricht, daß ich nicht mehr Don Q v d M bin, sondern Alonso Quijano, der um des Lebens willen, das er geführt, der Gute genannt wurde. Jetzt bin ich ein Feind des Amadis de Gaula und des zahllosen Haufens seiner Nachkommenschaft, jetzt sind mir alle die gottverlassenen Geschichten der fahrenden Ritterschaft verhaßt, jetzt erkenne ich meine Dummheit und die Gefahr, in die ich durch die Lektüre der Ritterromane geraten bin, und jetzt, da ich dank der Barmherzigkeit Gottes durch Schaden klug geworden bin, verabscheue ich sie.


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