Die Augen der Gejagten
Klaus Wyborny versucht sich an einer Theorie des Narrativen, die nicht auf Sprache beruht
Von Cord Riechelmann
Cargo 26 / 2015

(über: Klaus Wyborny, "Filmtheoretische Schriften" 2 Bände, Lit Verlag 2012 /2014)


Es gibt zwei sich leider immer schneller ausbreitende Missverständnisse, die das Verhältnis von Witz und Theorie betreffen, im weitesten Sinn also auch das Verhältnis von Lachen und Abstraktion bzw. Formalisierung. Weil alle Theorie und damit auch jede Abstraktion grau sei und damit natürlich überhaupt nicht lustig, verzichte man besser gleich ganz auf sie, lautete irgendwann seit den 90er Jahren ein fataler Glaubenssatz nicht nur in der Literatur- und Filmkritik. Anstatt also sich des sicher schwierigen Vorgangs des einfachen Lesens von Texten oder Sehens von Bildern, laufend oder stehend, hinzugeben, fing man an, mit Schreibern oder Filmemacherinnen essen zu gehen, um darin den Sinn der Werke zu finden.

Vieles könne man schreiben, ohne zu lesen, manches aber eher nicht, hat Rainald Goetz zu dieser Praktik um die Wende zum neuen Jahrtausend angemerkt. Später hat Goetz dann noch in einem anderen Zusammenhang hinzugefügt, dass er seine schönsten Lachmomente nie in der gängigen Witzischkeit finde, sondern vor den abstrakten Bilder des Künstlers Albert Oehlen. Womit man mittendrin ist in Klaus Wybornys Grundzügen einer Topologie des Narrativen. Denn wer in dieser streckenweise hochformalen Werk nicht manchmal wirklich laut, geradezu schreiend auflachen muss, der sollte wirklich lieber essen gehen, mit wem auch immer.

Wybornys im letzten Jahr als Buch in der Reihe «Ästhetik und Kulturphilosophie» erschienenen Grundzüge sind der zweite Band seiner filmtheoretischen Schriften. Im ersten Band, der Elementaren Schnitt-Theorie des Spielfilms, hatte er versucht, die Erzählstrukturen von Filmen auf eine naturwissenschaftliche Basis zu stellen, indem er die Filme auf möglichst objektive raum­zeitliche Beziehungen zurückführte. In den Grundzügen einer Topologie des Narrativen (Band II) geht Wyborny einen Schritt weiter oder - vielleicht genauer - mindestens drei Schritte zurück. Denn, so schreibt er im ersten Satz des Vorwortes: «Ziel dieser Studie ist es, eine sprach- und weitgehend raumunabhängige Theorie des Narrativen zu skizzieren».

Das klingt natürlich widersinnig, da das Narrative schließlich als eine Folge unseres Sprachvermögens begriffen wird. Dabei umfasst es, «was man in Sprache und Schrift so alles zu 'erzählen' versteht», wie Wyborny schreibt. Doch unsere Träume verrieten, fährt er fort, dass sich auch ohne Worte 'erzählen' lasse. Zwar könne man, wie nicht zuletzt Freud demonstriert habe, Träume nachträglich mit Hilfe von Worten in 'Erzählungen' verwandeln, die den vielfähigsten Interpretationen Eintritt in den Traum gewährten. Es bliebe aber immer ein nicht fassbarer Rest, der nach dem Erwachen meist verschwinde und dessen Fluss sprachlich kaum zu fixieren sei. Ganz ähnlich verhält es sich für Wyborny beim Film. Auch im Film wird wie in der aus der Erzählung gewonnenen Trauminterpretation viel gesprochen. Trotzdem kommt es immer wieder zu längeren Passagen, in denen sich der Film sozusagen 'von selber' erzählt, allein durch geordnetes visuelles Wirken.

Es gibt also narrative Formen, die verstanden werden können, ohne dass man erst mühsam eine sogenannte 'Sprache' erlernen muss. Dass trotzdem oft von einer 'Filmsprache' die Rede ist, deren Gesetze dies ermöglichen, wirkt auf Wyborny verschleiernd paradox. Denn bei näherer Untersuchung, meint er, stelle sich heraus, «dass die Gesetze im Film-Fall vornehmlich aus einem Regelsystem bestehen, das eine Folge von Räumen auf der Leinwand so abzubilden hilft, dass unser Raumempfinden einen plausiblen Gesamtraum daraus rekonstruieren kann, mit einigermaßen präzisen zeitlichen und geografischen, als 'objektiv' empfundenen Koordinaten.

Urschleim des spekulativen Realismus

Man merkt schon am in Anführungszeichen gesetzten 'objektiv', dass Wyborny hier neben der Sprach- und Raumunabhängigkeit noch etwas anderes in seine Theorie des Narrativen einführt, das im ersten Moment seinem (natur-)wissenschaftlichen Formalisierungswillen zu widersprechen scheint: nämlich ein Subjekt oder zumindest etwas Subjektives. Damit hat man die Grunderregungen, die Wybornys Theorie antreiben, zusammen. Es geht um eine Theorie des Narrativen, die weit in vormenschliche Bereiche oder besser: in außermenschliche Gebiete führt. Es geht um eine Theorie der Erzählung, die für Bakterien oder amöboide Formen genauso gilt wie für Menschen, nachdem sie durch die Gewohnheit der verbalen Kommunikation jede Distanz zum Einfluss eines beherrschenden Gehirns auf ein beherrschtes Gehirn verloren haben.

Darin liegt nicht nur die subversive Kraft dieser manchmal hysterisch genauen Formalisierungen, sondern auch ihre Anschlussfähigkeit. Wenn man nämlich die vorsprachliche Verortung der Gesetze der Narration mit ihrem Anspruch an eine extreme mathematisch logische Formalisierung und ihrer gleichzeitigen unausweichlichen Subjektivierung zusammen nimmt, hat man genau die Annahmen jener aktuellen philosophischen Strömung beisammen, die man unter dem Begriff des spekulativen Realismus verortet. Die Fähigkeit der Intelligibilität, des Denkens und der Verknüpfung der verschiedensten Wahrnehmungen und Reize zu mathematisch darstellbaren Zusammenhangsgefügen ist demnach kein Alleinstellungsmerkmal des menschlichen Hirns, sondern bereits eine Eigenschaft der Materie selbst. Aus der Ursuppe oder dem Urschleim geht die Intelligibilität sozusagen als Parallelaktion genauso hervor, wie der Drang nach Teilung und Individuierung, der das evolutive Geschehen der lebenden Organismen bestimmt. Eins teilt sich in zwei, hat Mao Tse-tung vor Ewigkeiten dazu mal gesagt, so wie Rainald Goetz streng gefordert hat, dass man sich den Stein denkend denken müsse. Und wie Wyborny dann im Gang seiner Formeln zum Erzählgeschehen diese Teilungen, zum Beispiel in Jäger und Gejagte oder heterosexuelle Spielarten, mit der Geschichte der Augen in der Evolutionstheorie zusammenbringt, das ist schlicht umwerfend. Vor allem, wenn man es mit den zwei weißen Matrosen aus einem seiner schönsten Filme, AUS DEM ZEITALTER DES ÜBERMUTS - DICHTUNG UND WAHRHEIT (1994), zusammenbringt. Die sitzen an einer der Küsten Afrikas und müssen feststellen: «Ja, sieben Jahre haben wir die Ozeane befahren, seekranke Seemänner auf seegängigem Schiff, aber gesehen - gesehen haben wir nichts.»


Oder, wie Wyborny schreibt, die Augen seien für die Gejagten wichtiger als für die Jäger. Das ist, auch wenn es streng evolutionsbiologisch zu linear gedacht ist, immer noch richtiger als die heute vor allem in den Filmförderungsinstitutionen verbreitete sogenannte «Ergebnisorientierung». Ein Akt, in dem es darum geht, schon bevor man angefangen hat, zu wissen, was nachher als Resultat herauskommt. Das größte Lob, das man Wybornys Topologie des Narrativen machen muss, ist, dass er um diese Fallen nicht nur weiß, sondern dass er sie auch bedenkt. Im letzten Teil seines Buches, in dem es um die «Erweiterungen des Grundformalismus» geht, kommt er auf die «platonischen Erregungen» zu sprechen. Das sind Dinge oder Sachen wie «Geist», «Geld», ''Macht», «Polizei», «Presse», «Kaufmannschaft», «Menge», «Markt» oder «Dummheit ». Dort findet sich der schöne Satz, dass dem großen Geld nicht einmal Gaia ernstlich etwas anhaben könne. Gaia, also die Erde mit allem Drum und Dran, ist komplett machtlos gegenüber dieser uralten und doch immer wieder neuen Abstraktion namens Geld. Wobei Geld besonders in der Form des großen Geldes «sonderbar grundlos» zu wirken scheint. Als eine Abstraktion, die im Unterschied zu den kühnsten Formalisierungen in Mathematik und Logik sich tatsächlich jeder irdischen oder geschichtlichen Vergewisserung entledigt hat. Während noch der mathematische Unendlichkeitsbeweis auf Geschichte und wirkliche Mengen sich beziehen muss, kennt das große Geld überhaupt keine Bezüge außerhalb seiner selbst. Was die Erzählungen und die Regeln der Topologien des großen Geldes und seiner Nachbarschaftsverhältnisse merkwürdig gegenüber jeder Determination öffnet. So sehr Geist, Geld und Macht, als die stärksten platonischen Erregungen, auch zusammenhängen mögen, das Geld in großer Form entkommt den Regulierungen von Macht und Geist immer, ohne sich dabei an deren Stelle zu setzen.



Klaus Wyborny, "Filmtheoretische Schriften" 2 Bände, Lit Verlag 2012 /2014