K. Wyborny

VERLASSEN; VERLOREN; EINSAM, KALT
(MISSA SOLEMNIS)

85 Minuten 16mm Lichtton 1984 - 1991

Produktion, Drehbuch, Kamera, Regie, Schnitt: K. Wyborny
Musik: Ludwig van Beethoven mit Einsprengseln von K. Wyborny

(für Alf Bold)


1. Teil:

Potpourri

Bilder

der auftauchenden Musiken und Geräusche sowie Kyrie mit Bildern (in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens) von der Severnmündung, aus Lynemouth, von ägyptischen Bewässerungskanälen, aus Newcastle, Greenock, Manchester, vom Nil, aus Sunderland, Birkenhead, Cairo, der Bolden Colliery Newcastle, Nairobi, Suez, Runcorn, Glasgow, El Idsat, Alexandria, Armant, Chester, Toxreth, Blyth und Liverpool. Im Rahmen des Films bildet dieser Teil eine Art Ouvertüre, in der die geostrategische Situation abgesteckt wird - hier die industriellen Resourcen: Manchester, Newcastle, Greenock, Liverpool, dort die zu besetzenden Gebiete und potentiellen Märkte: der Nil, Suez, Nairobi.

2. Teil:

Realistisches Intermezzo

Bilder

mit Bildern aus Cairo. In ihm wird der einzige Konkurrent Europas in diesem Bereich beschrieben, die arabische Kultur, die sich christlichem Einfühlungsvermögen weiterhin verschließen wird. Deshalb ist die Missa in diesem Teil auch nicht zu hören. Stattdessen gibt es Originalton und als Musik Klaviergeklimper, das einem bloßen Betrachten der Welt entspricht und nicht versucht, die Bildwelt in den Sog des eigenen Ausdrucks hineinzuziehen.

3. Teil:

Gloria

Bilder

mit Bildern (in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens) vom Lake Baringo, aus Nakuru, Tambach, Ndarawga, Sagana, Kabarnet, Karatina, Kiganjo, Nyahururu, Kapsabet, Chebloch, vom Mount Kenya, aus Mugondoi, Biretwo, Marigat, Naru Moru, Rumuruti, Nyeri, Nandi Hills, Loruk, Subukia und dem Subukia Valley. In diesem Teil fällt das christliche Sentiment über die Hütten Afrikas her und zieht es in seinen Zusammenhang, bis sich in der großen Fuge des Gloria seine andere Natur offenbart: die Musik wirkt auf einmal wie ein riesiges Rad, das Afrika überrollt, das dortige Leben zerquetscht und zum Teil eines gewaltigen Musters macht, gegen das es keine Gegenwehr gibt.

4. Teil:

Sanctus

Bilder

mit Bildern aus (in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens) Rothwell, von den Liverpool Docks, aus Ravensthorpe, Sheffield, Runcorn, Huddersfield, Bradford, Ashton upon Lyne, Stockport, Manchester, Leeds, Glossop und Keighley. In diesem Teile werden die Orte, von denen einst die Beherrschung der Welt ausging, noch einmal heilig gesprochen, doch das stolz vibrierende Sentiment des Benedictus trifft nur auf verfallene Fabrikhallen und Häfen, auf eine geprügelte Erde, die zum Opfer ihres Ehrgeizes geworden ist.

5. Teil:

Agnus Dei

Bilder

mit Bildern aus (in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens) Oltepesi, Tigoni, Olepotos, Limuru, Eldoret, vom Lake Magadi, aus Naivasha, Kaptagat, Muguga, Plateau, Chepkorio, Magadi, Equator, vom Lake Elementeita, aus Gilgil und vom Hell's Gate. Neben den Hütten der Einwohner sind in diesem Teil auch die Resultate der Europäisierung Afrikas zu sehen, Straßen, ländliche Urbanität und Spuren einer Industrialisierung, die rührend halbherzig und gleichzeitig brutal ist. Empört versucht eine Klaviermusik gegen das Mitgefühl der beethovenschen Musik anzugehen, bis schließlich auch sie in einer Kakophonie ihrer Bestürzung über den Zustand der Welt Ausdruck verleiht.

AFRIKA IST ÜBERALL!



Weit auseinander liegende Welten in ein Spannungsfeld zu bringen und darauf zu bauen, daß sich etwas ergebe, das ist die Hoffnung des Experimentators. Klaus Wyborny provoziert in seinem spielfilmlangen 16mm-Film "Verlassen; Verloren; Einsam, Kalt (Missa Solemnis)" auch die Interaktion des Kairoer Armenfriedhofs mit den ruinösen Docks in Liverpool. Farbeinfärbungen, rhythmisch-musikalische Schnitte, konkurrierende Musik helfen der Kommunikation bildhaft auf die Sprünge, und was leeres Geflickere und Geflackere sein könnte, füllt sich mit Sinn, will Widerspruch, überzeugt. Wybornys Meisterwerk, radikal-experimentell, hat etwas zu erzählen - sicher mehr und sicher nachhaltiger als es die griffigen (oder abgegriffenen) Dialoge des konventionellen narrativen Films vermöchten.

- Dietrich Kuhlbrodt, Frankfurter Rundschau, 17.9.1992

Klaus Wybornys film Verlassen; verloren; einsam; kalt (Abandoned, Lost, Lonely, Cold) is a highly accomplished attempt to portray the history and the consequences of European colonization between 1550 and 1914. Taking the British Empire in Africa as a setting for his experiment, the filmmaker uses Ludwig van Beethovens «Missa Solemnis» as a metaphor to express the European will to rule the world. In the same way the ingenious composer succeeded in organizing soloists, choirs, and the orchestra by subtly arranging the structures of his opus, Wybornys images convey the coordination of the economic and political control of the world.

- from the catalogue of the Viennale Vienna International Festival 2002

Kritik von Rainer Bellenbaum (Texte zur Kunst, Sept. 2005)


Der Film ist der dritte Teil einer Serie von 5 Filmen mit dem Titel LIEDER DER ERDE, deren Thema das Entstehen der neuzeitlichen europäischen Zivilisation ist. Die Serie gliedert sich folgendermaßen:

1. AM RAND DER FINSTERNIS

(65 Minuten 1981-86)

versucht das Erwachen Europas im Mittelalter bis hin zu den portugiesischen Entdeckungen zu fassen, in etwa also die Zeit von 1350 bis 1490.

2. EINE ANDERE WELT

(98 Minuten 1993-2004)

hat die dritte Fahrt des Kolumbus im Jahre 1498 zum Thema, in deren Verlauf er die Nordküste Südamerikas entdeckt - 'un otromundo', wie er seinen Königlichen Hoheiten schrieb: "Eine andere Welt".

3. VERLASSEN; VERLOREN; EINSAM, KALT (Missa Solemnis)

(90 Min 1985-1991)

stellt einen Versuch dar, die europäische Kolonialisierung der Welt zwischen 1550 und 1914 in einem einzigen Film darzustellen. Ort der Handlung ist das englische Empire in Afrika. Dabei wird Beethovens Missa Solemnis als eine Art Metapher des europäischen Beherrschungswillens über die Welt gelegt, in der sich seine enorme Koordinationsfähigkeit offenbart.

4. DAS ZEITALTER DES ÜBERMUTS
(Dichtung und Wahrheit)

(75 Minuten)

möchte sich mit der Zeit von 1860 bis 1980 auseinandersetzen, in welcher das zum autonomen Beobachter erhöhte Individuum die Welt als eine Art Jahrmarkt betrachtet, der dazu da ist, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu versorgen. Diese Art Weltsicht beginnt vielleicht mit Goethe oder dem jungen Coleridge, führt über Baudelaire und Rimbaud zu den englischen und amerikanischen Snobs der Jahrhundertwende und schließlich zu den Beatniks, bevor sie sich in den Auswüchsen dessen vulgarisierte, was vielleicht am passendsten als "Hippiebewegung" bezeichnet wird.


5. GNADE UND DINGE
(Grace; Things)

(70 Minuten, 1984-86)

schließlich beschreibt das vorläufige Ziel der europäischen Geschichte, das sozialdemokratische Paradies, in dem anständig gewordene Individuen versuchen, einen maßvollen, zwar etwas langweiligen, in Anbetracht des Zustands des Rests der Welt jedoch durchaus paradiesisch zu nennenden Zusammenhang zu bauen und zu erhalten.


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