K.Wyborny

"Lieder der Erde"


Einführung zum 9. Internationalen Filmhistorischen Kongreß:
"Triviale Tropen - Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland"
Metropolis, Hamburg, 21.11.1996

 

Guten Abend meine Damen und Herren, ich danke meinem Vorredner für den angemessen gehobenen Sprachduktus, den ich gern übernehmen möchte, dazu dem liebenswürdigen Herrn Ross als Hausherrn, Martin Aust und Felix Sonntag ein wenig verspätet, dafür aber nachdrücklich, für die Mühe, die sie sich bei gelegentlichen Auffführungen meiner Filme hier im "Metropolis" mit mir machten, außerdem stellvertretend für die gesamte Vorführerschaft dem magnifizenten Carsten Knoop und nicht zuletzt Jörg Schöning, der mir Gelegenheit bot, hier überhaupt reden zu dürfen. Ich hoffe, Sie werden nicht enttäuscht.

 

"Dunkel ist das Leben, ist der Tod" - läßt Mahler in seinem "Lied von der Erde" gegen Ende des eigenen Lebens mit tiefer Stimme singen, die einen, ist man in rechter Stimmung, durch Mark und Bein gehen kann. Für Sie, meine Damen und Herren, sollte das freilich kein Grund zu unmäßiger Sorge sein - von derart profunder Einsicht werden Sie in den nächsten drei Tagen wie früher das gewöhnliche Publikum exotischer Reise- und Abenteuerfilme sicher verschont, allenfalls werden Sie ihr als Äußerung von Halbirren begegnen oder in Opiumhöhlen, ganz gewiß aber ohne Mahlers künstlerische Intensität, die einen selbst an solch trüber Einsicht Halt gewinnen läßt. Derartige Intensität ist im Film ohnehin selten, in den hier vorgestellten aber praktisch inexistent, weil sie der Tiefe durch eine Flucht ins Exotische zu entkommen suchen, eine Bewegung an der Oberfläche, in der sie aber immerhin den ganzen Planeten zum Spielfeld ihrer wirren Handlungen machen und zumindest auf diese Weise zu Liedern der Erde werden, aufs alleroberflächlichste freilich nur mit der wirklichen Welt verbunden.

Dabei ist Exotismus nicht aus sich selbst heraus als eine Art Flucht angelegt - daß die Fremde als Spiegel des sich entwickelnden Selbst dienen kann, ist spätestens seit der Odyssee im Abendland nicht ganz unbekannt. Eigenartig, daß sich das in römischer Zeit verflüchtigte - der Bericht des Tacitus über die Germanen ist das äußerste, was uns die Römer an original Exotischem überliefern, ansonsten waren sie offenbar mehr mit ihrem eigenen ja oft auch nicht ganz unerstaunlichen Verhalten beschäftigt - ich erwähne Caligula und Nero. Im Mittelalter - um einmal kongreßgemäß recht rasch die Zeit zu durchschreiten- war selbst römische Bewußtheit von Fremde erloschen, so daß mythische Gespensterwelten entworfen werden mußten, als man, den Griechen gleich, erneut in Versepen nach einem Spiegel durch die Betrachtung des Andersartigen verlangte - ich erinnere blaß an den Heiligen Gral. Die Kreuzzüge ließen in Europa die Neugierde für Fremdes zwar erwachsen, doch blieb sie auf seltsame Weise ungerichtet, ganz als schien jene Neugierde erst eine Erkundung des menschlichen Innen zu benötigen, im Grunde ein Konzept des freien Willens in etwa der Art des Duns Scotus. Erst danach konnte die Welt schließlich zum Aufmarschfeld dieses losgelassenen freien Willens werden. Das Schlüssel-Datum ist selbstverständlich das der Entdeckung Amerikas.

Gleich den ersten Berichten über die Reisen des Columbus läßt sich entnehmen, wie klar und mit welch kindlicher Freude seine Zeitgenossen das erkannten; ich zitiere aus den berühmten Briefen des Peter Martyr, einer Mischung von Geheimagent, Journalist und Diplomat, der, am spanischen Hofe wirkend, nicht nur die Entdeckungen des Kolumbus kommentierend begleitete:

Atollite mentem sapientissimi duo senescentes, audite novu inventum. Meministis Colonum ligurum ... Is rediit incolumis, mira se repisse predicat: aurum, aurisodinarum in eis regionibus argumentum ostentat. Gosamium aromataques, tu oblonga, tum teretia, causaseo pipere acutiora, detulit. Que, simul et coccineas arbores suapte natura tellus parit... Homines reperit natura contentos, nudos, cibis depastos nativis, et pane radicali. ... Dann folgen einige von den dortigen Bewohnern ausgeführte Tätigkeiten und schließlich: viget inter eos, quamuis nudi sint, imperio cupido, uxores ducunt.

Diese Zeilen sind - entschuldigen Sie meinen Hamburger Akzent - gut ein halbes Jahr nach des Columbus Rückankunft geschrieben, sie entstammen einem Brief an den Grafen Tendilla und an den Erzbischof von Granada vom 13.12.1493, es ist die erste erhaltene, gewissermaßen bloß private Äußerung zur Entdeckung Amerikas - lasset uns an ihrem Klang teilhaben:

Aufgepaßt, ihr weisen, verehrungswürdigen Herren, hört von einer neuen Entdeckung. Ihr erinnert euch an Colon, den Ligurer -- er ist unversehrt zurückgekehrt und erklärt, wundervolle Dinge gefunden zu haben. Er führt Gold vor, als Beweis für Goldminen in der Region. Er brachte Baumwolle mit und Gewürze von länglich weicher Gestalt, schärfer als der Pfeffer aus dem Kaukasus. Die Erde erzeugt dort all diese Sachen auf natürliche Weise... Er fand Menschen zufrieden an der Natur, nackt, und einheimische Nahrung verzehrend, ein Brot aus Wurzeln... Und es wohnt in ihnen, obwohl sie nackt sind, ein Verlangen nach Regierung - sie nehmen Frauen.

Aufgepaßt! Atollite mentem, genauer: 'Rührt das Gehirn', heißt es sofort zu Beginn - hier bietet sich eine Gelegenheit, die man besser nicht verpasst: uns ist eine Art Paradies zu Augen gekommen, das offenbar nur darauf wartet, in Besitz genommen zu werden. Gleich einen Tag später präzisiert Martyr - seine auf Latein, der damaligen Verkehrssprache, geschriebenen Briefe sind 1525 veröffentlicht worden - einen wesentlichen Aspekt seiner Ausführumgen in einem Brief an einen gewissen Acania Sforza:

"Dessen ungeachtet lieben sie, regiert zu werden, und aus diesem Verlangen heraus führen sie Kriege gegeneinander, mit Bogen und Speeren, die zu scharfen Spitzen gebrannt wurden. Der besiegte König wird zum Untertan des Siegers. Und das Prinzip von Mein und Dein spielt in ihrem Leben eine ebensolche Rolle wie in unserem; daher werden Sachen, die zum Luxus gehören und die Vermehrung des Geldes von ihnen gesucht, was man eigentlich nicht für nötig hält bei nackten Menschen."

Was Scholastikern noch Grund zu Trauer hätte sein müssen, daß nämlich dieses neu gefundene Paradies bereits unter der Erbsünde leidet, wird dem sechzehnten Jahrhundert ein Grund zum Frohlocken: da die kriegerische Natur der Eingeborenen beweist, daß Gott in diesem Paradies seine Hände nicht mehr im Spiel hält, braucht man auch keine Skrupel bei seiner Eroberung zu haben, welche bei der kümmerlichen Beschaffenheit der dortigen Waffen ein Leichtes zu werden verspricht - kurzum: hier hat sich ein ideales Aufmarschgebiet für den frei tätigen Willen geöffnet, wie er sich bald darauf mit den Namen Cortez und Pissarro verbinden wird. Dieser neue freie Willen in einer neuen Welt ist anders beschaffen als der des Thomas von Aquin, der noch in christlichen Gespenstersphären operiert, aus dem Existentiellen eigentlich nur hervorgezerrt, um zu klären, wieso manche von uns in der Hölle und manche im Paradies landen. Dem Heiligen Augustinus, der uns alle für Sünder hielt, war dies noch eine Sache von bloßem Zufall in Form göttlicher Gnade. Vom freien Willen hielt das frühe Christentum nichts und hat so den Untergang zumindest des weströmischen Reiches vor dem Germanenansturm, wie man mit einigem Recht sagen kann, höchst leichtfertig akzeptiert. In diese Richtung zielende Vorwürfe kann man den Konquistadoren nun wahrlich nicht machen.

Zwei Jahre später, nach des Columbus nächster Reise, ist dieser Gegensatz sauber herausgearbeitet. Martyrs Kommentare dazu enthalten einerseits immer verlockendere Beschreibungen der neu erkundeten Regionen, die tatsächlich nach dem irdischen Paradies schmecken, das neben manch umstrittenem Bibelinterpreten auch Dante als genau an dieser Stelle liegend versprochen hat, und dessen Entdeckung Columbus dann auf seiner nächsten Reise so verzweifelt zu beweisen versuchen wird, daß er es - Kind zugleich des spekulierenden Mittelalters und schon der messenden Neuzeit - als mit seinem Quadranten belegbare Ausbuchtung der Erdoberfläche in Form einer Birne postuliert. Den Gegensatz zu paradiesischer Süße bildet, im 147. Brief Martyrs etwa, die nun klar herausformulierte Kehrseite der Medallie, welche eine Eroberung schon fast erzwingt:

"Hör und paß auf, bevor deine Haare vor Schrecken zu Berge stehen, das es in diesem Ort Leute gibt, Lestrygones und Polyphemi, die menschliches Fleisch verzehren, auf zahlreichen Inseln, von wilden Menschen bewohnt, die Cannebales genannt werden, die obschon nackt, geübte Krieger sind. Sie greifen die Einwohner an und essen solche, die sie fangen. Sie zerlegen die Jungen, wie wir es mit Geflügel tun. Unsere Leute betraten Häuser dieser Kannibales, in deren Dächern Schinken von gesalzenem menschlichen Fleisch herabhingen, wie bei uns solche von Schweinen es tun: und sie fanden den Kopf eines Jungen, der kürzlich abgeschnitten wurde und noch von Blut tropfte, und anderer Körperteile gekocht in Töpfen zusammen mit Teilen von Gänsen und Papageien und anderen Sachen, bereit fürs Feuer..."

Hier haben wir also einen weiteren dieser wunderbaren Gesänge unserer Erde - er enthält schon die Ingredienzen unserer Abenteurerfilme: eine unbekannte Gegend, in der in mannigfaltigster Form Reichtum lockt, eklige Widerwärtigkeiten, und mitten drin ein vagabundierender freier Wille, der diese Welt nur noch gestalten muß, um sein Glück zu machen. Und wichtig: es handelt sich nicht um eine Phantasiewelt, wie noch im Mittelalter, sie ist real und einem jeglichen zugänglich. Nur die Freude an der Nacktheit der eingeborenen Frauen erwies sich als ohne rechte Perspektive, bis hin zu jetzt Spielberg bietet dem Betrachter mehr Freude, sich ein weiße Frau in den Fängen nackter Kannibalen vorzustellen und sie daraus zu erretten, als im Schoß einer Eingeborenen auf Dauer Erlösung zu finden. Joseph Conrad meinte, nur der verzweifelte, der proletarisierte Weiße goes native - der Prinz kann zwar Aschenputtel heiraten, aber keine Wilde. Na, Marlon Brando hat es uns nach der "Meuterei auf der Bounty" endlich vorgemachst, aber die Südsee war in dieser Richtung schon immer ein spezieller Fall.

Dabei erstaunt, wie langsam die tatsächliche Existenz des Exotischen und die Möglichkeit, sich darin durch eigene Leistung zu behaupten, zum Thema der Belletristik wurde. Vom großen Shakespeare ist zu Amerika und entsprechendem kein Wort zu vernehmen. Selbst sein Zeitgenosse Cervantes hat freilich das mittelalterliche Rittergespuke erst dann offenbar rücksichtslos verarbeiten können, als der Spuk wirklich vorbei war, vierhundert Jahre danach. Daß auch Claudels "Seidener Schuh", die wohl erste tiefere Bewältigung der Amerikaerfahrung, erst vierhundert Jahre nach den Ereignissen erschien und seinerseits erst 100 Jahre später durch de Oliviera eine akzeptable Filmform fand, mag uns einen Eindruck vom Tempo geben, mit der wirklich Wichtiges in Kunst aufzugehen versteht - und damit hoffe ich die Schleife zum heutigen Abend zu ziehen.

Denn unter Belletristik läßt sich das hier in den nächsten Tagen gezeigte wohl am leichtesten grob subsumieren. Was Shakespeare nicht schaffte, wird in den Filmen, die sie in den nächsten Tagen sehen werden, überreichlich geleistet. Es handelt sich ja nicht so sehr um Dokumentar- als vielmehr um Spielfilme. Daß in solchen der freie Wille wie einst beim Heiligen Augustinus in zahlreiche gute und böse zerlegt wird, welche die Welt bevölkern und sie zu ihrem Schlachtfeld machen, als ginge es in jedem einzelnen Film ums jüngste Gericht, gehört zu den Regeln des Genres, die nicht zuletzt Griffith aus der Literatur ins Kino zu transferieren gelungen ist. Auf exotischem Terrain hat dabei der Verlust der Kolonialpotenz Deutschland in den zwanziger Jahren wohl besonders empfänglich für verstiegene belletristische Formen gemacht; vergleichbares aus England und Frankreich hat immerhin noch einen gewissen Halt in der Wirklichkeit. Eine Art Höhepunkt bildet Stroheims "Queen Kelly", wo die Verstiegenheit schon wieder so großartig auffährt, daß sie die Wirklichkeit auf anderer Ebene einholt, was mir zumindest gelungener erscheint als der Südseekitsch in Murnaus "Tabu", um einen anderen der in dieser Richtung markanten Filme zu erwähnen.

 

Nun, nach soviel tiefschürfender, den Gang der Zeit durcheilender Erkenntniskunde, ist natürlich leicht, sich über die Oberflächlichkeit der Machwerke hier lustig zu machen - sie machen es einem nicht schwer, man spürt in jeder Einstellung, daß sie zu kaum mehr als dem Wiedereinspielen der Kosten gedreht worden sind. Von filmischer Kohärenz in der Art von "Tabu" mag man nicht reden - "zusammengeschustert" ist das Wort, das sich beim Betrachten einstellt, manche von ihnen sind bloß naive Nacherzählungen der Heldentaten, mit denen der Wildnis Bilder abgetrotzt wurden. Dennoch spricht einiges auch für solch naive Flachheit. Gestatten Sie mir dazu, etwas auszuholen. Ich geriet nämlich einmal in seltsame Verlegenheit, als Jean Marie Straub einen Film von mir ("Verlassen; Verloren; Einsam, Kalt") loben wollte, der verkürzt gesagt, Afrika zum Thema hatte. Ihm gefiel daran, daß ich offenbar nicht wie ein Fallschirmjäger über Afrika abgesprungen wäre, um von dort nach ein paar gemachten Filmaufnahmen wieder rasch abzuziehen. So lieb mir der Klang dieses Kompliments war, so ungerechtfertigt fühlte ich es auf mich angewandt: ich bin weiß Gott kein Afrika-Experte, und halte solche im übrigen, nach dem, was ich immerhin weiß, fast ausnahmslos für Scharlatane - aber verglichen mit einem Bekannten, der zu dieser Zeit ebenfalls einen Film über Afrika machte, fühlte ich mich in der Tat bloß wie ein Fallschirmspringer.

Jener Bekannte hielt sich sehr viel länger als ich in Afrika auf, und zudem, was gleichfalls manche Erkenntnis vertiefen hilft, an einem einzigen Ort. Nach einem halben Jahr konzentierten Drehens (er arbeitete mit Video) kamen sechzig Stunden Material heraus. Zurück in Europa wußte er nicht, wie er es schneiden sollte. Schon die sechzig Stunden einigermaßen konzentriert am Stück anzuschauen erwies sich als im Grunde unmöglich. Nicht einmal die üblichen Ideologien oder die in ihrem Geiste angewandten journalistischem Verkürzungen vermochten, ihm beim Schnitt zu helfen, das Dorf war dafür zu unspektakulär. Selbst zu einer naiven Darstellung der eigenen Anstrengungen gab es nicht genug her. Und damit komme ich vorsichtig zur Möglichkeit des Akzeptierens von selbst einer gewissen Billigkeit beim Zusammenschneiden von Bildern zurück, denn ich meine, sein Dilemma ist repräsentativ. Es kann von niemandem erwartet werden, daß er die täglich anfallende Interessantheit der Welt wirklich zu ordnen versteht, schon sie wahrnehmen übersteigt unsere Fähigkeit, zumindest die der meisten - schon mit dem Wahrnehmen des eigenen Lebens sind wir, im Vertrauen gesagt, überfordert, da reicht es gerade Mal zu ein bißchen Karriere, Familie und den notdürftigsten Verrichtungen in Staat und Gesellschaft. Es ist geradezu unmöglich, in solch uferlosem Filmmaterial, wie mein Bekannter es aufgenommen hatte, eine Ordnung zu finden, die zwingend ist - zumal verschiedenste Lebensinteressen in uns die sogenannte Objektivität um uns herum auch noch verschieden sehen, und die ihnen jeweil zu passen scheinenden Verkürzungen herausdestillieren. Hätte mein Bekannter also die ganzen sechzig Stunden vorführen und das Material anschließend einem Archiv überantworten sollen? Keine schlechte Idee, allerdings ist dieser Weg nur im Einzelfall begehbar: um die aufnehmbare Vielfalt unserer Welt aufzubewahren, braucht man vermutlich einen zumindest ähnlich großen Planeten.

Selbst wenn man es nur für einen kurzen Zeitraum versuchte, müßte man das aufgenommene Material schleunigst in Tiefseegräben versenken, damit die Menschen weiterleben können, schon aus Platzgründen. Die gern beschworene Abfallkatastrophe ist ein Mini-Affaire verglichen mit dem Medienabfallproblem, weil schließlich auch jedes Stück Abfall dokumentiert zu werden verdient. Abhilfe bietet da höchstens die Geologie, welche immerhin schon mit Übermengen biologischen Abfalls umzugehen gelernt hat, mit Muschelschalen zum Beispiel. So stellte ich mir eine Zeitlang vor dem Einschlafen gern vor, daß alle Filme dieser Welt tatsächlich in Tiefseegräben verschwänden, am besten in einem einzigen, um eines Tages infolge von Kontinentalverschiebung aufgefaltet zu werden - eine neue Art Gebirge an der Kollisionsstelle tektonischer Platten, nicht aus Sand- oder Muschelsedimenten, sondern aus zusammengepreßtem Filmmaterial, aus dem ab und zu ein Filmfitzelchen heraussticht, das seltsamerweise die Metamorphose der Materie überlebt hat und auf dem sein Ursprung ähnlich abzulesen ist wie auf manchem Ammoniten, der nun im Hochgebirge zu finden ist. Im Halbschlaf nahm ich mir vor, Filme zu machen, die selbst derartige Prozesse überstehen konnten - Filme, auf denen in kurzer Zeit soviel zu sehen war, daß sie die ganze Welt enthielten und selbst als knappster Rest so einem Filmgebirge entnommen noch zu einem Gesang der Erde werden könnten. Klar, daß nach so einem geologischen Prozeß höchst irreleveant wird, ob diese Bilder nun von einem Fallschirmspringer meines Typs gesammelt worden sind oder von einem geduldigen Sammler wie meinem Bekannten - allein ihrer Kompaktheit kommt dann noch Bedeutung zu.

Nun, Sie halten das vermutlich für einen abwegigen Traum, bestenfalls für Exotik ganz eigener Art, aber auch ich wurde durch die Wirklichkeit, zu, wie ich annehme, Ihrer Beruhigung, eines anderen belehrt. Wie manchen von Ihnen vielleicht belannt ist, habe ich mein Filme jahrelang in Verhältnissen gemacht, die als ärmlich zu bezeichnen fast hochstaplerisch klingt. Es war allerdings eine Armut in einem für manche kaum vorstellbarem Luxus, denn ich konnte die ganze Zeit Filme machen, die so auszusehen versuchten, wie ich sie mir vorstellte. Dazu gehört freilich, daß man sich Filmmaterial und mancherlei zur Filmproduktion Gehöriges zusammenbetteln muß. Eine wichtige Quellle war dabei die Firma Fema in Hamburg-Wandsbek, bei der ich die Magnetrandspur meiner Filme auftragen ließ, dort gab es gebrauchte Filmspulen und -dosen umsonst. Einmal ließ man mich selbst zusammensuchen, was ich brauchte, in einem Schuppen, wo ich neben ein paar 16mm-Spulen - ich weiß es noch genau, denn in einer Dose mit der Prägung der Firma BP ist noch heute die Kopie meines Films "Ludwig van Beethoven- Ein Leben für die Musik" aufbewahrt - jede Menge Kartons mit 35mm Filmen entdeckte: "Wilde Erdbeeren", Godards "Außenseiterbande", bemerkenswerte Titel, auch "Hatari", meine ich, war dabei. Jeder dieser Filme war für 20 Mark zu haben, dies war der von der Firma veranschlagte Wert. So lernte ich eine der brutalsten Regeln der Filmarchvierung: oft ist es zwar relativ leicht, einen Film zu bekommen, aber es ist kostspielig, ihn aufzubewahren. Ich hätte wohl das Geld für 50 Kopien aufbringen können, nicht aber die fortlaufende Miete für einen Lagerraum. Und genau deshalb waren die Filme auch in Wandsbek: die Firma laugte das in den Filmen enthaltene Silber aus, der von Säuren aufgelöste Rest, vor allem Azetat, wurde verdünnt in die Wandse geleitet, so daß er zwar wie in meinem Traum im Meer landete, aber nicht in einem Tiefseegraben und minus dem schönen Bildmaterial, auf das es doch eigentlich ankommt und das den Filmen mit dem Silber entzogen wurde. Zwanzig Mark Materialwert lohnten bei diesen großartigen Filmen offenbar die Vernichtung. Nun, die Fema ist inzwischen pleite, die Wandse ein wenig sauberer geworden - und ich weiß nicht, ob die neuen Farbfilme überhaupt noch Silber enthalten: vielleicht werden verbrauchte Filme jetzt ja tatsächlich in der Tiefsee versenkt.

Silbergier also zerstörte all diese wunderschönen Arbeiten, ebenso wie - jetzt springe ich ein wenig falsch und kühn - die Silbergier der Spanier einst den Kulturen Südamerikas den Garaus machte. Und so kommen wir zum Ursprung unseres neuzeitlichen Exotismus zurück, der mit Columbus begann, mit der Entdeckung einer tatsächlichen neuen Welt, zu der man dann rasch gleichfalls die alte machte, die schließlich mit dem ersten Weltkrieg unterging, dem letzten von der Konzeption her abgrundtief heiteren Krieg, in dem noch unbeschwert die Eroberung der Welt wie bei einem Brettspiel angepeilt wurde, als hoffentlich letztes Echo der 1494 vollzogenen Weltteilung zu Tordesillas; ebenso wie, ich hoffe sie folgen mir, mit dem zweiten Krieg das längst überfällige Ende des gotischen Abenteuers zu feiern ist, das mit der Eroberung und ebenso rücksichts- wie gedankenlosen Vernichtung der römischen Kultur im Jahre 483 seinen Anfang nahm.

Was man im anthroplogischen, nicht verkitschten Film jener Zeit vielleicht deutlicher als heute hätte wahrnehmen können, aber dazu waren die Deutschen zwischen den Kriegen am wenigsten in der Lage, ist das menschliche Tier, das zoon humanum, bar jeder - man muß es so deutlich ausdrücken, denn genau das ist den wenigen existierenden wirklich authentischen Bildern zu entnehmen - bar jeder Würde, das nackte menschliche Tier, das seine Würde erst durch die Zivilisation bekommen hat. An ihm ist nur die Kindheit schön - nicht einmal mehr die Jugend ist es richtig, weil sie, nach dem Verlust des Mutterblicks, keinen Spiegel mehr kennt und erwachsene Schönheit in unzivilisierten Zusammenhängen wohl nur durch ihre Verwandlung in Begehren zu erfahren ist. Von solch ernüchternder Nacktheit ist in den damaligen Spielfilmen nichts zu entdecken, in ihnen geht es um in gefällige Form gebrachte Wildnis, aus europäischer Perspektive verbogen, in der Regel beurteilt in der Art Rosseaus. Alle in Indien spielenden englischen Spielfilme verraten weniger über Indien als ein einziger Film von Satjajit Ray.

Daß das Deutsche leicht in Art des Herrenmenschentums daherkommt, das den Habitus der Eingeborenen lachhaft findet und darin die Begründung zur imperialistischen Geste sucht, überrascht nicht unbedingt. Es erstaunt dagegen doch, wie weitgehend die Hersteller dieser Filme ihrer gedanklichen Beschränktheit ausgeliefert sind, in erstaunlicher Unschuld oft: kein von ihnen aufgenommenes Bild konnte sie offenbar durchdringen, ganz als wären sie nie als Blickende am Ort ihrer Aufnahmen gewesen. Auch ihre Leben bleiben dunkel, wie ihr Tod. Ihnen gemein war wohl nur, daß es sich bei ihnen um späte Karikaturen des großen Columbus handelte, die sich, warum denn nicht, aus der Welt auch noch schnell eine Scheibe heraus schneiden wollten, um sie auf irgendeine Art zu versilbern.

Andererseits ist der Spott über sie ein wenig billig. Die Herstellung anthropologischen Filmmaterials ist in den unzivilisierteren Weltgegenden ja tatsächlich nicht ganz unriskant und verlangt eine ganze Menge Chuzpe. Es ist ganz klar, daß nur ein ganz bestimmter Menschenschlag dafür in Frage kommt. Und ebensowenig wie es den edlen Wilden Rousseaus gibt, kann es den edlen Anthropologen geben, auch wenn manche den Eindruck zu erwecken verstehen, sie kämen dem Ideal nahe. Dafür ernten sie freilich allzuleicht Lob. Es muß sich aber wohl auch in diesem Beruf die Hände ein wenig schmutzig machen, wer zu Resultaten kommen will. Während indes jede Mutter weiß, daß nämlich die Schönheit ihres Kindes nur zusammen mit einer Menge Scheiße zu haben ist, gibt man Ähnliches bei geistigen Anstrengungen im Gegensatz zum dabei aufgebrachten Schweiß nur erstaunlich schwer zu, wohl weil das Edle noch immer auf geheimnisvolle Weise mit dem Guten und Schönen verschwägert ist. Und so gelangt man vom schönen Wilden über den schönen Anthropologen rasch zum schönen Beurteiler und Kritiker, deren ineinandergreifendes Wirken zu guter Letzt vom schönen Kulturhistoriker endgültig so geordnet wird, daß es vor lauter Schönheit und Edelmut in dieser Welt überhaupt nicht mehr auszuhalten ist.

Durch Video sind intimste Bekenntnisse selbstverständlich geworden - es gibt inzwischen wahrscheinlich mehrere hunderttausend Videobänder, auf denen sich Personen sogar beim Sexualakt filmten. Auf vielen von ihnen ist das zoon humanum gewiß deutlicher zu erkennen, als auf den doch immer gestellten Aufnahmen noch so wilder "cannibales", ob heute aufgenommen oder schon vor hundert Jahren. Ohne Zweifel ist jedes dieser Dokumente das Ansehen wert, und doch kann es nicht bewahrt werden. Niemand hat Zeit, sie sich anzuschauen. Das Dokument selbst verliert beinahe täglich an Wert, verliert durch Inflation seinen Dokumentencharakter, es wird, beinah quantenmechanisch, zum Dokument erst durchs Betrachten. Eine mögliche Lösung besteht in Verkürzung - allerdings läßt sich nichts Zeitliches wirklich verkürzen. Nicht einmal verkleinern. Es reicht auch nicht, einiges wegzulassen, wie mein Bekannter bei seinem Afrikafilm hat erfahren müssen, es muß sich beim Verkürzen eine neue Qualität ergeben: man hat es mit dem Kitsch der Spielfilme versucht, er ist besser als nichts - in Zukunft wird diese Art Konzentrat nicht mehr reichen, um zu einem Lied der Erde zu werden. Und im Grunde macht es nicht einmal Sinn, das Gedächtnis der Menschheit aufzubewahren, ich meine wirklich aufzubewahren - es kostet ein Menschenleben, ein einziges anderes nachzuvollziehen. Wer aber soll was kürzen? Und wie weit? Die Conradsche Version : er wurde geboren, litt, hoffte und starb, klingt da doch etwas sehr vereinfacht. - Was bedeutet Leiden? Und seine Darstellung? Und mehr noch: Sein Aufbewahren. Die Aufbewahrung des Leidens schon eines einzigen Menschen, dasjenige Christi, hat uns, so läßt es sich heute wohl ausdrücken, in genau diese vor bewahrenswerten Dokumenten nur so überquellende Situation gebracht. Vielleicht ist einmal so ein Leiden aufbewahren genug.

Immerhin bleibt uns in jedem Fall die Freude an der Zeugenschaft, die, wie Kant anläßlich seiner Gefühle zum Ablauf der französischen Revolution entdeckt zu haben meinte, eine der fundamentalsten Freuden geistiger Existenz ist - Peter Martyr teilt uns 300 Jahre zuvor in einem Brief an seinen Freund Pomponius Leaetus schon anläßlich der Entdeckung Amerikas einiges davon mit:

"Ich spüre meinen Geist vor Glück überquellen, wenn ich Gespräche mit aus jenen Regionen (i.e. Amerika) Zurückgekehrten führe. Laß die Gierigen (dort) ruhig ihr Elend im Anhäufen von Reichtümern finden, und die Obszönen in ihren Vergnügungen - wir übergeben uns unserem Geist, und finden, nachdem wir Gott ausgiebig gelobt haben, in der Betrachtung der Nachrichten solcher Ereignissen tieferes Entzücken."

oder für sie, meine Damen und Herren Filmhistoriker, die Sie Originalfassungen lieben:

Libidinibus obsceni, nostras nos mentes, postquam deo pleni aliquandiu fuerim, contemplando, huiuscemodi rerum notitia demulceamus.

Und das läßt sich gewiß auch auf die mit viel Verstand für diese Veranstaltung ausgesuchten Filme ausdehnen, und sei es nur, weil sie, mittlerweile einzigartig geworden, noch einmal projiziert werden. Vielen Dank für ihre Geduld, und viel Spaß auf dem Kongreß!


(leicht verändert abgedruckt in "Triviale Tropen" edition Text und Kritik 1997)

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